Hopfenbitter

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Z serii: Allgäu Krimi
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Doch schon im nächsten Moment bekam er ein schlechtes Gewissen. Er selbst war ja kaum besser. Auch er hatte schon Menschen mit Technik ausgespäht, abgehört und überwacht. Vor allem Anna war es, die immer wieder neue »Spionage«-Anwendungen für ihr Mobiltelefon vorschlug. Und sie beide wussten, wie man mit erfundenen Geschichten Menschen zum Reden brachte. Ganz ehrlich waren sie also auch nicht. Immerhin versuchte Wimmer, diese fragwürdigen Methoden nicht ohne Notwendigkeit und so selbstverständlich einzusetzen wie sein Kollege. Für ihn waren sie ein letzter Ausweg, wenn er anders nicht weiterkam.

»Herr Biss, mich werden S’ nicht noch einmal aushorchen, bespannen oder sonst wie ausspionieren. Nicht ohne, dass i des weiß. So kann man doch ned z’sammarbeiten. Da muss doch a Vertrauen da sein. Ham S’ mich verstanden? Wenn S’ meinen, dass S’ Ihre Spielzeuge einsetzen wollen, dann geben S’ mir Bescheid. Sonst is Schluss mit unserer Kooperation. Is des klar? Ham S’ des kapiert?«

Biss versicherte noch einmal, nichts Böses mit dem Richtmikrofon beabsichtigt zu haben, und schon gar nicht sei das ein Zeichen von Misstrauen, und Wimmer war dann endlich wieder beruhigt.

Eine Weile fuhren sie noch herum und suchten nach passenden Bäumen. Wimmers Zorn legt sich allmählich. Eichen fanden sie einige und auch Linden. Doch sie standen nie so zueinander, wie das Bild es zeigte. Gegen drei Uhr fuhr Biss ihn zur Metzgerei zurück.

»Für heute müssen wir Feierabend machen«, sagte er. »Ich hab heute Nachmittag noch einen anderen Termin im Zusammenhang mit einem ganz anderen Auftrag. Wollen Sie die Sache mit der Heiligenfigur und der Glühbirne in Angriff nehmen? Und morgen suchen wir weiter nach den Bäumen.«

Zu Hause half Anna Wimmer mit der Aufgabe. In der Speisekammer fanden sie noch eine alte Glühbirne und maßen sie aus. Sie hatte einen Durchmesser von sieben Zentimetern. Das war ein wichtiger Wert.

Anna machte eine Aufnahme von Wimmers Foto mit ihrem Handy und hatte so ruck, zuck das Bild auf ihrem Rechner. Ein Grafikprogramm half, es ins Gigantische zu vergrößern.

»Da erkennt man ja gar nix mehr!«, motzte der Metzger.

»Natürlich ist das jetzt ganz schrecklich verrauscht. Aber des Wichtige können mir scho erkennen. Des da muss die Lampe sein, und das hier drin ist die Glühbirne.« Sie deutete auf einen helleren Schemen vor dunklerem Grau. »Das heißt, von hier bis da hin …«, sie zog mit der Maus zwischen zwei Punkten einen leuchtend gelben Strich, »… sind’s auf dem Foto sieben Zentimeter.«

Sie klickte ein paarmal mit der Maus und hatte plötzlich ein Lineal auf dem Bildschirm, an dem diese gelbe Strecke anlag. Es waren dreiundzwanzig Millimeter. Dann verschob sie das Bild, bis der Bildschirm die Nische zeigte. Was für ein Heiliger es war, war nicht zu erkennen. Aber sie konnte wieder zwei Strecken an der Nische einzeichnen und mit ihnen die Höhe und Breite bestimmen.

