Das seltsame Leben der Scarlett Ostermann

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4. Januar: Heinrich Böll, der Vorsitzende des Internationalen PEN-Clubs solidarisiert sich mit Alexander Solschenizyn.

7. Januar: Die Schlagersängerin Gigliola Cinquetti gewinnt mit „Alle porte del sole“ den Musik-Wettbewerb des italienischen Fernsehens.

10. Januar: Der russische Cellist Rostropowitsch erhält nach einem dreijährigen Ausreiseverbot die Erlaubnis, nach Paris zu fahren.

12. Januar: In den Niederlanden wird das Benzin rationiert. Private Autofahrer erhalten 15 Liter Benzin pro Woche.

14. Januar: Die Komponisten Ludwig van Beethoven und Franz Schubert werden in der Volksrepublik China wegen „bourgeoiser kapitalistischer Mentalität“ auf den Index gesetzt.

15. Januar: Der Vatikan hat keine Einwände mehr gegen den Bau einer Moschee in Rom, die König Feisal fordert.

16. Januar: Die Encyclopaedia Britannica wird in New York in einer dreißigbändigen Ausgabe neu herausgebracht. Gesamtkosten 32 Millionen Dollar.

17. Januar: Kanadische Astronomen entdecken im Schweif des Kometen Kohoutek Wassermoleküle, was die Theorie bestätigt, dass Kometen „schmutzige Schneebälle“ sind.

19. Januar: In Bremen wird ein Mädchen mit zwei Köpfen geboren.

25. Januar: Der Schah von Persien liefert Großbritannien fünf Millionen Tonnen Erdöl jährlich im Austausch gegen Industriegüter.

26. Januar: Die griechische Regierung verbietet das beliebteste Kartenspiel des Landes, Koum-Kann, weil es Zeit vergeudet und zu finanziellen Verlusten führt.

30. Januar: Der Ätna auf Sizilien ist nach dreijähriger Pause wieder aktiv.

30. Januar: Präsident Nixon fordert in einer State-of-the-Union-Botschaft soziale Reformen. Er ist der Meinung, die Watergate-Affäre habe nun lange genug gedauert.

31. Januar: Der blinde japanische Lehrer Shinjiro Malitsui baut eine Schreibmaschine, die sowohl normale Schreibschrift als auch Blindenschrift schreibt.

19.25 Uhr

Wieso schreibst du das Zeug auf, sieht aus wie eine Art Tagebuch?, frage ich.

Rick liegt jetzt auf dem Sofa, dehnt und streckt sich, beobachtet mich: Richtig! Ich sammle, ich sammle Nachrichten für mein Buchprojekt.

Klingt spannend, sage ich lahm.

Soll so etwas Ähnliches wie eine Chronik oder wie, wie … eine Enzyklopädie werden, erklärt er.

Gibt es nicht genügend Chroniken und Nachschlagewerke? Nicht das, was ich mir vorgenommen habe. Ich versuche, eine neue literarische Form zu finden.

Seine Erklärung klingt nicht sehr überzeugend. Er legt die Hand auf die Stirn, reibt die Augen, gähnt breit. Und du glaubst, dass du das kannst?, frage ich. Äh, natürlich! Was glaubst du denn?, brummt er.

Ich nicke, spüre, dass er verärgert ist und weiß nicht, was ich sonst noch fragen könnte. Nach einer Weile sage ich: Wirst du damit Geld verdienen?

Er schaut auf: Zunächst natürlich nicht!

Aha!, mache ich und kann es mir nicht verkneifen, zu fragen, wovon er in Zukunft leben wird, wenn die Schreiberei so unsicher sei.

Er richtet sich auf, stopft ein weiteres Kissen unter seinen Kopf, lässt sich wieder fallen und sagt: Ich dachte, du willst keine Spießerin sein? Scarlett, du hast vorhin großartig verkündet, dass du die Welt mit Klamotten und Schnickschnack erobern willst. Da kommst du mir jetzt mit so engherzigen, bürgerlichen Fragen daher? Was interessiert mich Geld? Weißt du was? Geld bedeutet mir so viel wie ein Furz. Jeder Mensch, der Bedeutendes geleistet hat, ist über Grenzen gegangen und hat sich selbst das Äußerste abverlangt. Auch ein Leben in Armut. Warum ich nicht? Traust du mir das nicht zu? Du willst Kleidchen nähen, ich will schreiben. Das eine ist so unsicher wie das andere. Wir werden sehen, wer erfolgreicher ist!

