Unheilvolle Vergangenheit

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Seit seiner Gefangennahme verstand Wilhelm die Welt nicht mehr. Bis zum Schluss hatte er gehofft, dass sich alles als ein großer Irrtum herausstellen würde. Erst der Schuldspruch öffnete ihm endgültig die Augen. Jetzt erst wurde ihm so richtig bewusst, wo er die nächsten Jahre verbringen würde. Er bat seinen Bruder, sich um Clara und die Kinder – deren Wohlergehen seine größte Sorge war – zu kümmern in dem Bewusstsein, dass sein Halbbruder dafür eigentlich nicht der Richtige war.

Hatte der Verlust des Verlobten Elisabeth Hollbein schon schwer getroffen, so wurde die Tatsache dadurch verstärkt, dass der Täter unter ihrem Dach gewohnt hatte. Nur wenige Tage nach dem Schuldspruch legte der Bauer Clara nahe, die Stellung bei ihm aufzugeben. Zu sehr würde seine Tochter bei ihrem Anblick und dem ihrer Kinder an den Mörder ihres Liebsten erinnert. Da sie keine neue Anstellung bekam, siedelte Clara Zirner schweren Herzens in eine der Iphöfer Armenwohnungen um. Keiner wollte der Lebensgefährtin eines Mörders Arbeit geben.

Überraschenderweise nahm Ferdinand die Bitte seines Halbbruders – sich um Clara und die Kinder zu kümmern – durchaus ernst. Leider färbte die Verurteilung seines Bruders auch auf ihn ab. Mit dem Namen Burgecker bekam er nicht mal mehr als Tagelöhner eine Beschäftigung. Tagelang beratschlagte Wilhelms Halbbruder mit Clara über die neue Lebenssituation, bis ihm der Ausspruch eines Bauern, bei dem er um Arbeit nachgefragt hatte, die Idee lieferte. »Hier findet der Bruder eines Schwerverbrechers keine Arbeit mehr, am besten du wanderst aus.«

Auswandern – der Gedanke ließ Ferdinand nicht mehr los. Wochenlang besprach er mit Clara das Thema, redete auf sie ein, doch mitzukommen. Zuerst lehnte sie vehement ab, da sie auf Wilhelm, den Vater ihrer Kinder, warten wollte, bis der wieder aus der Haft entlassen würde. Als Ferdinand ihr die lange Zeit von 20 Jahren vor Augen hielt, begann sie sich langsam mit dem Gedanken vertraut zu machen. Aber wohin sollten sie auswandern? Für Ferdinand kam eigentlich nur Amerika in Frage. Er hatte schon einiges von dem Land »mit den unbegrenzten Möglichkeiten« gehört. Man könne ja wieder zurückkommen, wenn Wilhelm seine Strafe abgesessen habe, oder ihn nach Amerika nachholen, argumentierte Ferdinand. So langsam nahm der Plan der Auswanderung Gestalt an und Clara war nicht mehr abgeneigt, nachdem sie bei der Arbeitssuche weiterhin nur Absagen und Ablehnung erfuhr. Nun blieb nur noch die Frage: Woher das Geld für die Überfahrt nehmen?

Überraschend erhielten sie Hilfe von der Stadt Iphofen. Der Magistrat unterstützte hin und wieder Auswanderungspläne und übernahm die Kosten der Bahnfahrt und der Schiffspassage. Man wollte damit soziale Spannungen entschärfen und die Armenkasse dauerhaft entlasten. So entschieden die Stadtväter – unter besonderer Fürsprache von Ludwig Hollbein – im Falle von Ferdinand Burgecker und Clara Zirner, ihr Vorhaben zu finanzieren. An einem nasskalten trüben Tag Anfang November des Jahres 1853 machte sich Ferdinand Burgecker zusammen mit Clara und den beiden Kindern auf den Weg. Zuerst mit dem Pferdewagen und dann mit der Bahn ging es Richtung Norden. Ihr Ziel war Bremen, von wo aus sie ihre Reise nach Amerika antreten wollten.