»Des muss a recht kleine Figur sein«, meinte sie, als sie ihren Taschenrechner zu Rate gezogen hatte. »Die Nische ist nur achtundzwanzig Zentimeter breit und dreiundfünfzig Zentimeter hoch. Und die Figur reicht aa ned bis ganz nauf.«

»Lass uns des aufrunden, falls wir uns vermessen ham oder die Glühbirnen früher größer g’wesen san. Dreißge in der Breiten und fümferfuchzig hoch. Und darin eine Figur, ned größer als fümfundvierzg Zentimeter. Das is doch schon a brauchbares Ergebnis.«

4

23. September – Montag

Zwei Tage später lud Wimmer Anna nachmittags zu einer Motorradfahrt ein. Auf Nebenstrecken fuhren sie kreuz und quer durch die goldbunte Landschaft im milden Altweibersommersonnenschein. Nach mehr als einer halben Stunde langten sie im zwölf Kilometer entfernten Geisenfeld an und machten da in der Eisdiele in der Rathausstraße Station.

»Ich hab gedacht, du bist wieder unterwegs mit deinem Kollegen.«

»Naa. Der Fall is abg’schlossen.«

»Ihr habt’s den Hof gefunden?«

»Dei Opa hat den Hof g’funden!«

Wimmer konnte den Stolz in seiner Stimme nicht unterdrücken. Tatsächlich hätte Biss noch tagelang vergeblich nach dem Hof suchen können, wenn er Wimmer nicht um Hilfe gebeten hätte.

Während Anna mit Genuss einem Eisbecher Malaga zu Leibe rückte, erzählte Wimmer bereitwillig von der erfolgreichen Suche.

Tags zuvor war der Detektiv wieder vorgefahren, um den Metzger abzuholen. Als Wimmer die Autotür öffnete, fand dieser den Beifahrersitz belegt mit Büchern.

»Ach, der Kruscht, entschuldigen Sie bitte. So ein Wagen ist immer auch Arbeitsplatz und darum nicht immer aufgeräumt. Legen Sie die Bücher ruhig auf die Rückbank«, erklärte Biss.

Wimmer staunte. Die Bücher waren groß, und das oberste zeigte eine Hopfendolde. Es war aber kein Bildband für Touristen, sondern eher ein landwirtschaftliches Buch. Auch die anderen Bände, alle in Plastikfolie eingebunden, waren Fachbücher mit komplizierten Titeln. Es gab das »Handbuch der Stolonen«, »Neue Wege der autovegetativen Vermehrung mit Auxinen«, »Totopotente Zellen in der Phythogewebekultur«, lauter wissenschaftliche oder zumindest landwirtschaftliche Fachbücher.

»Keine Angst, Herr Wimmer, das gehört zur Recherche von einem ganz anderen Fall.«

»Sie arbeiten an mehreren Fällen gleichzeitig?«

»Das kommt schon vor. Und in diesem Fall ist es sogar wichtig. Wenn ich nicht sowieso in der Gegend wäre, glaube ich kaum, dass ich unser Fotorätsel angenommen hätte. Doch wenn ich schon in der Holledau bin und zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen kann, dann mache ich das natürlich.«

Und doppelten Stundensatz plus Spesen erhebst du natürlich auch, dachte Wimmer, beschränkte seinen Kommentar aber auf ein Grunzen.

»Weißt, Anna, der Kerl is scho a bissl a falscher Fuchz’ger, a weng schmierig und … mei, er hätt aa a guter Ganove wer’n können. Wennst so einem die Hand gibst, musst hernach deine Finger zählen. Ned, dass er welche behält – aus Versehen, sozusagen.«

»Du meinst, der bescheißt seine Mandanten?«

»I halt’s für wahrscheinlich. I hab ihn amal gefragt, was er so nimmt. Nicht dass mir jetzt a Gewerbe anmelden oder so. Aber interessiert hat’s mi halt. Der Mann nimmt fünfundsiebzig Euro pro Stunde. Aber er arbeitet gleich an zwei Fällen zur selben Zeit. Und er verlangt aa noch Spesen. Die wird der Hallodri, denk i ma, gleich beiden Auftraggebern in Rechnung stellen.«

