Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton

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3
MANJAROS AUFTRAG

AM NÄCHSTEN TAG HATTE ICH KEINE ZEIT nachzudenken über das, was Manjaro gesagt hatte. Ein Junge aus meinem Jahrgang wurde beim Skunk ticken in der Bibliothek erwischt. Tavari Wilkins hieß er. Genau genommen hatte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Ich meine, was hat er sich eigentlich dabei gedacht, den Shit in der Bibliothek zu verkaufen, wo Mrs Parfitt mit ihren Google-Maps-Augen über alle Anwesenden wachte? Er kam aus North Crongton, wo sie immer die ganzen Alleinerziehenden, Asylsucher und Flüchtlinge hinstecken; meine Schwester meinte, wenn die ihr da eine Wohnung anbieten, nimmt sie sie nicht.

Als McKay, Jonah und ich aus der Schule kamen, fragte Jonah: »Und was wird jetzt aus Tavari?«

»Die Bullen vernehmen ihn«, sagte McKay. »Die bringen ihn auf die Wache, verprügeln ihn zu zehnt und zwingen ihn, den Shit nicht mehr für sich selbst, sondern für sie zu dealen.«

»So was machen die Bullen?«, staunte Jonah.

»Glaub mir, wenn er über sechzehn wäre, würden die noch viel Schlimmeres machen. Die würden ihn mit einem Holzhammer vergewaltigen, ihm eine Spritze setzen, eine Niere rausnehmen und sagen: ›Du kriegst deine Niere erst wieder, wenn du uns verrätst, woher du die Drogen hast.‹ «

»Ist das nicht ein bisschen zu Hollywood?«, fragte ich.

»Was willst du sagen, Bit?«, legte sich McKay mit mir an. »Was weißt du denn schon? Die Bullen kommen mit allem durch. Guck dir doch an, wie die den Bruder auf der Northside abgeknallt haben, mit einer Bazooka …«

»Er wurde erschossen«, behauptete ich.

»Das wollen sie dir in den Nachrichten so verkaufen«, beharrte McKay. »Der Bruder wurde mit einer Panzerbüchse kaltgemacht. So wie die, die sie in Afghanistan verwenden. Der hatte Brocken von der Straße, Autoblech, Motorteile und Reifengummi in der Fresse. In der Straße ist ein Krater. Die Bullen können sich jeden Scheiß erlauben.«

»Stimmt«, sagte Jonah. »Meine Schwester hat mir erzählt, ihren Freund haben sie in einem Secondhandladen festgehalten und durchsucht.«

»Deine Schwester hat einen Freund?«, fragte ich.

»Ja«, bestätigte Jonah. »Geht aufs Crongton College, spielt Basketball. Krass definierte Armmuskeln und ein irre kahl rasierter Schädel.«

Mir rutschte das Herz in die Hose, und plötzlich hatte ich ein ganz komisches Gefühl im Bauch. Wieso ich gedacht hatte, dass ich jemals bei Heather eine Chance haben könnte, weiß ich nicht.

Wir gingen weiter zum Laden an der Ecke. Wie immer standen dort Leute Schlange, um ihre Strom- und Gaskarten aufzuladen. McKay kaufte ein Twix, ein Mars und eine Cola, Jonah eine Packung Custard Creams, und ich bekam gerade genug Kleingeld für ein Twirl zusammen. Wir kamen aus dem Laden und futterten. Ich schlug meine Zähne in mein Twirl, schaute hoch und sah Manjaro und seine Crew auf uns zuradeln. Scheiße!, dachte ich. Ich hätte nie geglaubt, Manjaro mal auf einem Fahrrad zu sehen. Er hatte noch dasselbe blaue T-Shirt an. Die anderen beiden trugen blaue Basecaps. Die schlafende Babyschlange an seinem Hals war heute dünner. Lässig versuchte ich mich umzudrehen, aber er hatte mich schon entdeckt.

Bevor ich wusste, was los war, hatte Jonah die Beine in die Hand genommen und war wie ein Jamaikaner, der dringend pissen muss, zu unserem Block gerast. McKay verzog sich wieder in den Laden und ich blieb alleine mit Manjaro stehen. Er wusste, dass ich ihn gesehen hatte, also konnte ich nicht einfach so tun, wie wenn nicht. Sein Mountainbike kam quietschend vor mir zum Stehen. »Kleiner!«, grüßte er mich.