Erschrocken starre ich ihn an. Ich umklammere noch immer sein Notizbuch, schlag es wieder auf, betrachte seine schnörkellose, eckige Schrift: Darf ich weiter lesen?

Er lacht unfroh: Bitte, wenn‘s dich interessiert. Ich habe kein Geheimnis vor dir.

Er liegt im Halbdunkel und sonnt sich in meiner Hilflosigkeit. Ich erinnere mich an die Szene beim Mittagessen, als mein Fuß ihn vergeblich unterm Tisch gesucht hat.

Jetzt nicht empfindlich sein, jetzt bloß keinen auf Mimose machen, denke ich.

Erwachsen sein, das heißt auch einstecken können, hat Paps einmal gemeint, nachdem er mich wegen einer Kleinigkeit angebrüllt hatte; und diplomatisch sein, hat er noch hinzugefügt. Letzteres habe ich nicht verstanden, denn gerade Paps hat von Diplomatie keinen blassen Schimmer. Alma hat gemeint, nur weil sie so diplomatisch sei, seien sie seit fünfundzwanzig Jahren glücklich verheiratet, Paps und sie.

Rick schielt zu mir herüber, lässt mich nicht aus dem Blick. Natürlich tue ich, als bemerke ich es nicht und fummle am Arm der Schreibtischlampe, blättere und lese weiter:

2. Februar 1974: Nach einer achtjährigen Verfolgungsjagd gelingt es Scotland Yard, den englischen Postzugräuber Ronald Biggs in Brasilien ausfindig zu machen.

3. Februar: Bei Erdarbeiten in Südfrankreich werden Eier von Dinosauriern mit 25 cm Durchmesser und sechs Kilogramm Gewicht entdeckt.

4. Februar: Die Polizei zerschlägt in Hamburg und Düsseldorf durch Großrazzien eine Nachfolgeorganisation der Baader-Meinhof-Gruppe.

5. Februar: Die Polizei durchsucht Wohnungen in vier verschiedenen Stadtteilen Westberlins nach Anarchisten.

5. Februar: Präsident Nixon friert die Dieselölpreise ein, um den Streik der selbständigen Überlandfahrer zu beenden, der die Versorgung der USA bedroht.

8. Februar: Die dritte Besatzung des Skylab-Raumlaboratoriums ist nach einem 84 Tage langen Raumflug um 16:17 Uhr MEZ zur Erde zurückgekehrt.

10. Februar: Knochenfunde in Abessinien weisen darauf hin, dass die Vorfahren des Menschen vor drei Millionen Jahren aufrecht gegangen sind.

10. Februar: Modeschöpfer und Journalisten wählen die Schauspielerin Marisa Berenson und den Diplomaten David Bruce zu den bestbekleideten Persönlichkeiten 1973.

11. Februar: Alexander Solschenizyn wird von sowjetischer Polizei in Haft genommen, nachdem er sich zum zweiten Mal geweigert hat, einer Vorladung der Staatsanwaltschaft nachzukommen.

12. Februar: Der Preis auf dem Goldmarkt erreicht mit 146

Dollar je Unze einen Höchststand.

12. Februar: Solschenizyn wird wegen Aktionen, die mit der sowjetischen Staatsbürgerschaft unvereinbar sind, aus der UdSSR ausgewiesen und ausgebürgert. Nach seiner Ankunft in Düsseldorf verbringt er einige Tage bei Heinrich Böll und reist anschließend in die Schweiz.

15. Februar: Der bulgarische Ministerrat schafft die vor drei Monaten eingeführte Fünftagewoche wieder ab, weil sie sich negativ auf die Wirtschaft ausgewirkt hat.

20. Februar: Die Schriftstellerin Friederike Mayröcker wird mit dem österreichischen Würdigungspreis für Literatur ausgezeichnet.

22. Februar: Radio Peking entlässt Mitarbeiter, die sich nicht aktiv genug an der Anti-Konfuzius-Kampagne beteiligt haben.

25. Februar: Die norwegische Marine entdeckt in einem Fjord eine automatische Spionagevorrichtung der UdSSR mit mehreren Radiosendern.

28. Februar: Das berühmte Picasso-Bild „Guernica“ wird im Museum of Modern Art mit roter Farbe beschmiert.

19.45 Uhr

Er ist eingeschlafen. Er schnarcht leise und sein rechter Arm zuckt. Seine Finger bewegen sich rhythmisch, als spielten sie Klavier. Abrupt hört das röchelnde Geräusch auf. Er räkelt sich und lässt sich von der Couch fallen. Er rafft sich auf und kommt steifbeinig zu mir an den Schreibtisch, er tut so, als habe er gerade einen Einfall. Er zieht die unterste Schublade auf, atmet scharf ein und aus.

