Unheilvolle Vergangenheit

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»Glaubst du, wir haben nicht aufgepasst?«, klang es empört. »Schwiegervater hat schon immer das gemacht, was ›er‹ wollte. Aus der Ferne lässt sich leicht reden. Du warst ja nicht jeden Tag da und musstest dich mit ihm auseinandersetzen.« Es wurde still im Zimmer. Vermutlich redete gerade derjenige oder diejenige am anderen Ende der Leitung. Dann erfolgte die Antwort. »Das kannst du halten, wie du willst. Ich muss jetzt Schluss machen, wir haben die Polizei im Haus und es ist Markttag.«

Kaum hatte sich Jasmin einige Schritte von der Tür entfernt, als diese sich öffnete und die Dunkelblonde heraustrat. Beim Anblick der jungen Frau stutzte sie. »Was machen Sie hier? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie etwas ungehalten. Man merkte ihr ihre Erregtheit an, die Jasmin als Auswirkungen des Telefonates interpretierte. Vermutlich glaubte die Frau ihr gegenüber im ersten Moment, dass sich einer der Marktbesucher ins Haus verirrt habe.

»Entschuldigen Sie, ich suche meinen Kollegen«, antwortete Jasmin und zückte ihren Dienstausweis.

»Oh, jaja, kommen Sie, er ist dort hinten.« Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf den Ausweis und zeigte den Gang entlang auf eine Glastür, an der das Schild »Privat« stand.

»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin Waltraud Birkner, die Frau von Hermann Birkner, der das Weingut leitet.« Während der Erklärung ging sie voraus. »Muss denn dieser Aufwand wirklich sein? Ich meine … also, ist das denn kein … kein natürlicher Tod … gibt es da etwa Zweifel?«, druckste Frau Birkner herum.

»Nun ja, da niemand dabei war und gesehen hat, wie es passierte … « Jasmin ließ den Rest ihrer Andeutung offen. »Wollen Sie nicht auch wissen, ob Fremdeinwirkung im Spiel war? Die Obduktion wird uns Gewissheit liefern.«

Die beiden Frauen betraten den privaten Bereich der Familie Birkner. Von der Diele aus hörten sie jemand reden. Auf der rechten Seite stand die erste Tür zur Hälfte offen, von dort drang eine Stimme zu den Frauen heraus.

»Das ist das Wohnzimmer, gehen Sie ruhig hinein«, forderte Frau Birkner Jasmin auf und deutete auf die Tür.

Als die Kommissarin eintrat, vernahm sie gerade Rautners Worte: »Sie haben keinerlei Vorstellung, was Ihr Vater da unten zu suchen hatte?«

In dem Zimmer erblickte Jasmin fünf Personen. Drei davon saßen verteilt auf Sesseln und Sofa, ein junger Mann lehnte an der Fensterbank. Mit dem Rücken zum Eingang stand ihr Kollege mitten im Raum und führte seine Befragung durch.

»Nein! Niemand von uns hatte eine Ahnung, dass Vater gestern Abend in den Keller wollte.« Hermann Birkner schüttelte den Kopf.

Ein zweiter Mann, mit ähnlichen Gesichtszügen wie die des korpulenten Weingutchefs, meinte nachdenklich: »Ich kann mir nur vorstellen, dass er ganz einfach noch mal eine Kontrollrunde machen wollte, da heute Vormittag eine Kellerführung geplant ist.« Der Sprecher war Andreas Birkner, der jüngere Bruder von Hermann. Von der Statur her bedeutend schlanker als sein Bruder, konnte er im Gegensatz zu diesem nur mit einem leicht angedeuteten Bauchansatz aufwarten und besaß noch sein volles dunkelbraunes Haar. Er war im Weingut für die Kellerarbeiten und den Weinausbau verantwortlich. Das dunkelhaarige weibliche Wesen neben ihm entpuppte sich als seine Ehefrau Cornelia, die schweigend das Geschehen verfolgte.