»Was geht, Manjaro?« Ich versuchte, cooler und älter zu klingen, als ich war, aber mein Herz pumpte wie das eines Pudels, kurz bevor ihn der Tiger zerfleischt.

»Kommst du gerade aus der Schule?«, fragte er.

»Ja.« Es ist Viertel vor vier und ich hab meine Schuluniform an. Blöde Frage, dachte ich.

»Zeitverschwendung, Bro«, meinte Manjaro. Er stieg vom Rad und kam auf mich zu. »Du machst, was die von dir wollen.«

»Hä?«

»Um in dieser Welt zu überleben«, erklärte Manjaro. »Die wollen, dass du in die Schule gehst, danach auf die Uni, und zum Schluss sollst du dir einen Job suchen, damit sie Steuern von dir kassieren können. Die interessieren sich einen Scheiß für dich, es sei denn, sie bekommen kein Geld von dir.«

Ich sagte nichts.

»Tu mir einen Gefallen, Kleiner«, bat Manjaro.

»Was für einen?«, fragte ich.

»Geh in den Laden und kauf mir drei Choc-Nut-Eis.«

Ich war noch am Überlegen, als Manjaro schon eine dicke Brieftasche hinten aus der Jeans zog. Kam mir nicht real vor – der OG aus unserem Viertel wollte ein Eis am Stiel? Er zog einen Zwanziger raus und gab ihn mir. Der Schein war frisch und nagelneu. Ich konnte ihn fast riechen.

»Drei Mal Choc-Nut«, wiederholte Manjaro. »Und wenn du willst, auch eins für dich.«

Manjaros zwei Freunde sahen einander an und lachten. Ich ging in den Laden. McKay war immer noch drin, blätterte in einer Fußballzeitschrift. »Ich höre zu und behalte alles im Blick, Bro«, flüsterte er.

»Danke für die Rückendeckung!«, sagte ich.

»Kauf das Eis, und dann verziehst du dich.«

»Das war mein Plan.«

»Wenn du dir auch eins holst, gibst du mir die Hälfte ab?«

»Nein! Lies lieber weiter den Scheiß über Cristiano Ronaldo!«

Ich ging wieder raus und gab Manjaro seine Choc-Nuts. Seine beiden Brüder waren immer noch am Kichern. Durch sie kam ich mir noch kleiner vor, als ich sowieso schon war. Wenn ich größer und älter gewesen wäre, hätte ich ihnen eine reingehauen. Oder mir gewünscht, dass ich ihnen eine hätte reinhauen können. Ich ging rüber, wollte Manjaro den Zehnpfundschein und das Kleingeld zurückgeben.

»Behalt’s«, sagte er.

»Was?«

»Kannst es behalten. Und du musst nicht mal Steuern dafür zahlen. Ich bin weg!«

Manjaro und seine Brüder eierten einhändig die Straße runter, leckten ihr Eis am Stiel. Ich hoffte, sie würden das Gleichgewicht verlieren und die kalten Köstlichkeiten fallen lassen.

Ich starrte den Zehnpfundschein an wie einen Gold-Nugget im Stummfilm. Davon könnte ich mir einen echt geilen Haarschnitt organisieren, dachte ich. Oder lieber eine neue Cap kaufen? Oder es beiseitelegen für ein paar neue Sneaker? Bevor mir noch mehr Verwendungsmöglichkeiten einfielen, spürte ich McKays große rechte Hand auf meiner Schulter. »Kaufst du mir ein Eis?« Er grinste. »Werd bloß nicht knausrig. Du weißt, dass ich dasselbe für dich tun würde.«

»Würdest du nicht«, sagte ich.

»Bruder!«, protestierte McKay. »Wie kannst du so schlecht über mich sprechen? Wenn meine Großmutter an einem heißen Sommertag in ihrer Wohnung im neunundneunzigsten Stock verdursten würde, ich würde dir trotzdem erst mal ein Eis kaufen, bevor ich nach ihr sehe. Das weißt du!«

McKays Großmutter wohnte im dritten Stock in einem Block gegenüber. Ich kaufte McKay ein Eis, nur damit er die Klappe hielt, und steckte das Wechselgeld ein. Als ich mich auf den Weg zu meinem Block machte, erklärte mir McKay, ich sei sein bester Freund, aber ich hatte auch schon mal gehört, wie er es zu Jonah gesagt hatte, als der ihm was gekauft hatte.