Ich spüre seine Erregung; er lässt mich in die Schublade schauen. Ich erkenne, nach Jahreszahlen geordnete, weitere Notizbücher, ebenfalls schwarzglänzend. Das erste Buch beginnt 1968.

Er sagt: Wenn du Lust hast, darfst du alle lesen, es sind Nachrichten, die ich aus den unterschiedlichsten, internationalen Presseorganen zusammengetragen habe. Du siehst, ich arbeite schon seit Jahren an dem Projekt. Ich sage es nur, damit du weißt, wie ernst mir die Sache ist.

Er schiebt die Schublade wieder zu.

Ich nicke: Natürlich, ich lese deine tolle Chronik gern, wenn ich darf.

Ich finde, dass meine Antwort jetzt sehr diplomatisch war. Er scheint sich über mein Interesse zu freuen. Sicher braucht er eine Frau, die mit ihm gebildet diskutiert, überlege ich. Nur, bin ich das? Ich habe bisher lediglich ein bescheidenes Schulwissen und interessiere mich überhaupt nicht für Politik. Paps hat mich sogar einmal eine ignorante Ziege genannt, weil ich vergessen hatte, wie der schwedische Ministerpräsident heißt. Olaf Palme hat nämlich vor einem Jahr die USA verärgert, da er die Bombenangriffe auf Nordvietnam mit Nazimethoden verglichen hat. Ich habe Paps gefragt, was Olaf Palme damit gemeint habe und Paps hat geantwortet, Palme habe ja gar nicht so unrecht mit seinem Vergleich, er hätte sich nur diplomatischer ausdrücken müssen. Paps war also unergiebig wie immer. Und Alma meinte, dass Nazivergleiche grundsätzlich nicht gut seien.

 

Leise sage ich: Manchmal frage ich mich, was passiert alles in der Welt, während ich gerade eine Mathematikarbeit schreibe oder während ich schlafe? Was passiert anderswo, während ich in meinem Zimmer den Entwurf für einen neuen Hut zeichne? Diese Frage nach der Gleichzeitigkeit finde ich spannend. Zum Beispiel, was machen Paps und Alma, während wir hier sitzen und uns unterhalten?

Er fährt mich an: Donnerwetter, hör auf, ständig an deine Eltern zu denken!

Ich versuche zu erklären, dass es doch nur ein Beispiel sei: Ich denke nicht unentwegt an sie, aber ich kann sie auch nicht einfach vergessen. Vielleicht darf ich kurz anrufen und mitteilen, dass es mir gut geht? Was meinst du?

Scarlett, du telefonierst jetzt ganz bestimmt nicht!

Es stimmt ja, so kann ich mich nicht von meinem Elternhaus lösen, überlege ich. Aber ich habe mir das alles wirklich sehr viel einfacher vorgestellt. Ich habe keine Schwester und keinen Bruder, Paps und Alma sind seit achtzehn Jahren meine wichtigsten Menschen, auch wenn Paps ein schwieriger Fall ist. Und Alma ebenso.

Ich sage also besser nichts mehr. Vorläufig. Nach einer Weile kommt mir eine Idee und ich schlage vor, dass wir einen kleinen Spaziergang machen könnten, dabei könne er mir ausführlich über sein Buch erzählen.

Er korrigiert mich sofort, er ruft: Bücher, Scarlett! Es werden Bücher! Das Projekt wird mich Jahrzehnte beschäftigen!

Oh ja, natürlich, es werden viele Bücher, da bin ich sicher, sage ich rasch, aber heute könnten wir noch etwas anderes machen. Dass wir doch zum See gehen könnten, und wenn wir Glück hätten, dort vielleicht ein Boot fänden.

Rick, bitte, bei Dunkelheit auf dem See und nur die Sterne über uns, das ist doch wahnsinnig romantisch, versuche ich ihn für meinen Vorschlag zu begeistern.

Er winkt ab: Ja, ja, verstehe, die Sternlein, aber es ist zu kalt. Ich flehe: Das ist mir egal, wir nehmen unsere Jacken mit … Er macht ein abweisendes Gesicht.

… und danach gehen wir baden, sage ich. Baden? Wo denn?, fragt er entsetzt.