Ein letztes Mal hatte Clara alles darangesetzt, Wilhelm im Gefängnis besuchen zu können, bevor sie auf die große Reise gingen. Aufgrund ihrer sozialen und finanziellen Situation wurde es ein langer und beschwerlicher Weg bis nach Kaisheim ins Donau-Ries, wo Burgecker im dortigen Zuchthaus seine Strafe absitzen musste. Natürlich war er zuerst alles andere als begeistert, als er von den Auswanderungsplänen hörte. Ferdinand, der Clara begleitete, und auch Clara selbst schilderten ihm die schwierigen Lebensumstände in Iphofen, die sie seit seiner Verurteilung hatten. Trotzdem wurde es für Wilhelm schwer, zu akzeptieren, dass er seine Partnerin und seine Kinder womöglich nie mehr sehen würde, obwohl Ferdinand und Clara ihm versprachen, ihn nach der Entlassung nach Amerika nachzuholen oder zurückzukommen. Beides Vorsätze, die schwer zu verwirklichen waren, wie sich nicht nur der inhaftierte Burgecker eingestehen musste. Es wurde ein wehmütiger Abschied von Wilhelm. Weniger Tränen weinten sie ihrer alten Heimat nach, als das Fuhrwerk über das Kopfsteinpflaster zum Tor hinausrumpelte.

Ein Todesfall

»Opa ist verunglückt! Ich glaube, er ist tot!« Mit diesen Worten stürmte ein schlanker junger Mann atemlos ins Zimmer. Die Worte galten einer älteren korpulenten Person hinter einem Schreibtisch. Der Mann erhob sich trotz seiner Körperfülle so schwungvoll, dass der Bürostuhl an die Wand knallte, stützte sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab und schaute den jungen Mann entsetzt an.

»Wie? … Wo? … Was ist passiert?«, stammelte er dann irritiert.

»Ich habe ihn im untersten Gewölbekeller gefunden. Er muss die Treppe hinuntergestürzt sein.«

»Hast du die Rettung gerufen?«

Aufgeregt nickte der junge Mann. »Ja, ja, selbstverständlich.«

Eilig kam der Ältere hinter dem Schreibtisch hervor. »Warte du im Hof, bis die Rettungskräfte kommen, und zeige ihnen den Weg, ich werde nach Vater sehen.«

Bei den beiden Männern handelte es sich um den derzeitigen Chef des bekannten Iphöfer Weingutes Birkner, Hermann Birkner, und seinen Sohn Stefan, der die schreckliche Nachricht überbracht hatte. Der Siebenundfünfzigjährige mit dem spärlichen Haarkranz und dem stattlichen Bauchumfang hastete aus dem Zimmer, gefolgt von seinem Sohn. Beide stürzten aus dem Haus und wandten sich nach verschiedenen Richtungen. Hermann rannte, so schnell es sein Alter und sein Körpergewicht zuließen, auf die Hallen zu und Stefan zur Hofeinfahrt, um das Sanitätsauto und den Notarzt in Empfang zu nehmen.

Mit Schwung riss Hermann Birkner die Hallentür auf und lief an einer Weinpresse, gestapelten Holzkisten, Behältern und Bottichen vorbei zum Treppenabgang, der in die zwei Stockwerke tiefen Gewölbekeller führte. Sich krampfhaft am eisernen Geländer festhaltend nahm er hin und wieder zwei Stufen auf einmal. Feuchtkalte Luft schlug ihm entgegen, als er sich abwärtsbewegte. Er beachtete weder die Edelstahltanks noch die im Weg stehende Filteranlage oder die Schläuche, die sich an den Tanks entlangschlängelten. Hier unten waren die Vorbereitungen für den Ausbau der Jungweine im Gange. Die einen Sorten lagerten in hochmodernen Tanks aus Edelstahl, andere in traditionellen Holzfässern. Birkner erreichte die Treppe, die in die zweite Gewölbeetage führte, und sah schon von oben seinen Vater liegen. Die verdrehte Körper- und Kopfhaltung ließ nichts Gutes erahnen. Hastig stieg er hinab. Laut keuchend erreichte er das untere Gewölbe und beugte sich über seinen Vater. Mit Zeige- und Mittelfinger suchte er dessen Schlagader am Hals zu ertasten, so wie er es vor Jahren mal in einem Rotkreuz-Kurs gelernt hatte, aber er konnte nichts erfühlen. Betroffen von der Tatsache, dass sein Vater vermutlich nicht mehr lebte, erhob er sich und atmete heftig aus. Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht, als er von oben Stimmen und eilige Schritte hörte. Stefan Birkner tauchte auf, hinter ihm der Notarzt und zwei Sanitäter. Hermann und sein Sohn sahen sich schweigend an, während sich die Rettungskräfte um den Verunglückten kümmerten.

»Weiß es Mutter schon?«, fragte Hermann Birkner schließlich.