»Spannt man das nicht?«

»Oh, i bin sicher, er is Hallodri genug, dass er des schon so geschickt hindreht.«

»Aber mit dir hat er Bäume g’sucht?«

»Genau. Wir ham die Baam g’sucht. Aber da warn mir ned recht erfolgreich. I glaub ned, dass es noch viele Eichen oder Linden in der Gegend um Wolnzach gibt, die mir ausg’lassen ham. Nix ham mir g’funden. Mir ham zwar rund zehn Paare von Linde und Eiche g’funden und dann da rund ummadum g’sucht. Häuser und aa Höfe hat’s da schon g’nügend, von denen man die Baam im Hintergrund erkennen tat, aber entweder stimmen die Häuser überhaupt ned, oder die Baam schaun ganz anders aus.«

»Schad! Und dann?«

»Heut Nacht is mir dann die Idee gekommen!«

Sie waren an diesem Vormittag noch einmal losgefahren. Wimmer lotste den Detektiv zu einer Linde. Es war der einzige große Baum in weitem Umkreis.

»Und wo ist jetzt die Eiche?«, wollte er wissen.

»Hier gibt es keine Eiche. Aber schauen S’ amal da hinüber. Sehen Sie da die Doppelhaushälften? Die ham s’ in de siebzger Jahr hingestellt. Vorher is da a Wiesen gewesen. Wissen S’, wieso ich mich da so gut erinner?

Biss schüttelte den Kopf.

»Da hab ich als Bua Kastanien g’sammelt, für die Wildfütterung.«

Sie gingen hinüber, und Biss zog das Foto heraus.

»Also, wenn hier etwa die Kastanie stand und es dieser Baum hier ist … und die Linde dort drüben die da …«, Biss peilte mit seinem aus der Faust gestreckten Daumen in die Landschaft, »… dann muss unser Hof in dieser Richtung liegen.«

Dort lag er dann auch. Bald hatten sie das Anwesen gefunden.

Biss war erleichtert. »Ich bin sehr froh, dass ich Sie gefragt habe. Ohne Sie, ich glaub, da hätte ich das Haus nie gefunden.«

»Ach, a bisserl a Glück war da scho aa dabei«, wehrte Wimmer das Lob ab, auch wenn es ihn natürlich freute, dieses Rätsel gelöst zu haben. Biss aber stellte fest, dass es schon auch seiner Tüchtigkeit geschuldet war.

»Ohne die Bäume hätten wir gar nicht gewusst, nach was wir schauen sollen. Glück ist schon recht, aber das ist dann nur noch dazugekommen.«

Der Hof lag bei Wolnzach, ein Stück südlich der Autobahn im Ortsteil Jebertshausen. Die Zeit war auch an diesem Anwesen nicht spurlos vorübergegangen. Die Gebäude waren in den vergangenen Jahrzehnten mehrmals umgebaut worden und hatten ihr Aussehen stark verändert. Der Standpunkt, von dem aus das Bild aufgenommen worden war, war inzwischen von einer Maschinenhalle überbaut. Diesen Blickwinkel aufs Gebäude gab es also so gar nicht mehr. Im ersten Stock waren einige Fenster zugemauert und andere vergrößert worden, die Treppe zur Haustür war neu und breiter angelegt worden, und wo früher eine Scheunentür gewesen war, waren heute zwei Garagenschwingtore.

Von den Einzelheiten des Fotos waren nur noch der Balkon zu erkennen und die Nische mit einem Heiligen Florian. Dennoch … die Strukturen und Dimensionen glichen denen auf dem Bild aufs Haar. Biss und Wimmer waren sich einig: Das musste das gesuchte Haus sein.

Biss brachte Wimmer zur Metzgerei zurück. Als der Wagen hielt, zog er einen Quittungsblock und füllte ihn aus.

»L. Wimmer Wolnzach – von Dirk Biss tausendvierhundert Euro für Recherchearbeiten – dankend erhalten«, stand auf dem Quittungsblock.