»Sie haben gestern Abend niemand Fremdes im Anwesen gesehen, der mit der Sache in Verbindung stehen könnte?«, hakte Rautner nach.

Jetzt mischte sich der junge Mann am Fenster ein. Stefan, der Sohn von Hermann Birkner, meinte etwas ungläubig: »Sie wissen aber schon, wo Sie hier sind? Dies ist ein Weingut, in dem Kundschaft ein und aus geht, um unseren Wein zu kaufen. Natürlich waren gestern Fremde da. Wir hatten ab spätem Nachmittag eine Weinprobe mit fünfzehn Personen und zusätzlich auch noch weitere Kunden. Das ging alles bis …?« Sein fragender Blick richtete sich auf seine Mutter, die hinter Jasmin das Zimmer betreten hatte.

»Meine Weinprobe war erst nach 20 Uhr beendet. Einige wollten etwas mitnehmen«, überlegte sie laut. »Ich musste die Bestellungen fertig machen und abkassieren. So gegen 20.30 Uhr waren alle gegangen. Danach habe ich Feierabend gemacht. Nein, stimmt gar nicht«, korrigierte Waltraud Birkner sich mit einem Blick auf ihre Schwägerin, »ich habe Cornelia noch geholfen. Es muss schon nach 21 Uhr gewesen sein, als wir fertig waren.«

»Und wer von Ihnen war gestern sonst noch da?«, wollte Rautner wissen.

Hermann Birkner antwortete: »Alle, die wir hier sind, außerdem Stefans Frau Diana und noch zwei Angestellte.«

Jasmin legte ihrem Kollegen die Hand auf den Arm und raunte ihm zu: »Chris, sollten wir nicht abwarten, was die Obduktion ergibt? Vielleicht stellt sich alles als ein tragischer Unglücksfall dar und … « Die Kommissarin ließ offen, dass diese Aktion jetzt und hier völlig sinnlos und hinfällig war, falls sich die Sache als Unglück herausstellen sollte.

Kommissar Rautner zögerte kurz und nickte dann wortlos. Er brach die Befragung mit dem Hinweis ab, dass die Unglücksstelle abgesperrt sei und so lange von niemand betreten werden dürfte, bis man Klarheit über den Tod von Karl Birkner habe.

Draußen auf dem Hof knurrte er missmutig: »Warum sind wir dann eigentlich gerufen worden, wenn wir noch nicht ermitteln können? Es hätte doch gereicht, uns zu verständigen, wenn Frau Doktor Wollner ein entsprechendes Ergebnis hat.« Immer noch hatte Chris nicht ganz verkraftet, dass sich der Samstag anders gestaltete, als er es sich frühmorgens ausgemalt hatte.

»Da war wohl jemand etwas zu diensteifrig«, antwortete Jasmin mit einem verständnisvollen und leicht amüsierten Seitenblick auf ihren Kollegen. Grillduft stieg ihr in die Nase und ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, heute noch keine feste Nahrung zu sich genommen zu haben. Mit demonstrativ tiefen Atemzügen sog sie den Geruch ein. »Es riecht so verlockend, wollen wir nicht das Beste daraus machen und etwas Gegrilltes genießen?«, fragte Jasmin und versuchte damit Chris auf andere Gedanken zu bringen.

»Keinen Hunger«, war dessen kurze Antwort.

»Aber ich! So ’ne leckere fränkische Bratwurst geht immer«, entschied Jasmin und steuerte auf den Essensstand zu.

»Ich mag jetzt außerdem kein Fleisch«, brummelte Chris weiter und dachte wehmütig an sein opulentes Frühstück und das, was danach eigentlich hätte passieren sollen.

»Dann iss halt ’ne Tüte Pommes«, sagte Jasmin zu ihm, wie zu einem Kind, das sich nicht entscheiden kann.