Ich ging die Stufen hoch und hörte plötzlich eine vertraute Stimme von oben. Mein Dad. Aber es war Mittwoch. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich Dad das letzte Mal an einem Mittwoch gesehen hatte, dem Tag, an dem Mum ihren freien Nachmittag hatte. Ich wartete auf dem Treppenabsatz unter meinen Eltern.

»Also, was stehst du mit deinem nutzlosen Arsch vor meiner Tür?«, fuhr ihn Mum an.

»Ich will meine Kinder besuchen«, erwiderte Dad. »Und meinen Enkel. Hab ihn eine ganze Weile nicht gesehen.«

»Verzieh dich mit deiner traurigen Existenz, Mann!« Mum hob die Stimme. »Ich will nicht, dass du ihnen Flöhe in die Ohren setzt. Du versprichst, dass du kommst, und dann lässt du dich nicht blicken, und plötzlich stehst du mit deinen dreckigen Füßen hier auf der Matte. Du hast die beiden schon viel zu oft enttäuscht.«

»Aber ich hab’s erklärt«, flehte Dad. »Stefanie war krank. Wir mussten sie ins Krankenhaus bringen …«

»Bevor du mit dieser Frau gefickt hast, hattest du hier Kinder. Und die hast du immer noch, aber du enttäuschst sie andauernd, also schieb deinen nutzlosen Arsch aus der Bahn und geh zurück zu deiner dreckigen Schlampe …«

»Sie hat einen Namen.«

»Genau, den hat sie, und ich hab sie gerade bei ihrem Namen genannt! Hast du mir meine Alimente mitgebracht?«

Langes Schweigen. »Nein. Nein, es war sehr schwierig, als Shirley nicht arbeiten konnte. Sie musste sich um Stefanie kümmern, weißt du …« Wieder Pause. »Ich will nur wissen, ob Elaine und Lemar zu Hause sind. Mich ein paar Minuten mit ihnen unterhalten, meinen Enkel sehen und ihnen erklären, was passiert ist …«

»Elaine und Lemar sind nicht da!«

»Ich bin hier, Mum«, sagte ich und kam die Treppe hoch. Ich wollte nicht, dass sie Dad verjagte, bevor ich mit ihm geredet hatte.

Er sah mich erstaunt an und grinste irgendwie ein bisschen. Über seinem Paketauslieferer-Pulli trug er eine Jeansjacke. Ich sah Mum am Gesichtsausdruck an, dass ihr mein Timing nicht gefiel. Ganz und gar nicht. »Lemar, mach, dass du reinkommst. Du hast bestimmt Hausaufgaben, um die du dich kümmern musst.«

Ich warf Dad einen Blick zu und grinste andeutungsweise im Vorbeigehen. »Hi, Dad«, grüßte ich. Eigentlich hätte ich ihn gerne gefragt, wie’s Stefanie ging, aber ich wollte Mum nicht ärgern. Nicht wenn sie ihr Ich-bin-im-Krieg-Gesicht machte.

Dad wirkte ganz schön gestresst um die Augen. »Was geht, Lemar?«

 

»Alles wie immer«, erwiderte ich. »Nur …«

»Mach, dass du reinkommst verdammt!«, befahl Mum. Sie verschränkte die Arme und ich wusste, dass sie mir den Fernseher aus dem Zimmer holen würde, so ernst war’s ihr. Ich spürte den Luftzug, als sie hinter mir die Tür zuschlug. Wenig später hörte ich laute Stimmen.

Der Geruch nach Makkaroni-Käse-Auflauf stieg mir in die Nase und ich fand Gran in der Küche, wie sie gerade in den Ofen schaute. »Sieht gut aus.« Sie lächelte mich an, richtete sich auf. »Kleiner, mach dir keine Sorgen, weil deine Mutter und dein Vater streiten. Das machen sie nur, weil sie dich lieb haben.«

»Wo ist Elaine?«, fragte ich.