Na, in deiner Badewanne.

20. 50 Uhr

Als wir das Haus verlassen, halten wir uns wieder bei den Händen. Es hat aufgehört zu regnen; die Straße zum See schlängelt nass und völlig menschenleer durch den Ort. Gelbes Licht ruht hinter dicken Gardinen und elegante Autos parken vor Garageneinfahrten, ihr Lack glitzert unter Regentropfen. Ein Kugelschatten schießt vor unseren Füßen über die Straße, verschwindet hinter den breiten Reifen eines Sportwagens.

Ich locke: Komm, Mieze, komm!

Das ist eine Schweizer Katze, die versteht kein Hochdeutsch, erklärt Rick.

Wir lassen uns Zeit, schauen in akkurate Gärten, in denen sogar die Schatten wie mit Zirkel und Lineal gezogen sind. Tulpen salutieren. Der Mond zeigt sich schüchtern, lugt hinter einem Wolkenberg hervor. Lichtspeere schleudern aus dem Himmel, flitzen hinter Uferbäumen in den See.

Unsere Schritte schlurfen, knirschen, schleifen, stolpern, entlarven zwei Menschen, die einen gemeinsamen Rhythmus suchen. Wir überqueren das Bahngleis und einen Steg. Wir müssen unsere Hände lösen. Der Weg ist nicht mehr asphaltiert, ist steinig, eher wie grober Sand, der in unsere Schuhe hüpft und an den Füßen schrubbt; ich muss Steinchen ausleeren, klammere mich an Rick, wir schwanken, fangen uns, taumeln gemeinsam, liegen uns in den Armen, wiegen hin und her, schwimmen in einem Meer voller Sanftheit. Er schiebt mich zur Seite, zieht mich weiter, bis wir den großen, dunklen See erreichen. In mir ist alles weich und selig, es kommt mir vor, als flüstere das Wasser, ich verstehe: Schaschlik, Schaschlik …

Sehr leise wiederhole ich: Schaschlik, Sch … Rick fährt auf: Wie bitte?

Schaschlik!

Er knurrt: Kindskopf du!

Das Ruderboot liegt im Wasser, sein Bug reibt sich am Sand des Ufers. Es ist bei Weitem nicht so prachtvoll wie der Kahn aus meinen Träumen, aber es muss für heute Abend reichen. Die Riemen stecken noch in den Halterungen, reiben an der Bootswand, ächzen, als wir das Seil vom Pflock lösen und in den schwankenden Bottich steigen. Wir richten uns darin ein und Rick rudert mit kurzen, kräftigen Zügen los.

Ich finde ihn gigantisch, wie er so kraftstrotzend auf der Ruderbank sitzt, über sich den Olymp. Seine Arme werden länger und länger, tauchen rechts und links ins Wasser. Unser Boot ist leicht zu manövrieren, es kennt sich aus. Das Wasser zeigt Streifen und Kräusel, macht Glucker-Geräusche, die mich an Almas Waschmaschine erinnern. Feuchtigkeit kriecht aus der Bootswand, Nebelfetzen fliegen, lösen sich auf oder wachsen zu lockeren, runden Formen. Wir schweben dahin, wir treiben, wir verlieren die Richtung. Gebannt schaue ich ins Wasser, sehe menschenähnliche Wesen mit Glitzerschwänzen. Vielleicht Poseidon, der auch noch unterwegs ist, stelle ich mir gerade vor, als Rick fragt: Kennst du eigentlich die Geschichte von Felix und Regula?

Ich schüttele den Kopf und denke: Regula, was für ein Name! Ich sage: Regula klingt beinahe so schlimm wie Ruhpold. Felix gefällt mir schon eher.

Er übergeht meine Bemerkung, ich spüre, dass er mir die Geschichte jetzt sofort und unbedingt erzählen will. Er räuspert sich und legt los: Der römische Kaiser Marcus Aurelius Valerius Maximinus war von 286 bis 305 zusammen mit Diokletian Kaiser des Römischen Reichs.