»Schau mal die ganzen Leute vor dem Grill. Dauert ewig, bis du da etwas hast.«

»Ach Quatsch, das geht schnell«, ließ sie sich nicht beirren und reihte sich in die Schlange der Wartenden ein.

Jasmin sollte Recht behalten. Nur wenige Minuten später tauchte sie mit einem Bratwurstbrötchen wieder auf. Inzwischen hatte sich Chris näher angeschaut, was an dem einen oder anderen Stand so geboten wurde. Kauend kam Jasmin auf ihn zu und hielt ihm ihr Essen unter die Nase. »Willst du mal probieren?« Mit einem »Nein, danke« drehte er den Kopf weg, schob sich durch die Menschen Richtung Ausgang und verschwand zwischen den Besuchern. »Dann eben nicht«, war Jasmins Reaktion. Gemächlich schlenderte sie hinterher, die Blicke abwechselnd nach links und rechts auf die Stände gerichtet.

Ungeduldig wartete Rautner schon an ihrem Wagen. »Auch wenn ›du‹ Zeit hast, ich habe noch etwas vor«, maulte er seine Kollegin an.

»Es wird schon nicht auf zehn Minuten ankommen oder brennt es irgendwo?«, entgegnete sie gelassen.

Ohne darauf zu antworten, nahm Chris sein Handy zur Hand und rief eine Nummer aus seinen Kontakten an. Ungeduldig trommelte er mit den Fingern seiner freien Hand auf den Oberschenkel, während er auf Verbindung wartete. Scheinbar hob niemand ab, da er mehrmals die Wahlwiederholung drückte. Nach endlos dauernden Minuten gab er seine Versuche auf, nicht ohne eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen. »Hi, hier ist Chris, wenn du das hörst, melde dich bitte, wir können am Wochenende doch noch etwas unternehmen.«

»Deine neue Flamme?«

»Meine Wochenendbeschäftigung, die mir durch diesen Blödsinn hier versaut wurde«, ließ Chris weiter Dampf ab. »Warum mussten wir dort erscheinen, obwohl noch gar nicht feststeht, ob es ein Fall für uns ist?«

»Weil jemand die Polizei informiert hat und die Angelegenheit ist bei uns gelandet. Unser Chef hat mich angerufen und mich gebeten, dass wir uns der Sache annehmen.«

»Was, Theo?«

»Nein, Schössler. Du kannst ihm gerne dein Ärgernis schildern.«

Der, von dem Jasmin sprach, war Kriminaloberrat Hans Schössler, Leiter der Würzburger Mordkommission und der übergeordnete Chef ihres Teams, das aus Hauptkommissar Habich und den Kommissaren Blume und Rautner bestand.

»Nein, danke! Der alte Sauertopf hätte sicherlich kein Verständnis für meine Wochenendbelange.«

»Er wird seine Gründe dafür gehabt haben«, nahm Jasmin ihren Chef in Schutz. Sie wechselte das Thema. »Was hältst du von der Sache?«, fragte Jasmin mit einem Seitenblick auf ihren Beifahrer. »Ich meine, was auf dem Weingut passiert ist.«

»Schwer zu sagen, ich tippe auf Unglücksfall. Wie das in dem Alter so gehen kann; unsicher auf den Beinen … bisschen schwindelig … falscher Tritt … mit den Gedanken woanders … dazu das schummrige Licht und bumms, liegt man unten.«

»Und die Druckstellen?«

Zuerst war Rautners Antwort nur ein Schulterzucken, dann bequemte er sich zu einer Antwort: »Vielleicht eine ganz andere logische Erklärung. Abwarten, was die Wollner dazu sagt.«