»Oh, die ist mit Jerome los, eine Freundin besuchen.«

Gran konnte nichts tun, damit es mir besser ging. Konnte sie nie, wenn Mum und Dad stritten. Sie fing an, ihren Lieblingssong von Bob Marley zu singen. »Don’t worry about a thing, cos every liccle thing, is gonna be all right!« Sie lächelte mich voller Hoffnung an und ich zwang mich, ihr Lächeln zu erwidern. Ich wünschte, ich hätte behaupten können, dass es mir durch Grans Song besser ging, aber ich hatte ihn viel zu oft gehört und inzwischen war ich auch schon zu alt dafür.

Ich ging in mein Zimmer und warf meinen Rucksack aufs Bett. Dann betrachtete ich den Druck eines Gemäldes von L. S. Lowry, auf dem Männer und Frauen vor riesigen Fabriken und Schornsteinen zu sehen waren. Dad hatte ihn mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt, und jetzt hing er über meinem Bett. Stefanie war meine fünfjährige Halbschwester, und seit ihrer Geburt hatte sie immer wieder zum Arzt gemusst. Dad hatte nie richtig erklärt, was ihr fehlte, aber anscheinend stimmte was nicht mit ihrem Blut.

Dad hatte Mum verlassen, als ich sieben Jahre alt war. Mum hat ihm nie verziehen, dass er sie sitzen gelassen hat und zu Shirley, Stefanies Mum, gezogen war. Mum und er waren schon lange befreundet gewesen und sogar zusammen zur Schule gegangen. Bis ich auf die weiterführende Schule kam, hatte ich Dad ganz lange nicht gesehen. Ich glaube, er hatte Schiss, uns zu besuchen, aber Elaine ist heimlich zu ihm hin und hat sich bei Shirley zu Hause mit ihm getroffen. Wenn Mum das mitbekommen hätte, hätte sie Elaine an einen Buggy und einen Hochstuhl gefesselt und über die Balkonbrüstung geworfen. Dad fing erst ungefähr vor einem Jahr an, uns wieder zu besuchen, ungefähr zu der Zeit, als Stefanie zum ersten Mal ins Krankenhaus musste. Erst hat Mum fürchterlich geschimpft, aber dann war sie damit einverstanden, dass Dad mich jeden zweiten Samstag abholte. Wenn er mich zu spät abgeliefert hatte, schimpfte Mum so lange mit ihm, bis er wieder in seinem Transporter saß. Mum gab mir zwei Anweisungen, an die ich mich zu halten hatte, wenn Dad was mit mir unternahm. Erstens durfte ich niemals »Mum« zu Shirley sagen und zweitens nach meiner Rückkehr auf keinen Fall Stefanie erwähnen. Dad und ich waren uns mit der Zeit wieder nähergekommen, aber jetzt hatte er schon seit Monaten nichts mehr mit mir gemacht. Nur das Bild zu meinem letzten Geburtstag geschickt. Meine Familie hatte einwandfrei alles, was man für einen Auftritt in der Sendung von Jeremy Kyle brauchte, ein bisschen wunderte es mich, dass uns die Produzenten noch nicht viel Geld geboten und eingeladen hatten.

Als ich auf dem Bett lag, hörte ich die Wohnungstür knallen und danach Stimmen in der Küche. Ich ging ans Fenster und lehnte mich raus, schaute auf den Parkplatz unten. Ich sah Dad in seinen Transporter steigen und alleine wegfahren. Ich fragte mich, ob er sich in diesem Moment genauso schlecht fühlte wie ich.

4
EIN ECHTER GANGSTA FRAGT IMMER ZWEIMAL

AM NÄCHSTEN SAMSTAG SPIELTEN JONAH UND ICH God of War bei McKay auf der Playstation 3. Wie immer verlor ich, aber ich war gut drauf, weil McKays Dad uns einen Eimer voll Chickenwings mit Pommes gekauft hatte. Wir spülten alles mit zwei Flaschen kalter Cola runter und hatten danach eine Wagenladung voll Energie, die wir irgendwie wieder loswerden mussten. Wir gingen in den Park zwischen North und South Crongton, um ein bisschen zu chillen und den Älteren beim Fußball zuzusehen. Manchmal hingen da auch ein paar Mädchen rum, also machte ich mich locker und ging, als würde mir halb New York gehören. McKay und Jonah lachten mich aus, war mir aber egal.