 

»Stimmt das so?«

Wimmer nickte. »Dann fehlt nur noch a Kleinigkeit. Wenn i des quittieren soll, müssen S’ natürlich auch zahlen.«

Doch Biss hatte schon das Handschuhfach aufgeschlossen. Darin sah Wimmer den Griff einer Pistole. Die interessierte Biss aber nicht. Er griff nach einer dicken schwarzen Geldbörse.

»Sie sind bewaffnet?«

»Ich bin bewaffnet. Ja. Aber ich rate niemandem, Waffen zu tragen. In fast allen Fällen machen Waffen die Situation nur komplizierter und gefährlicher.«

»Und wieso kutschieren mir dann so an Schießprügel im Auto umanand?«

»Um für jede Eventualität gewappnet zu sein. Außerdem: Ich bin ein Ex-Polizist und weiß, wann und wie man mit Schusswaffen umgeht und – was noch wichtiger ist – wann man sie im Handschuhfach lässt. Für Amateure ist eine Pistole ein ganz gefährliches Werkzeug. Wenn Sie mit dem Gedanken spielen …«

Das tat Wimmer ganz sicher nicht.

»… dann denken Sie daran, dass die Waffe Ihnen eine trügerische Sicherheit verleiht und Ihren Gegner fast immer provoziert. Je nachdem, wie der drauf ist, wird der dann etwas Verrücktes machen.«

Dann zählte er sieben Zweihundert-Euro-Scheine ab, während Wimmer die Quittung unterschrieb. Es mochte übertriebenes Misstrauen sein, aber der alte Metzger zählte die Scheine nach und stellte dabei erleichtert fest, dass sie echt aussahen, sich auch so anfühlten und alle verschiedene Nummern hatten.

»Tja, Herr Biss. Es hat mich gefreut.«

»Mich auch. Ich bedanke mich herzlich. Sie haben mir sehr geholfen. Wenn Sie ernsthaft in das Gewerbe einsteigen wollen, kann ich Ihnen gern helfen. Ansonsten … es hat mir Spaß gemacht mit Ihnen. Alles Gute weiterhin.«

Die guten Wünsche erwiderte Wimmer. »Wie geht es jetzt weiter bei Ihnen?«

»Na ja, jetzt werd ich schauen, dass ich herausbringe, wer auf dem Hof lebt. Dann ist dieser Fall abgeschlossen, und ich teile es meinem Mandanten mit. Vorher aber stelle ich ihm noch eine Rechnung. Und dann hab ich ja noch den anderen Fall.«

»Um was geht’s da?«

»Ich darf darüber nichts sagen. Aber es ist was recht Großes!«

»Und was machen wir jetzt mit dem Geld, Opa?«

»I denk, mir kaufen der Assistenzdetektivin an g’scheiten Sturzhelm. Dann kannst deine Leihgabe wieder zurückgeben.«

Dass Anna am Abend mit einem zur Kombi passenden Sturzhelm nach Hause kam, ließ Karolas Blick hart werden.

»Wo hat die junge Madame denn das Geld für einen Helm her? Papa, hast du ihn ihr gekauft?«

»Na ja, sie hat mir a bisserl am Rechner geholfen bei dem Auftrag für den Detektiv. Und der hat heut bezahlt. Da hab i g’meint, der Helm, des is dann ihr Anteil.«

Karolas Miene hellte sich auf. »Ihr seid’s also fertig geworden mit eurem Detektiv-Schmarrn?«

»Ja. Mir ham des Haus g’funden, das er gesucht hat.«

»Der Opa hat’s g’funden, Mama!«

»Gott sei Dank, dass der Unfug diesmal so schnell a End hat. Und lass dir ned einfallen, jetzt die Detektivspielerei offiziell als Gewerbe zu eröffnen, Papa.«

»Naa, Karola, da bin i mir recht sicher. Des is dann doch a bisserl zu intensiv.«

»Dann hoff ich amal, dass das die letzte Detektivgaudi war und du künftig deine Freizeit so verbringst, wie man es von am anständigen Ruheständler erwarten kann.«

16.9.1957

Franziska seufzte. Es war wieder einmal schön gewesen. Nach den sechzehn Tagen bei den Bichlers sahen zwar ihre Hände wieder zum Fürchten aus, doch etwas Geduld und Atrix, ihre treue Handcreme, würden ihre zehn kleinen Helferlein schon wieder manierlich werden lassen.