Stefan schüttelte den Kopf. »Vermutlich nicht, sie bereitet eine Weinprobe vor. Aber dass etwas passiert ist, war wegen der Sirene und dem Blaulicht nicht zu überhören.«

»Dann geh und informiere sie.«

Im selben Moment vernahm man Schritte von hochhackigen Schuhen im Gewölbe darüber. Das pausbackige Gesicht einer Frau, umrahmt von dunkelblonden schulterlangen Haaren, tauchte an der Treppe auf. »Was ist denn …? Ach herrje, Karl!«, rief sie entsetzt, nachdem sie die Situation erkannt hatte. »Ist er …?«

Bevor jemand antworten konnte, hob der Notarzt seinen Kopf und sah in die Runde. »Tut mir leid, da ist nichts mehr zu machen. Wahrscheinlich Genickbruch. Er muss sofort tot gewesen sein.«

Eine Etage höher ertönte ein Aufstöhnen. Schwiegertochter Waltraud lehnte mit kreidebleichem Gesicht an der Mauer, ihr Mann und ihr Sohn standen stumm und betroffen neben dem Leichnam.

»Wie ist es passiert, war jemand dabei?«, fragte der Notarzt.

Die beiden Männer sahen sich an und schüttelten einstimmig den Kopf.

»Als ich ihn fand, war weit und breit niemand zu sehen«, antwortete der junge Birkner.

»Ich habe auch keine Ahnung, was er so früh hier unten alleine wollte«, sagte Hermann Birkner.

Hermann stieg die Treppe hinauf und wollte seine Frau in den Arm nehmen, doch sie entzog sich seiner Umarmung und blickte ihren Mann vorwurfsvoll an.

»Ich sage die ganze Zeit schon, dein Vater gehört nicht mehr hier in den Betrieb. Außerdem hat er manchmal unsicher und verwirrt gewirkt. Es musste ja mal so kommen.«

»Quatsch!«, unterbrach ihr Mann sie. »Papa war fit. Der Betrieb war sein Ein und Alles und die Kellerführungen sein Steckenpferd. Das hätte ich ihm nicht nehmen können.«

»Aber vielleicht würde er dann noch leben«, entgegnete sie vorwurfsvoll und stutzte dann. »Wieso Kellerführung? Ich denke, er war alleine?«

»Scheinbar schon.« Hermann zuckte mit den Schultern. »Aber er hat gestern Abend etwas von einer Kellerführung gebrummt. Leider habe ich nicht genau zugehört, da ich ein Telefonat hatte.«

Hermanns Sohn mischte sich ein. »Es kann aber doch niemand dabei gewesen sein, sonst wäre derjenige oder diejenigen doch da. Ich glaube kaum, dass jemand Opa alleine gelassen hätte.«

Nachdenklich nickte Stefans Vater. »Eigentlich hat er die Treppe auch nur noch genutzt, wenn er Besucher dabeihatte, ansonsten hat er den Aufzug genommen.« Schon vor rund 100 Jahren hatte der Großvater des jetzt verunglückten Karl Birkner nachträglich einen Lastenaufzug einbauen lassen. Damit wurden die Arbeit im Keller und der Transport schwerer Teile wesentlich erleichtert. Gerade in der zweiten Gewölbeetage lagerten die edlen Tropfen. Dort in der untersten Etage reiften besondere Weine, in der Hauptsache Rotweine in Eichenfässern, und andere alkoholische Getränke, wie Schnäpse, Brände und Liköre, heran. Ein Teil davon flaschenweise einzeln in Regalen aufgereiht oder in Kisten gestapelt, der Rest im Keller nebenan in Weinballons oder Holzfässern. Nicht umsonst war dieser Bereich Karl Birkners ganzer Stolz.

 

»Ich denke nicht, dass es heute Morgen passiert ist«, unterbrach der Notarzt die Diskussion zwischen Vater und Sohn.

»Wann denn dann?«

»Der Tod dürfte schon vor Stunden eingetreten sein.«

»Vor Stunden?«, fragte Hermann Birkner ungläubig. »Was bedeutet das?«

»Womöglich liegt Ihr Vater schon seit gestern Abend hier, aber Genaueres kann nur ein Rechtsmediziner feststellen. Ich werde die Polizei verständigen.«

»Warum denn Polizei? Ist das notwendig? Das hier war doch ein Unfall, oder nicht?« Hermann Birkner dachte an das Aufsehen, wenn heute Uniformierte auf dem Anwesen hier auftauchten. Jeden ersten Samstag im Monat veranstaltete Birkner den »Markttag im Weingut« mit Weinproben, Kellerführungen und dem Verkauf seiner eigenen und anderer regionaler Produkte. Heute war dieser Tag und im Dezember war es nochmal etwas Besonderes, da sich der Markttag jedes Jahr an dem Adventswochenende in einen kleinen Weihnachtsmarkt verwandelte. Ab zehn Uhr sollten Tür und Tor geöffnet werden. Hermann sah auf die Uhr, noch nicht mal mehr eine Stunde bis dorthin.