Jasmin setzte ihren Kollegen vor dessen Haustür ab. Sie war froh, nicht weiter die schlechte Laune ihres Kollegen ertragen zu müssen. Sie selbst fuhr anschließend weiter ins Büro. Es ging aufs Jahresende zu und da wollte sie alle Unterlagen auf dem neuesten Stand haben. Wie so oft blieb die Büroarbeit an ihr hängen, da beide Herren Kommissare im Bezug auf Schriftlichkeiten, Statistiken und den anderen Papierkram etwas nachlässig waren. Außerdem hoffte sie, ab nächsten Freitag ein verlängertes Wochenende in Nürnberg bei ihrem Freund verbringen zu können. Sie stand in einer engeren Beziehung zu Jan-Niklas Berbakowski, einem Hauptkommissar beim Landeskriminalamt, und der hatte sie als seine Begleitung zu einer Hochzeit eingeladen. Berbakowskis Bruder heiratete an Weihnachten und wie üblich bei Frauen hatte Jasmin nichts Passendes zum Anziehen. Also war ein ausgiebiges Shopping-Weekend geplant. Aus diesem Grund hoffte sie inständig, dass sich der Iphöfer Treppensturz als Unglück herausstellte und in der folgenden Woche auch keine weiteren »ungeklärten Todesfälle« auftauchten.

 

Draußen begann es zu dämmern und Jasmin dachte so langsam an Feierabend, als ihr Handy klingelte. Auf dem Display erschien ein ihr bekannter Name und sie nahm den Anruf entgegen.

»Was ist denn mit dir los, schon wieder Heimweh? Ich denke, du bist am Feiern?«, fragte sie erstaunt.

Der Anrufer war kein anderer als Hauptkommissar Habich. »Das ist keine Feier, das ist eine Mastveranstaltung, üppiges Mittagsbuffet, dann Kaffee und Kuchen und jetzt kommt noch ein Abendessen, obwohl nichts mehr reingeht«, hörte Jasmin ihren Chef stöhnen. »Verwandtschaftstreffen sind anstrengender als jeder Dienst.«

Jasmin lachte: »Dann kannst du dich ja die Woche über wieder erholen.«

»Was hat sich bei euch ergeben?«

»Was meinst du?«, fragte die Kommissarin überrascht.

»Na, mit der Sache in Iphofen.«

»Woher weißt du schon wieder davon?«

»Das kommt davon, wenn man sein Handy nicht ausschaltet und Kollegen nicht auf den Dienstplan schauen.« Was Habich damit meinte, war die Regelung der Rufbereitschaft am Wochenende, die festgelegt war und auf deren Liste Jasmin Blume stand und nicht er, den man irrtümlich angerufen hatte.

»Und wer hat dann den Kriminaloberrat informiert?«

»Keine Ahnung, vermutlich irgendein Kollege, der keinen Plan hatte und nicht wusste, dass du zum Wochenenddienst eingeteilt warst. Ist ja auch egal, jetzt erzähl mal, was los war.«

Unverzüglich kam Jasmin der Aufforderung des Hauptkommissars nach und setzte ihn ins Bild. Sie schloss ihren Bericht mit den Worten ab: »Wir müssen die Obduktion abwarten, bis wir wissen, ob wir überhaupt ermitteln müssen, und die erfolgt, laut unserer Gerichtsmedizinerin, frühestens morgen Nachmittag.«

*

»Hallo, Frau Doktor!« Die Stimme ertönte von der halb geöffneten Tür her. »Bin ich zu früh oder können Sie schon etwas sagen?«

Die Angesprochene blickte von ihrer Arbeit auf und schaute erstaunt den Besucher an. Im weißen Kittel mit Einweghandschuhen stand sie an einem der beiden Seziertische über einen Toten gebeugt. Ihr gegenüber beschäftigte sich ein weiterer Kollege mit der Leiche. Im Hintergrund waren zwei Sektionsassistenten dabei, den zweiten Tisch zu räumen. Der dortige Tote – ein Unfallopfer – wanderte gerade in einen Leichensack. »Ach, der Herr Hauptkommissar!«, stellte sie verwundert fest. »Schon wieder zurück aus dem Schoß der Familie? Es ist doch erst Sonntagmittag vorbei. Sie haben es aber nicht allzu lange ausgehalten.«