Rick macht eine Pause, schnäuzt die Nase zwischen den Fingern und fährt dann fort: Maximinus konnte einige wichtige militärische Erfolge erzielen, zum Beispiel gegen die Alamannen und Burgunden am Rhein und gegen die Karpen an der Donau. Maximinus kam auch ins Wallis und ließ dort viele Menschen wegen ihres christlichen Glaubens hinrichten. Im Wallis lebten zu der Zeit das Geschwisterpaar Felix und Regula und viele ihrer christlichen Freunde. Die Römer wurden von Mauritius angeführt, der hatte Mitleid mit Felix und Regula und ihren Gefährten und riet ihnen, das Wallis schleunigst zu verlassen. Die Geschwister und ihre Freunde flohen über die Furka durch das Urnerland bis nach Glarus und folgten dem Zürichsee bis zum Lindimacus; du weißt bestimmt, heute heißt er Limmat. Und am Limmatufer, wo heute die Wasserkirche steht, bauten sich die Flüchtlinge eine kleine Hütte. Sie beteten und fasteten, verkündeten das Wort Gottes und waren bald bekannt für ihre guten Taten. Doch Maximinus stöberte die Geschwister auf, seine Schergen kamen an einem Mittag, als Felix und Regula gerade am Brunnen saßen und beteten. Gott konnte natürlich nicht zulassen, dass die Geschwister ermordet wurden und ließ rasch die Schergen erblinden. Eigentlich wären Regula und Felix somit gerettet gewesen, jedoch, sie stellten sich ihren Verfolgern, blieben aber nun erst recht bei ihrem christlichen Glauben, dachten nicht daran, Jupiter oder Merkur anzubeten. Also nahm man sie gefangen und es folgte eine scheußliche Folge von Foltern. Man kochte sie in Öl, flocht sie auf ein Rad, schleppte sie schließlich zum Limmatufer, wo man ihnen die Köpfe abschlug. Da passierte das Ungeheuerliche! Die toten Körper standen auf, nahmen ihre Köpfe und liefen los. Es hieß, sie seien bergauf gelaufen bis zu dem Ort, wo man ihre Gräber ausgehoben hatte. Ohne fremde Hilfe legten sie sich hinein und fanden endlich Ruhe.

Er hält inne.

Ich starre ihn an.

Was für ein hässliches Märchen!, stoße ich hervor.

Es ist mir bekannt, dass man Menschen früher wegen ihres Glaubens bestialisch gefoltert hat, aber die Sache mit dem siedenden Öl ist so grausam, dass ich nicht länger zuhören kann. Warum nur muss er unsere nächtliche Bootsfahrt mit dieser furchtbaren Geschichte kaputtmachen? Menschen in Öl zu kochen, wie barbarisch! Alma wirft Hefeteigbällchen in heißes Fett und füllt sie mit Marmelade. Jedes Mal schreit sie, dass ich nicht in die Küche kommen soll, weil mir Fett ins Gesicht spritzen könnte.

Er scheint mein Entsetzen nicht zu bemerken und meint, dass es zwei verschiedene Auslegungen gäbe, das sei ja klar, denn es gäbe immer verschiedene Gruppierungen, die sich um einen heiligen Ort streiten, so auch hier. Aber der Verfasser der Legende um Regula und Felix könne die Stelle, an der die beiden begraben sein sollen, ganz exakt beschreiben, und zwar vom Ort ihrer Hinrichtung auf der Wasserkircheninsel 40 Ellen bergaufwärts und dann 200 Ellen vom Kastell entfernt. Diese Beschreibung passe genau zum Großmünsterhügel, auf dem heute noch das Grab der Heiligen verehrt werde. Allerdings wisse man nicht, welcher Vorgängerbau des Großmünsters gemeint war. Na ja, da würde es ziemlich ungenau, meint Rick eifrig.

Empört schreie ich: Ungenau, pah, das hoffe ich doch sehr, alles ungenau, deine blöde Legende, alles erfunden, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Niemals würde ich mich für meinen Glauben foltern lassen!

Auch nicht für einen Menschen, den du liebst?, fragt er.

Nein! Verdammt, hör auf, das ist doch der blanke Wahnsinn! Fragen dieser Art hasse ich!

Rick schaut mich durchdringend an und wie sein Gesicht so aus der Dunkelheit heraus leuchtet, kommt es mir vor, als hätte ich ihn zuvor noch nie gesehen.

Scarlett, wir sollten umkehren, sagt er.

Vorsichtig krieche ich zu ihm. Das Boot reagiert erschreckt. Ich hocke mich zwischen seine Beine, versuche das Schwanken auszugleichen, reiche ihm Gesicht und Mund. Er stöhnt. Ich mag sein Stöhnen. Jetzt ist alles wieder gut, er ist es, denke ich, aber warum sind die Dinge so kompliziert mit ihm? Unser Boot liegt ganz still, ruht auf dem schwarzen Spiegel, in dem sich Wolken tummeln. Ich muss an Regula und Felix denken, sehe sie nackt in siedendem Öl schwimmen und schreien. Mein Nacken schmerzt. Ich löse mich von Rick. Er flüstert: Du bist die erste Frau, für die ich etwas empfinde. Glaube ich nicht!, rufe ich lachend.