Der Notarzt schüttelte nur den Kopf. »Tut mir leid, aber das ist meines Empfindens nach ein ungeklärter Todesfall und da sind wir angehalten, die Polizei hinzuzuziehen.«

*

Es war so ein trüber grauer Samstagvormittag, der gar nicht zu der vorweihnachtlichen Stimmung passen wollte und an dem man am besten im Bett blieb. Genau das plante Kommissar Rautner auch zu tun. Mit seiner neuesten weiblichen Eroberung unter der Bettdecke würde es bestimmt nicht langweilig werden. Das hatte Julianna, die brasilianische Studentin, in der Nacht schon eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Chris sah zuerst auf die schlafende Bettnachbarin und dann auf seinen Chronometer. Es war zwar erst kurz nach acht Uhr in der Frühe, aber der Hunger hatte ihn wach werden lassen und für seine weiteren Vorhaben brauchte er neue Energie, so seine kurze Schlussfolgerung. Vorsichtig, um die junge Frau nicht zu wecken, erhob er sich und entschloss sich, den Tag mit einem ausgiebigen Frühstück im Bett zu beginnen. Eine halbe Stunde später kam er mit einem vollen Serviertablett ins Schlafzimmer. Er hatte sich richtig Mühe gegeben und alles aufgefahren, was sein Kühlschrank so zu bieten hatte. Gott sei Dank hatte er unter der Woche noch – auf Anraten und mit Hilfe seiner Mutter – mal wieder seine Vorräte aufgefüllt. Leider hatte er keine Ahnung, was eine Brasilianerin so aß, so konnte er nur hoffen, dass auch was Essbares für sie dabei sein würde. Auf dem Tablett dampften zwei Tassen frisch gebrühter Kaffee, ein Teller voll Rühreier mit Speck, mehrere Scheiben Toastbrot, alternativ hatte er Käse, Marmelade, Müsli und Obst anzubieten. Kaffee- und Speckgeruch ließen die dunkelhäutige Schönheit erwachen. Aus tiefbraunen, fast schwarzen, halbverschlafenen Augen sah sie Chris erwartungsvoll an. Bei diesem Blick und dem Anblick des perfekten textilfreien Körpers konnte er sich nur schwer auf sein Frühstückstablett konzentrieren, das er mitten im Bett platzierte. Ein betörendes Lächeln, ein heißer Kuss und dann machte sich Julianna über die Rühreier her, sodass Chris sich beeilen musste, seinen Anteil zu bekommen. Nach den Eiern vertilgten sie den Käse und zum Schluss folgte noch ein Marmeladenbrot.

Gerade hatte Chris das Tablett auf den Fußboden gestellt, um sich wieder den »äußerst angenehmen Dingen« – wie Chris es nannte – zuzuwenden, als es an der Tür Sturm klingelte. Sein erster Gedanke war, das Läuten zu ignorieren, aber der Ton war penetrant und wollte nicht enden. »Wehe, es ist nichts Wichtiges«, fauchte er genervt, stand auf und zog sich etwas über. In Unterhose und Shirt ging er zur Wohnungstür. Sein Blick durch den Spion ließ ihn erkennen, wer der Störenfried war.

»Hallo Christoph, komme ich ungelegen?«, erkundigte sich eine weibliche Stimme mit unverschämtem Grinsen, als er die Tür öffnete. Die junge Frau drängte sich durch die Tür in den Flur. »Du gehst nicht an dein Handy und dein Telefon hörst du auch nicht. Scheinst ja wieder ein ereignisreiches Wochenende anzupeilen.« Der provokante Kommentar kam von seiner Kollegin Jasmin Blume, die ihn dabei von oben bis unten musterte. Immer wenn die Kommissarin ihren Kollegen ärgern wollte nannte sie seinen korrekten Vornamen, was dieser nicht ausstehen konnte, da ihn alle Welt nur als ›Chris‹ kannte und er auch so angesprochen werden wollte.

»Oh tatsächlich, ich habe vermutlich beides stumm gestellt«, brummte Rautner daraufhin missmutig, »aber so wie es aussieht, nützt mir das auch nichts.« Jasmin wollte weitergehen, aber Rautner versperrte ihr demonstrativ den Weg und knurrte gereizt: »Ich habe Besuch, wenn du verstehst, was ich meine.«

Mit gespieltem Bedauern meinte sie: »Ach, das ist aber ärgerlich.« Jasmins Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Chris’ Besuch bewegte sich nackt mit aufreizender Gelassenheit vom Schlafzimmer ins Bad. »Dein privates Vergnügen musst du jetzt leider abbrechen, wir haben Arbeit«, eröffnete sie ihm mit einem spöttischen Tonfall in der Stimme.