Tatsächlich hatte Habich nach dem sonntäglichen Frühstück bei seinem Bruder, bei dem er auch übernachtet hatte, wieder die Heimfahrt angetreten. Schnell noch ein paar kurze Abschiedsworte an den Jubilar und die noch anwesenden Verwandten und dann nichts wie ab. Die Feier am Samstag mit Begrüßungen, Umarmungen, Händeschütteln und Fragen über Fragen hatten ihm gereicht. Theo hier und Theo da, wie ein verlorener Sohn war er herumgereicht worden, dabei hätte doch eigentlich sein Onkel die Hauptperson sein sollen. Da er sich aber bei Familienfesten oft rarmachte, hatte er an dem Wochenende im Mittelpunkt gestanden, was ihm gar nicht behagt hatte.

Habich winkte ab. »Das mit der Familie wird überbewertet. Ist nicht so mein Ding. Außerdem hätte ein längerer Aufenthalt meiner Taille noch mehr geschadet«, lächelte er und strich sich über den Bauch.

Auf den letzten Teil von Habichs Erklärung ging Dorothea Wollner gar nicht ein. »Sie sind kein Familienmensch?«

Verlegen druckste Hauptkommissar Habich herum. »Nun, was meine Verwandtschaft betrifft eher nicht, und Familie …, na ja, für eine eigene ist es schon ein bisschen zu spät.«

»Es ist nie zu spät.« Die blonde Rechtsmedizinerin schüttelte den Kopf und fixierte ihn aus ihren blauen Augen. »Aber lassen wir das, deswegen sind Sie sicherlich nicht gekommen. Wir sind gerade bei der inneren Leichenschau.« Sie deutete auf den nackten Leichnam, der dort mit geöffneter Bauchdecke auf dem kalten Edelstahltisch lag. Der Hauptkommissar zeigte keine Reaktion, er war solche Anblicke gewöhnt. »Karl Birkner ist nicht alleine durch Genickbruch gestorben … Nein, anders ausgedrückt, er hätte auch ohne den Sturz nicht mehr lange gelebt … «

»Und warum?«

»Weil es bei dem alten Birkner gleich mehrere mögliche Todesursachen gibt«, bemerkte die Gerichtsmedizinerin ungerührt, so als wenn das alltäglich wäre.

»Wie geht denn so etwas?«

»Es gibt einerseits Anzeichen für einen Herzinfarkt, dann haben wir den Genickbruch und außerdem noch eine weitere Verletzung … «

»Wie definiert sich ›weitere Verletzung‹ genau?«

Nach Habichs Frage entstand eine kleine Pause. Frau Doktor Wollner atmete hörbar aus. »Bei der äußeren Leichenschau haben wir Hämatome im Bauchbereich entdeckt … «

»Verursacht durch was?«

»Kann ich noch nicht genau sagen.«

»Was vermuten Sie aufgrund Ihrer bisherigen Diagnose?«

Jetzt wiegte die Medizinerin den Kopf hin und her. »Vermutungen gebe ich eigentlich nicht gerne ab … «

»Na ja, soll ja nichts Offizielles sein, nur mal so unter uns … rein spekulativ.«

Nach einer weiteren kurzen Denkpause meinte Dorothea Wollner: »Also, die Druckstellen an den Oberarmen haben sich bestätigt. Davon ausgehend ist das wahrscheinlichste Szenario: Birkner wurde bedroht und an den Armen gepackt. Er bekam Angst oder Panik, das wiederum löste einen Infarkt aus. Zum einen durch seinen hohen Blutdruck und seinen Diabetes, zum anderen durch Nikotin und Übergewicht – gegen die ersten beiden Beschwerden nahm er auch Medikamente. Damit gehörte er sowieso zur absoluten Infarkt-Risikogruppe. Gleichzeitig oder ziemlich zeitnah erhielt er möglicherweise Schläge oder Tritte in den Bauch. Vielleicht wurde er auch mit Wucht gegen irgendwas geschleudert oder gedrückt«, überlegte die Medizinerin. »Dadurch entstanden innere Verletzungen und es kam zu Blutungen im Bauchraum. Kurz danach muss er dann gestürzt sein und brach sich zusätzlich das Genick.«