Sie setzte sich in das Eck ihres Fensterplatzes zurecht und sah zu, wie die grüne Welt an ihr vorüberglitt, während der Zug sie wieder nach Süden, nach München, in ihr angestammtes Leben zurückbrachte.

Es ist schon seltsam, dachte sie. Hier hatte sie nur einen Strohsack auf der Tenne gehabt und nicht mehr als das, was sie im Rucksack hatte mitnehmen können. Dennoch hatte sie sich hier freier und besser gefühlt als zu Hause bei Mutter, der Tante und der Großmutter. Dabei hieß es doch, dass Stadtluft einen Menschen frei macht. Bei ihr schien es anders zu sein.

Es war nun ihr vierter Einsatz in der Holledau zum »Hopfenbrocken« gewesen. Wieder hatte sie hart gearbeitet, eine hübsche Summe verdient und bei all dem auch viel Freude mit den anderen Pflückerinnen und Pflückern gehabt. Wieder war das Essen einfach, aber überreichlich gewesen, wieder hatte man bei Regen und Sonne gearbeitet und dabei froh gesungen, gescherzt und sich gefreut. Gelegentlich war der Großvater der Bichlers zu den Pflückerinnen gekommen und hatte ihnen erst aus der Zeitung und später aus Romanheften vorgelesen. So hatten sie fast drei Wochen lang sechs Tage in der Woche gearbeitet.

An einem der Sonntage war beinahe der ganze Bichlerhof nach Hüll spaziert, dem Hopfenforschungsgut. Die Bäuerin meinte, nirgendwo sei die gebenedeite Jungfrau den Hopfenbauern und ihren Helfern so gewogen wie in der Kapelle dort, wo sich alles Denken und Trachten um die g’starrigen Ranken dreht. »Hier kann s’ gar ned anders als a Einsehen ham mit unseren Sorgen!«, erklärte sie.

Eine gemütliche Stunde waren sie bei strahlend blauem Himmel durch die grüne Landschaft marschiert, hatten einen Abstecher nach Larsbach gemacht und waren schließlich an einem Bauernhof von stattlicher Größe angelangt. Links vom weiß getünchten Haupthaus standen die Wirtschaftsgebäude im Hufeisen.

Frau Bichler führte sie sofort zur Kapelle, einem kleinen, hübschen Kircherl auf der anderen Seite des Fahrwegs. Franziska staunte, denn darin verbarg sich eine üppig stuckierte Lourdes-Grotte.

»A jeder bet jetzt bitt schön a Avemaria und a Vaterunser. Und wenn wer noch was auf dem Herzen hat, hier werd g’holfen. Hier hat’s nämlich amal a echtes Wunder geben. A halbes Jahrhundert is wohl her, und wirklich wahr is! Mei Oma hat die Felsl-Kathi noch selber gekannt. Die Arme is damals so krank g’wesen, sie hat scho gar nimmer laufen können. Bei am Brand wär s’ dann fast um’kommen. Aber wie s’ da in ihrer Not zur heiligen Jungfrau ’bet hat, hat s’ plötzlich doch wieder gehn können. A bisserl später hat s’ die Kapelle hier g’stift.«

Weit interessanter als die hübsche Marienkapelle fand Franziska den Leiter dort, Herrn Professor Dr. Zattler, der die Gesellschaft begrüßte und eine kleine Führung veranstaltete.