Ein leises »Sch… « war sein einziger Kommentar, dann wurde er sachlich. »Was ist passiert?«

»Ein Todesfall in Iphofen. Die Sachlage ist nicht ganz klar und so hat der Notarzt die Polizei verständigt.«

»Ich mach mich fertig. Bin sofort zurück.«

Chris verschwand im Bad, wie kurz zuvor sein weiblicher Übernachtungsgast auch. Er wollte retten, was noch zu retten war. »Sorry, mein Job ruft mich. Bist du noch da, wenn ich zurückkomme?«, erkundigte er sich mit einem Kuss in Juliannas Nacken.

»Wann du zurück?«, fragte sie in gebrochenem Deutsch.

Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Kann ich nicht sagen.« Während er sich anzog, fragte sie: »Glaube nicht, was ohne dich hier alleine? Besser nachhause.«

»Okay, ich rufe dich wieder an.« Chris nickte und betrachtete sich im Spiegel. Er strich mit den Fingern durchs Haar und begutachtete seinen Drei-Tage-Bart, der auf eine Rasur noch warten musste. »Mach bitte die Tür hinter dir richtig zu, wenn du gehst.« Ein letzter sehnsüchtiger Blick auf Juliannas Körper, die sich anschickte unter die Dusche zu gehen, dann verließ er fluchtartig das Badezimmer.

Verdammt, verdammt, verdammt, fluchte er in sich hinein. Bei solchen Gelegenheiten überkam ihn immer mal wieder die Überlegung, seinen Job zu wechseln, etwas mit geregelter Arbeitszeit anzustreben, aber nichtsdestotrotz liebte er seinen Beruf und die damit verbundenen Aufgaben. Seufzend ergab er sich in sein Schicksal und das hieß eben, Opfer zu bringen.

Seine Kollegin stand immer noch wartend im Flur und grinste breit beim Anblick seines Gesichtsausdruckes. Sie wusste genau um Rautners Stimmungslage. Irgendwie konnte sie ihn ja auch verstehen. Ihr würde es sicherlich ähnlich ergehen, wenn Jan da wäre und sie zum Dienst müsste.

»Dienstwagen oder Mini?«, fragte Chris im Treppenhaus. Das einzige Dienstfahrzeug für ihre Abteilung wurde fast ausschließlich von Rautner benutzt. In Zeiten von Sparmaßnahmen und Etatkürzungen hatte auch die Abteilung der Würzburger Mordkommission unter Fahrzeugmangel zu leiden. Daher hatten sich ihr Chef, Hauptkommissar Habich, und die Kommissare Blume und Rautner darauf geeinigt, dass Rautner den Dienstwagen nutzte und er sowie Jasmin ihre Privatwagen.

»Den Mini, ich stehe eh im Halteverbot.«

»Nichts Neues bei dir! Weiß Theo schon Bescheid?«

Jasmin sah in nachdenklich von der Seite an. »Irgendwie bist du verplant. Liegt das an deiner neuen Flamme?«

»Was ist los mit dir, bist du neidisch?«, konterte Chris.

»Nee, weiß Gott nicht, aber wenn du noch nicht mal mehr weißt, dass Theo dieses Wochenende in seiner alten Heimat ist, dann mache ich mir schon so meine Gedanken.«

»Ach, stimmt ja. Da war doch etwas mit Geburtstag.« Rautner kratzte sich am Kopf.

Der, von dem sie sprachen, war ihr Chef, Hauptkommissar Theo Habich, der Leiter des Teams. Ein ehemaliger Halbschwergewichtsboxer aus Frankfurt am Main, der durch seinen Sport und seinen Beruf nach Würzburg gekommen war und sich in die Stadt und die Region verliebt hatte. Seit dieser Zeit zog es ihn, wenn überhaupt, nur noch zu besonderen familiären Anlässen in die hessische Metropole.

»Genau! Sein Onkel, ich glaube, es ist der Bruder seiner Mutter, wird 80 Jahre alt.«

»Dann bin ich ja als Dienstältester sein Stellvertreter«, grinste Rautner, »und dir weisungsbefugt.«

»Bilde dir bloß nichts ein«, entgegnete Jasmin, die drei Schritte vor ihm lief und die Außentür vor seiner Nase zufallen ließ.