Doch. Ich bin fest entschlossen, nur eine einzige Frau in meinem Leben zu lieben. Für diese Frau habe ich mich aufgehoben, ich habe mich nie beschmutzt. Solltest du diese eine Frau sein, sollte es sich wirklich herausstellen, dass du es bist, dann soll dich der Teufel holen, wenn du mich verlässt.

Du bist verrückt!, flüstere ich.

Er seufzt und meint, dass er auch glaube, dass er verrückt sei, dass er aber nicht anders könne, er sei eben so, er sei schon immer auf dem Weg zum Verrücktsein gewesen. Für ihn sei das Verrückte das Geniale. Wäre er nicht verrückt, also genial, dann wäre er normal, sagt er. Und normal zu sein, sei nun wirklich nicht erstrebenswert.

Normal, das ist tot, das ist schlimmer als tot, normal ist nichts, einfach nichts, nicht einmal tot, murmelt er so leise, dass ich ihn fast nicht mehr höre, ihn aber doch höre, nur nicht verstehe, weil er mir so genial gar nicht vorkommt. Aber normal auch nicht.

Dass er mir den Goldring geschenkt habe, das sei auch ziemlich verrückt, sage ich und will wissen, wieso er mir den unbedingt schenken musste, warum es für ihn so wichtig sei, dass ich von ihm einen Ring trüge.

Rick, ehrlich, ich brauche keinen Ring, der ist zu früh und außerdem …, nicht mehr modern, sage ich.

Er lächelt mühsam: Du musst ihn nicht tragen, aber du wirst ihn behalten, das weiß ich. Und wenn ich längst nicht mehr auf dieser Welt bin, der Ring wird immer noch da sein und dich an mich erinnern, wird dich an den verrückten Mann erinnern, der dir unglücklicherweise über den Weg gelaufen ist. Ich sage: Was redest du nur für schreckliches Zeug! Lass uns doch froh sein, dass wir endlich zusammen sind. Stattdessen ängstigst du mich und erzählst Foltergeschichten oder denkst darüber nach, dass du eines Tages tot bist. Wir alle sind eines Tages tot, es ist eben so, dass wir sterben müssen, aber bitte, sei doch nicht heute schon so schwer.

Oh ja, er sei ein ganz schwerer Junge, sagt er, es stimme leider. Er werde von Jahr zu Jahr schwerer, in ihm sei sehr viel Dunkelheit.

Und dann sagt er noch: Meine Schwermut erschreckt mich, hält mich gefangen, als dürfe ich nicht ich sein. Ich klebe an mir selbst und komme nicht los. Manchmal ist mir das Leben geradezu gleichgültig.

Er macht eine Pause, blickt bekümmert.

Vielleicht möchte er noch mehr sagen, aber er kann nicht, denke ich.

Doch plötzlich wird er lebhaft, richtet sich auf, hebt den Blick: Du tust mir gut Scarlett, du bist jung und rein, so positiv, so zuversichtlich, ich merke, wie du mich mitreißt!

Er spielt mit einer meiner nassen Strähnen. Er ist ganz nah. Ich habe Sehnsucht nach seinem Mund. Er dreht an meiner Haarlocke, wird heftig: Scarlett, bitte, vergiss sofort, was ich gesagt habe! Verstanden? Wir müssen zurück, wir haben uns weiter herausgewagt, als wir sollten. Es ist gefährlich hier, der See nagt an uns.

 

Ich rutsche wieder auf meinen Platz und ziehe die Beine an, ich hocke im Bootsspitz und kann mein Zittern nicht verbergen. Er packt die Riemen und macht Tempo. Das Boot teilt das Wasser, Wolkenberge kippen in die Tiefe, sehen aus wie Abziehbilder der Alpen.

Ich sage leise: Schau, die Alpen ersaufen und wir sind die einzigen Zeugen.

Er hört nicht, was ich sage, er rudert heftig, er achtet nicht auf mich. Das Wasser japst Schaschlik, Schaschlik … und hört nicht auf. Der Kahn eilt durch die Nacht, die Ruderblätter peitschen hinterher. Ricks Füße stemmen sich gegen das Fußbrettchen. Nicht weit von uns tanzt ein Scheinwerferlicht. Wir sind wieder am Ufer angekommen. Die Luft ist lauer, das Wasser seichter, unser Boot kratzt über Steinbrocken und Sandhügel. Er springt heraus, steht im Wasser, reicht mir die Hand.