Mit angenehmer Bassstimme gab er zunächst einen kurzen Abriss des Hopfenanbaus in der Holledau: »Es heißt, es waren kriegsgefangene Wenden, die vom bayerischen Herzog bei Geisenfeld im 8. Jahrhundert angesiedelt wurden. Sie haben wohl den ersten Hopfengarten in der Region angelegt. Natürlich hatten die Armen nicht ahnen können, wie wichtig dieses Gartl für die Region werden würde. Schlechte Landwirte können diese Wenden nicht gewesen sein, denn der Hopfen gedieh gut und man baute ihn seit dieser Zeit an – sporadisch nur, vor allem als Heilpflanze für den Eigenbedarf. Vielleicht trieb man auch ein wenig Handel damit, aber reich wurde man damit natürlich noch nicht. Doch wer wurde das damals hier schon? Unsere schöne Holledau war ja das Armenhaus Bayerns, eine elende Gegend, abseits der großen Verkehrswege und weitgehend unerschlossen.«

Irgendwo in der Ferne pfiff die Lokomotive des Holledauer Bockerls, die mit ihren Wagen Richtung Moosburg schnaufte. Großvater Bichler meinte: »Mei, zu am Wohlstand san ma ja erst ’kommen, wie der König die Eisenbahn hat bauen lassen! Ohne die hätt ma den Hopfen ja a gar ned weg’bracht. Und ihr seids ja aa alle mit am Zug kemma.«

Der Professor nickte. »Die Eisenbahn war sehr wichtig, freilich. Aber es wurde auch schon besser, als 1848 die bayerischen Bauern keine Abgaben und Frondienste mehr leisten mussten. Endlich konnten sie wie Unternehmer denken. 1849 kam dann die Eisenbahn! Die Bahnstrecke von München nach Nürnberg hat wenigstens die westliche Holledau an die Welt angeschlossen. Was aber noch viel wichtiger war: Damals wurden plötzlich untergärige Biere Mode, nach ›Bayerischer Brauart‹ trank man und ›Pilsener‹. Das Biertrinken wurde plötzlich sehr viel beliebter, die Nachfrage nach Hopfen stieg rasant. Seit dieser Zeit ist der Hopfen ein sehr begehrtes Handelsgut.«

Die ersten der Besucher zeigten Zeichen von Langeweile und Ungeduld. Sie wollten lieber Bier trinken, als davon erzählt bekommen. So brachte der Professor seinen Vortrag lieber zu einem raschen Ende.

»Wir hier sorgen dafür, dass der Hopfen ein begehrtes Handelsgut bleibt, denn wir züchten die neuen Hopfensorten, die die Braumeister brauchen. Dabei sind wir weltweit ohne Konkurrenz. Kommen Sie, ich zeig Ihnen, wie wir das machen!«

Als sie nach einem Rundgang durch die Anlage wieder vor das Haupthaus geführt worden waren, stand plötzlich der Traktor der Bichlers auf dem Hof. Robert, der Sohn der Bichlers, hatte den Anhänger herübergefahren. Darauf warteten ein paar Kästen kellerfrisches Bier und eine deftige Brotzeit auf die Ausflügler. Als sich alle gestärkt hatten, fuhren die älteren Pflücker auf dem Hänger zurück, »dass wir morgen ned so müd san bei da Arweit!«.

Franziska ging lieber zu Fuß und genoss die duftende Spätsommerluft, die reizvolle Landschaft mit den vielen Schattierungen des Grüns und die frohe Gemeinschaft der gut gelaunten Arbeiterinnen, denen sie sich angeschlossen hatte.