»Hat nichts mit Einbildung zu tun«, belehrte sie ihr Kollege und ignorierte die Provokation mit der Tür, »Ordnung muss sein und Rangordnung eben auch.«

Kommissarin Blume öffnete mit der Fernbedienung ihren Wagen, setzte sich hinters Steuer und rief. »Also gut. Komm endlich ins Auto … Chefchen!«

Demonstrativ stöhnend zwängte sich Rautner in den kleinen Wagen und Jasmin gab Gas. Der Wagen schoss von der schraffierten Fläche auf die Fahrbahn.

Chris hielt sich mit der rechten Hand am Haltegriff fest und fragte: »Wissen wir schon Näheres über den Todesfall?« Eine Bemerkung über Jasmins Fahrstil verkniff er sich, es hätte nur wieder zu einer unnötigen Diskussion geführt und nichts an ihrer Fahrweise geändert.

»Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um einen Treppensturz mit Todesfolge in einem Weingut, aber mehr weiß ich auch nicht.«

Der Rest der Fahrt verlief schweigsam. Jasmin konzentrierte sich auf den Verkehr und Chris trauerte dem ganz anders geplanten Wochenende nach.

Gut zwanzig Minuten später passierte Jasmins Mini die beiden geschmückten Tannenbäume an der Zufahrt zu Iphofens Altstadt, die Einheimische und Besucher an das bevorstehende Weihnachtsfest erinnern sollten, und rumpelte anschließend über das Kopfsteinpflaster. Sie fuhren stadteinwärts, vorbei am Hotel Zehntkeller, einem historischen Gebäude, das seit Mitte des 16. Jahrhunderts als Gerichtsgebäude – das sogenannte »Zentgericht« – gedient hatte, bevor es dann irgendwann später seine jetzige Bestimmung erlangte.

»Jetzt müssen wir hier abbiegen«, bemerkte Jasmins Beifahrer, als ein Gotteshaus ins Blickfeld kam, die Kirche »zum Heiligen Blut«. Ein durchaus geschichtsträchtiges Gebäude, dessen Ursprung – basierend auf einem Blutwunder nach einer Hostienschändung – um 1300 als Kapelle »zum Heiligen Grab« begann und die bald darauf Ziel zahlreicher Wallfahrten wurde. Der von den Einheimischen nur liebevoll genannten »Blutskirche« schenkten die Kommissare aber nur wenig Beachtung. Chris vergewisserte sich stattdessen anhand der Handynavigation, dass sie richtig waren. »Genau hier am Julius-Echter-Platz rechts fahren«, gab er Anweisung.

»Das ist aber ein allerliebstes Städtchen«, meinte die junge Kommissarin. Ihr Blick hing an den farbenprächtigen Fassaden der teils jahrhundertealten Fachwerkhäuser. Viele neu renoviert und die meisten anderen gut erhalten. »Ich muss mir mal die Zeit nehmen und privat hierherkommen.«

»Kannst ja mal einen Gang außen um die Stadtmauer herum am Herrengraben entlang machen. Soll echt erholsam und sehenswert sein. Die Befestigungsanlage ist noch ziemlich gut erhalten und sehr imposant«, brummte Jasmins Kollege.

»Du redest schon wie ein Stadtführer. Woher weißt du das?«

»Ich kenne Iphofen von einem früheren Fall her«, bemerkte Chris. Der fragende Blickseiner Kollegin nötigte ihn zu einer weiteren Erklärung. »Das ist schon über vier Jahre her, also vor deiner Zeit. Hatte auch irgendwie mit einem Weingut zu tun.« Etwas mürrisch meinte er: »Es scheint hier vieles mit Wein in Verbindung zu stehen. Na ja, wenn man sich umsieht, gibt es ja auch reichlich Weinberge ringsherum. Wenn man Theo glauben darf, sind die Weine hier sehr gut. Also ich bin jetzt nicht so der Kenner, aber unser Chef schon«, hob Rautner abwehrend die Hände.

 

»Ich frag jetzt lieber nicht, was du gerne so trinkst.«

»Ist auch besser so«, gab Chris kurz angebunden zurück.