Er sagt: Komm schnell, ich friere!

Er packt mich an der Schulter: Aber jetzt weißt du’s!

Ich würde gerne ein Bad nehmen, zusammen mit ihm. Ich möchte mit ihm in einer Wanne sitzen. Warmes Wasser, Schaum, Kerzen, Musik und Champagner, wie in einem Hollywoodfilm. Auch wenn das alte Badezimmer gewöhnungsbedürftig ist, die gesprungenen Kacheln, der abgenützte Boden, die schäbig grüne Deckenfarbe; ich bin bereit, das alte Zeug zu übersehen und Champagner muss es auch nicht sein.

Paps und Alma baden nie zusammen, aber die sind schon über fünfzig, Paps in zwei Jahren sechzig, für ein gemeinsames Bad vielleicht zu alt. Ob sich Rick auch zu alt fühlt? Er will jedenfalls nicht und richtet mir die Schlafcouch im Wohnzimmer, zieht frische Bettwäsche über das Plumeau, stopft die Zipfel des Betttuchs unter die Matratze.

Wie bei Alma, denke ich. Auch Alma bügelt die Bettwäsche sorgfältig und sogar die Knopfleisten sind glatt.

Er strafft das Leintuch bis es vor Spannung beinahe reißt. Schau, ein Trampolin, flachse ich und lasse mich hineinfallen.

Du bist albern, sagt er.

Ich ziehe ihn kurzerhand zu mir auf die Matratze: Meinst du, dass wir genügend Platz haben, um auf dieser elenden Pritsche bequem schlafen zu können?

Du wirst herrlich schlafen, das ist ein sehr stabiles Mehrzweck-Sofa, antwortet er.

Wie bitte? Du willst sagen, ich schlafe hier ohne dich?, pruste ich los.

Natürlich, ich schlafe nebenan. Im Bunker gibt es ein schönes Notbett, in dem Ribello gerne schläft, wenn er mich besucht, erklärt er.

Im Bunker?, frage ich und er fragt unwirsch: Warum denn nicht?

Das klingt irgendwie schrecklich, sage ich.

Er meint, dass Ribello sich noch nie beschwert habe.

Ich erkläre, die Idee, allein in einem Bunker zu schlafen, fände ich abartig, schon die Vorstellung.

Der Schutzraum würde nicht mehr gebraucht und die Alte habe ihn zur Verfügung gestellt, meint er seelenruhig, auch Ribello sei begeistert gewesen, darin sei es wenigstens ruhig. Man könne hervorragend meditieren.

Empört schreie ich: Ja, ruhig, wie in der Gruft von Regula und Felix!

Blödsinn!, faucht er genervt. Und jetzt geh‘ bitte ins Bett, ich gebe dir einen Schlafanzug, hier! Der ist ein bisschen weit und zu lang, aber er wird seinen Zweck erfüllen, vorläufig.

Und dann sagt er auch noch, dass er die Bunkertüre angelehnt ließe und dass ich ihn am nächsten Morgen wecken dürfe.

Ich fahre ihn an: Was? Spinnst du?

Er ignoriert meinen Aufruhr und drückt mir eine riesige, gestreifte Hose und ein hässliches Oberteil in die Hände.

In dieser Scheußlichkeit schlafe ich nicht, ich mag keinen Schlafanzug, ich gehe in Hemd und Höschen ins Bett. Ich bleibe sowieso nicht hier, ein Schlafanzug lohnt nicht. Ich fahre morgen früh, erkläre ich wütend.

Wohin?

Das habe ich doch schon gesagt, nach Düsseldorf! Das werden wir dann sehen.

Das werden wir dann sehen, äffe ich ihn nach. Nichts werden wir dann sehen, es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass ich morgen früh fahre. Ich will diesen Ausbildungsplatz! Und nur wer zuerst kommt, hat eine Chance, sage ich nach Luft schnappend und dass ich die Erste sein werde.

Als er nicht antwortet und so tut, als habe er mich nicht verstanden, kreische ich noch einmal: Ich werde die erste Bewerberin sein! Geht das in deinen Kopf, Richard Storm?