»Die Gewaltanwendung konnte vor Ort nicht festgestellt werden?«

»Nein, weil ich durch seine Kleidung nichts bemerkt habe und andere äußerliche Anzeichen gab es nicht. Der Notarzt hat Genickbruch diagnostiziert und die Bauchverletzung ebenfalls nicht festgestellt, geschweige denn den Infarkt. Somit habe ich die anderen möglichen Todesumstände erst im entkleideten Zustand und bei der Obduktion heute früh erkannt.«

»Also kein natürlicher Tod?«

»Das möchte ich bezweifeln! Wenn er sich die Hämatome nicht selbst zugefügt hat oder diese sonst durch einen Unfall passierten, dann wahrscheinlich nicht«, meinte die Rechtsmedizinerin etwas ironisch.

»Selbst zugefügt … Unfall …?« Habich runzelte die Stirn, »Wie wäre das möglich?«

»Eigentlich gar nicht.« Nach kurzem Überlegen fuhr Frau Doktor fort: »Gestolpert und mit dem Bauch gegen etwas gestoßen oder auf etwas gefallen. Mehr kann ich Ihnen vielleicht nach meinen weiteren Untersuchungen sagen. Der Infarkt ›könnte‹ natürliche Auslöser haben, die Druckstellen an den Armen dagegen eher nicht oder er hätte sie sich selbst zugefügt.« Auch jetzt schien der Hauptkommissar die leichte Ironie in Wollners Stimme nicht zu bemerken.

»Die Kriminaltechnik soll sich vor Ort mal umschauen, ob sie dort Dinge findet, an denen man sich so eine Verletzung zuziehen kann.«

»Warten Sie, bis ich weiß, um was es sich handeln könnte oder es zumindest näher eingrenzen kann.«

»Wann sind Sie so weit?«

»Geben Sie mir bis zum späten Nachmittag Zeit. Ich rufe Sie an und dann bekommen Sie auch umgehend meinen Bericht.«

»Sagen Sie, wie lange hätte es bei dieser Verletzung im Bauchraum gedauert, bis man stirbt?«

»Je nach Schwere der Verletzung schätze ich mal, so drei bis vier, maximal zehn Minuten.«

»Können Sie mir schon etwas über die Todeszeit sagen?«

Frau Doktor Wollner beugte sich wieder dem Toten zu und meinte beiläufig: »Auch hierüber Genaueres später.« Habich verstand dies als Aufforderung zu gehen. Er hatte gerade die Hand am Türgriff, als er in seinem Rücken die Worte vernahm: »Wann darf ich mich mal bei Ihnen revanchieren?« Überrascht drehte sich Habich noch einmal um und sah die Rechtsmedizinerin schmunzeln. »Inzwischen habe ich meine neue Küche«, schickte sie als Erklärung hinterher.

Der Hauptkommissar hatte Dorothea Wollner mehrmals zum Essen ausgeführt, nachdem sie ihn nach Empfehlungen, in Würzburg und Umgebung gut Essen zu gehen, gefragt hatte. Sie war erst vor wenigen Monaten wegen ihres neuen Postens als Gerichtsmedizinerin in die Stadt am Main gezogen und musste ewig auf die Lieferung ihrer bestellten Küche warten. Da man vom Hauptkommissar wusste, dass er ein kleiner Gourmet in Sachen fränkische Küche und fränkischer Wein war, hatte man Frau Doktor Wollner an ihn verwiesen. Als Single mit gescheiterten Beziehungen war Habich der Weiblichkeit gegenüber ein wenig zurückhaltend, aber die hübsche Blondine hatte ihn wieder wach gerüttelt und Empfindungen in ihm geweckt. Trotzdem wusste er den privaten Kontakt mit der neuen Gerichtsmedizinerin noch nicht richtig einzuordnen. Er spürte, dass da von seiner Seite aus etwas war, aber er war auch ein gebranntes Kind und sie erst kürzlich mit einer Scheidung behaftet gewesen.