Das Weingut Birkner lag im Kern des Altstadtbereiches, nur einen Steinwurf vom Museum und vom Benefizium entfernt – einem ehemaligen Besitztum der katholischen Kirche und zuletzt Unterkunft von Klosterschwestern –, das ein privater Investor vor nicht allzu langer Zeit zu neuem Leben erweckt hatte. Zwei Polizeiautos auf der Straße bestätigten Jasmin, dass sie an der angegebenen Adresse richtig war. Trotz des mausgrauen Himmels und nasskalter einstelliger Temperaturen waren schon am Vormittag reichlich Menschen in Iphofen unterwegs. Viele strebten zu dem Weingut, dessen beide Torflügel weit geöffnet waren. Neugierig schielten die Besucher zu den Uniformierten. Es bildeten sich Grüppchen, deren Getuschel sich in der Hauptsache um Vermutungen über die Anwesenheit der Polizei drehte. Die ratlosen Blicke der Umherstehenden ließ vermuten, dass niemand genau wusste, was passiert war.

Angesichts des Andranges waren Parkplätze rund um den Birknerhof Mangelware. Ohne Rücksicht auf die Verkehrssituation und die Tatsache, dass sie in der schmalen Gasse zum Hindernis wurde, stellte Jasmin ihren Wagen ab. Chris hatte es schon längst aufgegeben, ihr diesbezüglich Ratschläge zu geben. Weder Jasmins Fahrstil noch ihr Parkverhalten hatten Rautners Zustimmung, aber er schwieg ergeben.

»Was ist denn hier los?«, fragte Rautner überrascht mit einem Blick in den riesigen Innenhof des Weingutes. Was er meinte, waren die zahlreichen Verkaufsstände, die sich dicht an dicht drängten, und eine immer größer werdende Schar aus Neugierigen und Interessierten, die in das Anwesen strömte.

»Hier ist heute Markttag«, antwortete ein Polizist, der die beiden in Empfang nahm und Rautners Frage mitbekommen hatte.

»Sieht mir eher wie ein Weihnachtsmarkt aus«, bemerkte Jasmin, deren Blick an dem großen geschmückten Tannenbaum in der Mitte des Hofinneren hängen blieb.

»Und wo ist der Tote, um den es geht?«, fragte Rautner und ignorierte Jasmins Äußerung.

»Unten im Weinkeller.«

»Können Sie mir auch sagen, wie wir da hinkommen, oder muss ich mich erst durchfragen?« Die Stimmung des Kommissars hatte sich nicht wesentlich gebessert.

»Ganz hinten rechts, dort, wo mein Kollege steht, durch die Tür und dann die Treppen hinunter«, stotterte der junge Uniformierte verlegen, »der Tatort liegt im zweiten Untergeschoss.«

»Mensch, Chris, lass deine schlechte Laune nicht an Unschuldigen aus.«

Der Angesprochene brummte etwas Schwerverständliches wie: »Hab keine schlechte Laune«, und folgte der Wegbeschreibung des Kollegen. Jasmin versuchte nicht den Anschluss zu verlieren.

Die beiden Kommissare überquerten den weitläufigen Hof, vorbei an Ständen mit Honig und Marmelade, Wurst und Käse, Eiern und Nudeln, süßen und deftigen Backwaren, Obst und Gemüse sowie Spezialitäten, die es nur zur Weihnachtszeit gab. Ihnen stieg der Duft von Gegrilltem in die Nase. Es konnte probiert, gekauft und auch gleich verzehrt werden. Natürlich sollte der Schwerpunkt des Verkaufes auf dem Wein und dem hochprozentigen Angebot des Weingutes liegen. Bisher war Birkners Konzept ganz gut aufgegangen. Neben Einheimischen und Kunden aus den umliegenden Ortschaften, die den Markt als Einkauf für frische regionale Produkte nutzten, war er auch ein Magnet für Touristen, die in der Region Urlaub machten oder als Tagesausflügler mit dem Zug aus den mittelfränkischen Metropolen Nürnberg oder Fürth anreisten.

Angesichts von Rautners griesgrämigem Gesichtsausdruck öffnete der Uniformierte dienstbeflissen die Tür und zeigte mit dem ausgestreckten Arm zum Treppenabgang. Ohne sich großartig umzublicken, stiegen Rautner und Blume die Stufen hinab. Die neue Rechtsmedizinerin, Frau Doktor Wollner, beendete gerade ihre erste Begutachtung der Leiche und erhob sich. Sie streifte die Gummihandschuhe von den Händen und wandte sich von dem Toten ab.

»Na, Frau Doktor, wie sieht es aus?«

Chris hatte das Ende der Treppe erreicht und warf einen Blick auf den Verstorbenen, der immer noch so dalag, wie ihn sein Enkel vor Stunden gefunden hatte.