Er dreht sich einfach um, geht zur Tür und sagt: Gute Nacht, träum was Schönes! Und morgen früh weckst du mich mit einem Kuss, ja? Ich freue mich jetzt schon.

Tränen laufen mir übers Gesicht, ich schluchze, dass ich mir unseren ersten, gemeinsamen Abend anders vorgestellt hätte. Und er meint, dass ich geduldig sein solle, es gäbe noch viele schöne Abende in unserer Beziehung.

Ich muss sofort mit Alma telefonieren, denke ich. Sie wird verlangen, dass ich meine Siebensachen packen und nach Hause kommen soll. Aber nach Hause zu fahren, das ist auch keine Lösung, ich will nicht wieder zu Alma und Paps.

Paps quält mich garantiert mit dem blöden Pharmaziestudium: Scarlett, du wirst Apothekerin!

Und wenn ich Nein sage, dann streitet er mit Alma und fordert, sie solle mich gefälligst zur Vernunft bringen.

Nein!, rufe ich.

Was ist?, fragt Rick.

Nichts. Ich habe mit mir selbst gesprochen.

Er schüttelt verwundert den Kopf. Wie er so dasteht, tut er mir leid; dass ich so heftig war, tut mir auch leid. Ich bitte also, ob ich noch ein bisschen in seinen komischen Notizbüchern lesen dürfe.

Warm und zärtlich sagt er: Gute Nacht, kleine Hexe. Du bist wunderbar!

Danach geht er ins Bad, ich höre ihn pinkeln. Er löscht das Oberlicht, schließt leise die Tür. Ich bin allein.

Ich heule ins Kissen. Reste meiner Wimperntusche hinterlassen Spuren. Wo bin ich gelandet? So habe ich mir das alles nicht vorgestellt. Aber ich kann nicht sagen, was ich mir eigentlich vorgestellt habe. Schuld sind vermutlich wieder einmal meine blöden Träume, in denen ich mir Rick als Märchenprinzen zusammengebastelt habe. Weniger als ein Prinz konnte es ja nicht sein, ein Schlagersänger hätte es vielleicht auch getan, denke ich. Ich bin wütend auf mich selbst. Alma hat mich immer gewarnt, ich solle nicht so versponnen durch die Welt laufen. Sie hat natürlich gewusst, dass es keine Prinzen gibt. Ihr sei noch nie einer begegnet, in über fünfzig Jahren nicht, hat sie gesagt. Und wenn einer käme, dann wäre das äußerst verdächtig, es könne sich allenfalls um einen Faschingsprinzen, eine ganz besonders schlimme Spezies, handeln, hat Alma gemeint. Faschingsprinzen seien in der Regel Friseure oder Bierbrauer, es liefen etliche unerwünschte Friseur- und Brauereikinderchen herum, oder auch nicht, wenn man sie nämlich abgetrieben habe.

Also hat Alma in ihrer Auffassung von ordentlichem Leben und sittsamer Liebe, wieder einmal recht behalten, denke ich, auch wenn sie mir mit ihrer Spießigkeit auf die Nerven geht und vor allem ihre Angepasstheit Paps gegenüber in meinen Augen eine Jahrhundertkatastrophe ist. Alma sagt, sie wolle nicht zu den modernen, auf Teufel komm raus emanzipierten Frauen, die jetzt überall auftauchen, gehören, das ging mit diesem Mann nun mal nicht. Er habe eine zuverlässige, liebevolle Gattin und Hausfrau gesucht und in ihr, Alma, habe er sie gefunden; sie sei schließlich von Anfang an mit dieser Vereinbarung einverstanden gewesen.

Ich glaube, Alma ist irgendwo in den Fünfzigern hängen geblieben, von denen sie noch heute schwärmt und die sie als ihre persönlichen Aufbaujahre bezeichnet, in denen sie über jede bescheidene Neuanschaffung glücklich gewesen sei, wie sie sagt. In ihrer Welt und ihrem Verständnis von soliden Werten, lebt sie noch immer, heule ich los, weil ich jetzt am liebsten bei ihr wäre, wenigstens heute Abend.

Auf gar keinen Fall werde ich in diesem fremden Bett einschlafen, ich werde nicht so tun, als sei ich hier zu Hause. Eines ist sicher, ich werde in den Zug um acht Uhr in der Früh einsteigen. Ich lasse mich nicht aufhalten, von niemandem, jetzt erst recht nicht, denke ich wütend.

Also trockne ich die Tränen, schlucke den Rotz und knipse die kleine Lampe neben dem Bett an.

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