Es war ein schöner Tag, warm genug, sodass man nur im T-Shirt rumlaufen konnte. Im Park trugen die meisten Brüder blaue Oberteile und Schweißbänder – das Standard-Outfit von South Crong. Die North Crongs auf der anderen Seite des Parks spielten auch Fußball, aber in Schwarz. Hinter ihnen ragten die Bäume von Gully Wood auf. Da unten hin würde sich nur ein besonders tapferer oder bescheuerter South Crong trauen. Zu gefährlich. Der Crongton teilte den Wald, schlängelte sich mal so und mal so rum, die letzte Leiche von einem aus dem Viertel wurde dort gefunden. Am liebsten hätte ich das Niemandsland gezeichnet, aber was hätten die North Crong Brüder von mir, meinen Bleistiften und dem Din-A3-Skizzenblock gehalten?

Der, den sie umgebracht hatten, war ein North Crong gewesen. Die Bullen hatten ihn mit dem Gesicht nach unten im Wasser gefunden, die Hälfte von der Nase war ab. McKay behauptete, dass Manjaro ihm die verkorkste Schönheitsoperation verpasst hatte. Die ganze Sache war völlig bescheuert, wenn meine Gran auf einem ihrer Nachmittagsspaziergänge nach North Crong gewandert wäre, wäre sie da viel sicherer gewesen als ich. O Gott! Wenn Manjaro mich noch öfter um einen Gefallen bitten würde, dann hoffte ich wirklich, dass es bei Eis holen blieb.

Um uns herum fuhren ein paar Typen Wheelies. Andere chillten, hörten Rap, Grime und R&B, der aus ihren Gettoblastern dröhnte. Alle anderen spielten mit ihren Handys. Ein paar zweitklassige Mädchen stellten ihre tätowierten Hälse und Waden aus, sie hatten billige Extensions oder Kiss Curls. Aus ihren falschen Wimpern hätte man gut Gartenrechen basteln können. Ich sah mich kurz um, konnte Venetia aber nirgendwo entdecken. Erstklassige Mädchen wie sie gingen nicht in den Park. Während wir uns nach einer Stelle umguckten, um unsere Ärsche zu parken, hörten wir ein paar Brüder erzählen, dass es kurz vorher Ärger zwischen ein paar South Crongs und einem North Crong gegeben hatte.

Es hatte schon öfter Drohungen und wilde Beschimpfungen gehagelt, aber meistens ging’s nicht weiter, nicht im Park, wo jeder zuguckte und alle ihre Handys in den Fingern hatten, bereit, jederzeit mitzufilmen. Die Brüder und Schwestern hier waren also alle einigermaßen entspannt.

Wir fanden eine Stelle direkt hinter einem der Tore.

»Wir hätten eine Cola mitbringen sollen«, sagte McKay. »Jonah, Mann! Wieso hast du die letzte Flasche alle gemacht?«

»Das war ich nicht«, protestierte Jonah. »Das war Bit.«

»Den Vorwurf weise ich strikt von mir, Mann! Hör bloß auf!«

»Da ihr beiden die letzte Flasche vernichtet habt, müsst ihr auch die Kröten für die nächste zusammenkratzen«, verlangte McKay. »Ich glaub’s nicht, Brüder! Jetzt sind wir hier, wollen das Spiel sehen und ich hab nichts für den Durst … außerdem ist mir nach Erdnüssen!«

Genau in dem Augenblick schoss einer mit blauem T-Shirt ein Tor. Der Ball rollte zu McKay und er hob ihn auf. »Hey, du Milchmade, gib mir den Ball, Mann«, motzte der Torwart.

»Wer ist hier eine Milchmade, du dürres Stück Scheiße!«, gab McKay es ihm zurück.

Jonah und ich tauschten Blicke und schüttelten die Köpfe.

»Bist du zum Sportmachen im Park, du kleiner Fettsack?«, ärgerte ihn der Torwart, drehte sich zu den anderen Spielern um, wollte sehen, ob sie lachten. »Du brauchst eine ganze Mannschaft von Personaltrainern, Bro. Pass auf, dass du keine Kuhle in den Rasen machst, wenn du dich setzt!«

»Ich mach ‘ne Kuhle in den Rasen, wenn ich’s deiner Freundin besorge, du Lauch!«

Jetzt konnte ich mir das Lachen nicht mehr verkneifen und Jonah und die anderen Zuhörer ebenso wenig. Als ich die Wut in den Augen des Torwarts sah, verging mir das Lachen allerdings schnell.