Die Gesellschaft auf dem Hof war mehr oder weniger dieselbe geblieben, doch es gab auch Änderungen. Ein paar bekannte Gesichter waren ausgeblieben. Eleonore zum Beispiel hatte geheiratet, und mit Jochen, ihrem Säugling, war sie natürlich zu Hause geblieben. Die ehrgeizige Theres, hatte sie gehört, war bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Die Lücken waren indes schnell gefüllt, denn immer mehr Bauern schafften sich nun die eisernen Pflücker an, riesige Maschinen, größer als die Garagen, die in München im Hinterhof standen. Diese Giganten baute man in der Scheune auf – mancher baute auch um sie herum eine neue Scheune. Gefüttert wurden die Ungetüme mit den Hopfenreben. Mit unglaublichem Getöse wurde der grüne Hopfen komplett ins Innere eines solchen Monsters gezogen, wo eine Kombination aus Walzen mit Gummifingern, Transportbändern und Gebläsen die Dolden abzupfte und in den ersten Stock blies. Den unbrauchbaren Rest der Rebe spuckte der Apparat am anderen Ende fein gehäckselt auf einen Anhänger.

Die ersten dieser Geräte waren noch sehr unzuverlässig gewesen, mussten immer wieder angehalten werden, und sie zupften sehr schlecht. Die Bauern, die sie angeschafft hatten, wurden vielfach belächelt. Inzwischen aber waren diese mechanischen Ungeheuer recht ausgereift, auch wenn natürlich immer noch ein knappes Dutzend Frauen Nachschau halten musste und in diesem Höllenkrach des Apparates Blätter und Stängelreste am Fließband aus dem Doldenstrom fischten.

Dank der Maschinen brauchte man nun weit weniger Erntehelfer. Wer Glück hatte, kam bei Bauern unter, die noch traditionell zupften, so wie die Bichlers. Aber wie lange noch? Wenn die Bauersleut es nicht hören konnten, wurde unter den Pflückern lebhaft erörtert, wann wohl die Bichlers sich auch so ein Ungeheuer anschaffen würden. Die einen meinten, das würde sicher noch Jahre dauern, weil doch die Maschinen so teuer wären. Andere wandten ein, das hätten andere auf anderen Höfen auch angenommen. Doch wenn man der Investition gegenüberstellte, was man alles an Arbeitslöhnen sparte, und das immer wieder alle Jahre neu, war die Anschaffung wohl dennoch lohnend.

Zuletzt war man der Meinung gewesen, dass man die Hopfenbrockerei genießen wollte, solange es noch dauerte. Zukunftsängste hatte ohnehin niemand. Das Wirtschaftswunder war sogar in der Oberpfalz und der Holledau angekommen, und allenthalben war man optimistisch.

Soweit es Franziska anging, würde sie gern immer wieder in die Holledau zum Hopfenbrocken fahren. Die Luft war eine andere als in der großen Stadt. Man roch es. Hier krochen nicht Teer und Diesel in die Nase. Die Luft schmeckte nach Hopfen – natürlich – doch auch nach feuchter Erde und gemähtem Gras, das die Spätsommersonne in duftendes Heu verwandelte. Und dann gab es da noch einen anderen Geruch. Den aber hatte sie erst letzte Woche kennengelernt. Ein starker Duft, von Arbeit, Kernseife, Moschus und sauberer Wäsche.

Konstantin Bichler war in den letzten Jahren zu einem feschen jungen Mann herangewachsen. Ein breites Lächeln hatte er immer schon gehabt, doch in den letzten Jahren hatte die Arbeit ihm dazu noch breite Schultern beschert. Auch war er viel selbstsicherer geworden. Alles Linkische und Ungeschickte hatte er abgelegt, und da er sich schweigsam gab, sagte er nie das Falsche. So umgab ihn eine Aura aus Attraktivität und Geheimnis.

 

Wie genau es gekommen war, konnte Franziska gar nicht sagen. Natürlich hatte sie seine Entwicklung vom Jungen zum Mann beobachtet, und das durchaus mit einem gewissen Appetit, den ihre Mama belächelt und vor allem Tante und Großmutter »ab-so-lut unpassend« genannt hätten. Doch bis vor ein paar Tagen waren es nur Gedankenspielereien gewesen – falls überhaupt. Und dann … dann war sie gestolpert, und er fing sie auf … sie waren allein, und dann lag sie plötzlich in seinen Armen, und er küsste sie. »Das hat er nicht das erste Mal gemacht!«, schoss es ihr durch den Kopf. Dann küsste er sie erneut, und sie gab sich dem Strudel der Gefühle hin. Als sie eine knappe Stunde später auf wackligen Beinen hinter Konstantin aus einer Kammer schlich, konnte sie immer noch nicht glauben, was da eben passiert war.