»Jederzeit«, antwortete Habich. »Schade, ich wollte Ihnen noch einige gute Lokale zeigen.«

»Das dürfen Sie gerne, aber jetzt bin ich erst mal dran. Wie wäre es mit nächstem Samstag bei mir?«

»Soll mir recht sein.«

»Dann erwarte ich Sie um 19 Uhr. – Kleiderordnung bitte völlig leger und zwanglos«, rief sie ihm hinterher.

Ach herrje, jetzt war es passiert. Die bedeutungsvollen Blicke und das leichte Grinsen von Wollners Mitarbeitern ließ erahnen, was gedanklich hinter deren Stirn vor sich ging. Es konnte nicht lange dauern und der »Buschfunk« würde das Date mit allen Vermutungen und Mutmaßungen in den Büros verbreiten.

Theo hatte noch nicht den Ausgang erreicht, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. Für die Einladung brauchte er ein Mitbringsel, dabei kannte er weder Dorothea Wollners Wohnung noch ihren Geschmack oder woran sie Gefallen finden würde. Hier stand er vor einem echten Problem. In solchen Dingen war er nicht bewandert und auf Beratung angewiesen.

Der Anruf von Frau Doktor Wollner erreichte Hauptkommissar Habich im Büro. Draußen war es schon dunkel, aber Habich hatte keine Lust gehabt, nach Hause zu gehen. Plötzlich war ihm seine Wohnung einsam und leer vorgekommen und so hatte er sich auf der Dienststelle in Arbeit vertieft. »Hallo Herr Hauptkommissar, hier ist die Gerichtsmedizin. Den Abschlussbericht müssten Sie in Ihrem Postfach finden, ich habe ihn an Ihre dienstliche Mailadresse geschickt.«

»Was können Sie mir vorab sagen?«

»Also, es war auf jeden Fall kein natürlicher Tod. Meine Vermutungen haben sich insoweit bestätigt, wie ich es Ihnen heute Mittag schon geschildert habe. Ob es ein Unglück oder Mord war, müssen Sie jetzt herausfinden.«

»Wie sieht es mit dem Todeszeitpunkt aus?«

»Die Annahme des Notarztes, der Tote habe dort schon die ganze Nacht über gelegen, war zutreffend. Aufgrund der niedrigen Temperatur in dem Gewölbe kann ich die Zeit maximal auf eine Stunde eingrenzen. Damit komme ich auf etwa 19 bis 20 Uhr.«

»Danke! Ich werde mir den Bericht gleich zu Gemüte führen.«

»Sind Sie im Büro?«, fragte Dorothea Wollner überrascht.

»Ja, zuhause war es mir zu langweilig.«

»Na gut, ich hatte einen langen Tag und mache jetzt Feierabend. Morgen kann ich Gott sei Dank mal ausschlafen.« Mit den Worten »Wir sehen uns spätestens Samstagabend« beendete sie das Gespräch, bevor Habich weitere Fragen stellen konnte.

 

Habich suchte und fand die Mail der Gerichtsmedizinerin. Mit Ruhe, den Kopf in die Hand gestützt, las er, was Frau Doktor bei der Obduktion alles festgestellt hatte. Das, was sie ihm schon zum größten Teil als Vermutung mitgeteilt hatte, wurde nun hiermit offiziell bestätigt. Eine halbe Stunde später schaltete der Hauptkommissar das Licht aus und machte sich auf den Heimweg.