»Der Tote hat einen Genickbruch erlitten, aber ich bin mir nicht sicher, ob das die Todesursache war. Darüber werden Sie mehr erfahren, wenn ich den Mann auf meinem Tisch liegen hatte. Im Moment kann ich Fremdeinwirkung nicht ausschließen.« Dorothea Wollner sah sich um. »Wo haben Sie denn Hauptkommissar Habich gelassen?«

Beinahe wäre Chris die Frage herausgerutscht, ob sie ihn vermisse, aber er konnte sich gerade noch zügeln. Jasmin kam ihm mit einer Antwort zuvor. »Unser Chef ist auf Familienfeier. Sie müssen mit uns vorliebnehmen.«

»Ach ja, ich glaube, er erwähnte so etwas«, sagte Frau Doktor. »Es war von einem Geburtstag die Rede.«

»Fremdeinwirkung?«, fragte Rautner kurz angebunden und unterbrach damit die Unterhaltung der zwei Frauen.

»Ich habe Spuren am Toten gefunden«, gab die Rechtsmedizinerin Auskunft und fügte gleichzeitig hinzu: »Aber sicher bin ich mir nicht. Dazu später mehr.«

»Übrigens, wer ist überhaupt der tote Mann? Weiß jemand, was er hier wollte?« Chris sah sich um. Seine Augen erfassten Holzfässer und Flaschen, die sich im schummrigen Licht des Gewölbes verloren. Alles typische Behälter und Utensilien, die ein Weingut eben so zu bieten hatte, sonst gab es vor Ort nichts Besonderes, war Rautners Fazit.

Der uniformierte Polizeibeamte, der bisher schweigsam dabeigestanden hatte, gab Auskunft. Er zeigte auf den Leichnam und erklärte den beiden Kommissaren: »Das ist Karl Birkner, der Senior des Weingutes. Es konnte uns niemand sagen, was er hier unten wollte. Scheinbar gibt es keine Zeugen des Unglücks.«

»Okay. Mit wem von der Familie können wir reden? Wer ist jetzt verantwortlich?«

»Hermann Birkner, der Sohn des Toten, leitet das Weingut. Dessen Sohn hat seinen Opa gefunden.«

»Danke.« Rautner nickte dem Beamten zu. »Wo können wir die Herrschaften finden?«

»Oben, irgendwo im Haus.«

Ohne sich weiter um die zwei Frauen zu kümmern, stieg Rautner die Treppe hinauf. Die Gerichtsmedizinerin und Jasmin sahen sich überrascht an, zuckten die Schultern und zogen die Mundwinkel hoch.

»Chefallüren«, murmelte Jasmin, nur für Frau Doktor hörbar, die daraufhin verständnisvoll lächelte.

»Sie hören von mir, wenn ich Ergebnisse habe«, rief sie Rautner laut hinterher. Der Angesprochene zeigte keine Reaktion. An Jasmin gewandt meinte sie: »Also, ich melde mich«, nahm ihre Tasche in die Hand und machte sich ebenfalls auf den Weg nach oben. Auf halber Höhe drehte sich Dorothea Wollner noch einmal um. »Vor morgen Abend wird das aber nichts mit einem Ergebnis. Ich habe noch mehr ›Kundschaft‹, die im Kühlfach der Gerichtsmedizin auf mich wartet.«

Nachdem Kommissarin Blume den uniformierten Kollegen gebeten hatte, so lange zu bleiben, bis die Leiche abtransportiert worden war, folgte sie den beiden hinauf.

Jasmin trat aus der Halle ins Freie und nahm gerade noch wahr, wie Rautner im Haus schräg gegenüber verschwand. Der Hof hatte sich inzwischen deutlich mit Menschen gefüllt, die von Stand zu Stand wanderten. Viele begutachteten zuerst die angebotenen Waren oder taten sich an kleinen Kostproben gütlich, bevor sie sich entschieden, wo und was sie kaufen wollten. Eilig folgte Jasmin ihrem Kollegen ins Haus. Sie schloss die Haustür hinter sich und plötzlich wurde es ganz still. Jegliches Stimmengewirr und die Marktgeräusche waren auf einmal wie erloschen. Jasmin blieb stehen, um sich zu orientieren. Dann vernahm sie Wortfetzen aus einem der angrenzenden Räume. Sie ging in Richtung der Stimme, als sie in einem der vorderen Zimmer eine Frau sprechen hörte. Sie schien zu telefonieren. Obwohl die Tür leicht geöffnet war, konnte Jasmin ihre Worte nicht verstehen. Durch den Spalt erkannte sie einen Büroraum und eine gut proportionierte dunkelblonde Frau, deren Tonfall erregt klang. Die Neugier der Kommissarin war geweckt. Sie trat näher an die Tür heran und lauschte.