Es war leichtsinnig, es war streng verboten, völlig unvernünftig und ohne Zukunft. Es war nur die Lust, aber immerhin – die war es: die reine, vollkommene Lust, vollständige Hingabe zu zweit. Konstantin hatte sich trotz seiner Jugend als guter Liebhaber erwiesen, fest zupackend und zugleich zärtlich und weit besser in Form als die Vorstadtcasanovas, die sie in München umschwärmt und jedes Mal enttäuscht hatten, wenn sie ihnen doch einmal nachgegeben hatte.

Die nächsten Tage ging Franziska wie auf Wolken. Sie machte sich nichts vor. Es war für sie beide nur eine Liebelei. Hatte sie Gewissensbisse oder Angst vor der Sünde? Vor möglichen Folgen und der Zukunft? Nein. Seltsamerweise nicht. Ihre Hormone schäumten über und schwemmten alle Bedenken davon. Die Eskapade widersprach zwar allem, was ihre Tante und Großmutter sie gelehrt hatten, doch deren Moral war kalt und grau. Wenn sie an die Berührungen von Konstantin dachte, musste sie unwillkürlich lächeln. Alles war angenehm gewesen, warm und erfüllte sie immer noch mit Freude. Sie spürte es tief in sich, dass dieses wunderbare Gefühl nicht falsch sein konnte. Natürlich war sie keine passende Partie für die Familie Bichler. Niemals! Zum Hopfenbrocken … ja, da war sie willkommen, denn sie ging ja wieder. Doch als Schwiegertochter? Eine aus der Stadt? A Staaderin? Sicher nicht. Und was Großmutter und Tante sagen würden, wenn sie ihnen den Konstantin als Schwiegersohnaspiranten präsentierte, konnte sie sich denken. Hier auf dem Hopfenhof war er ein Prinz. In München wäre er ein Niemand. Nur ein ungebildeter Kerl, einer vom Lande! Außerdem war er ja jünger als sie.

Sie kicherte. Ja, sie war fünf Jahre älter als Konstantin. Und es war egal. Noch dreimal tanzten sie diesen großartigen horizontalen Tanz voller Lust und Leidenschaft in aller Heimlichkeit, und sie hatten Glück. Sie blieben unentdeckt. Auch tags zuvor erst, beim großen Hopfenzupfermahl, dem Abschlussfest.

Die Bäuerin und ein paar Helferinnen hatten den ganzen Tag in der Küche gewerkelt. Als dann zur Dämmerung die Pflücker mit der letzten Rebe auf dem Anhänger unter Gesang auf den Hof rollten, wurde groß aufgetischt. Es gab Kesselfleisch, Bierbratl auf Kraut, Wurst und Käse, Brot und allerlei Schmalzgebäck, dass es eine wahre Lust war. Als alle froh schmausten, konnten sich Franziska und Konstantin davonstehlen und sich ein letztes Mal miteinander vergnügen. Als sie ihr Gewand wieder in Ordnung gebracht hatten, nahmen sie Abschied.

»Schön war’s mit dir«, meinte er schlicht, aber ehrlich.

»Mit dir schon auch. Ich dank dir schön.«

»Ah geh – ich dank dir. Kommst nächstes Jahr wieder?«

»Schau mer mal. Bis dahin kann viel passieren.«

Würde sie wiederkommen? Konnte es nächstes Jahr so weitergehen? Würde er eine andere für seine »Aufmerksamkeiten« erwählen? Vielleicht war er ja bis dahin verheiratet. Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie es nicht bereute. Es war schön gewesen. Was immer auch kommen mochte, ihr Erlebnis konnte Franziska niemand mehr nehmen.