»Komm her, Fettsack, und sag das noch mal, dann sehen wir, wer den Park auf einer Trage verlässt!«

McKay stand auf und kickte den Ball weg. Der Torwart ignorierte es und kam auf McKay zu. Alle waren nervös. Wir hörten eine andere Stimme. Ruhig, aber mit Autorität.

»Lass den Jungen in Ruhe, Bruder.«

Wir drehten uns alle um. Es war Manjaro. Immer wenn ich ihn sah, hatte ich so ein Gefühl im ganzen Körper, wie wenn ein Eiswürfel auf einem schmerzenden Wackelzahn liegt. Er trug ein blaues Muskelshirt mit einem kleinen weißen Handtuch über der linken Schulter. Seine Arme waren so dick wie die eines olympischen Gewichthebers, und er sah aus, als wäre er gerade beim Trainieren gewesen. Drei von seinen Jungs waren bei ihm. Einer war weiß, einer gemischt und der andere schwarz. Alle hatten sie blaue Caps auf.

Der Torwart grinste betreten. »Respekt, Manjaro, ich mach bloß Spaß mit den Kleinen, kennst mich doch.«

McKay setzte sich, und als ich mich zu Jonah umdrehte, merkte ich, dass er schon auf zehn Meter Abstand gegangen war.

»Ich seh’s nicht gern, wenn ein großer Mann einem kleineren Kummer macht«, sagte Manjaro. »Auch der größte Mann war mal ein Baby, also lass die Kleinen da in Ruhe. Du weißt nie, wie groß die werden.«

»Kein Problem, Manjaro.« Der Torwart machte einen Rückzieher. »Wie gesagt, war bloß Spaß. Sonst nichts.«

»Dann ist ja gut«, sagte Manjaro. »Ich seh’s auch nicht gern, wenn ein South Crong einem anderen South Crong Kummer macht. Hast du kapiert?«

»Hab ich kapiert, Manjaro.« Der Torwart versuchte, seine Nerven mit einem Lachen zu beruhigen. »Na klar, kapiert.«

Dann sammelte er den Ball ein, trat ihn zurück aufs Feld und bezog erneut Stellung im Tor. Er schaute sich nicht noch mal um. Ich wollte mich gerade näher an Jonah heranschieben, als Manjaro sich umdrehte und sein Blick mich erfasste. Scheiße!

»Kleiner!«, rief er. Die Schlange an seinem Hals vollführte ein Tänzchen. Er kam großspurig zu mir gelatscht und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Aus dem Augenwinkel sah ich Jonah noch ein Stück weiter auf Abstand gehen.

»Was geht, Manjaro?«, erwiderte ich.

»Bist du noch eine Stunde hier im Park am Chillen?«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich sah Jonah an, er nickte. Dann sah ich McKay an und er schüttelte den Kopf.

»Äh, ja, wir gucken Fußball«, erwiderte ich schließlich.

»Das ist gut«, sagte Manjaro. »Muss was besorgen, danach komme ich wieder her, okay?«

»Ist gut.« Ich nickte.

McKay schüttelte immer noch den Kopf.

»Also warte, bis ich wieder da bin, kapiert?«, fragte Manjaro.

Ich nickte, obwohl McKay verzweifelt die Augen schloss.

Manjaro und seine Crew zogen ab. Jonah kam wieder angekrochen, schaute dabei misstrauisch über die eigene Schulter. Er wartete, dass Manjaro außer Hörweite war, dann erst redete er. »Kluger Schachzug, Kleiner«, sagte er. »So einem schlägt man keine Bitte ab. Ich frag mich nur, was er von dir will?«

»Du hättest Nein sagen sollen«, unterbrach McKay ihn. »Der will bestimmt irgendeinen Scheiß von dir. Was machst du, wenn er verlangt, dass du als Kurier für ihn arbeitest, nach Thailand fliegst und mit einem Sack voll Drogen im Bauch zurückkommst?«

»Ich glaube nicht, dass er das von mir verlangen wird, McKay.« Aber was will er sonst von mir? Ich machte mir Sorgen. Vielleicht lag McKay gar nicht so falsch.

»Woher willst du das wissen?«, fragte McKay. »Lass dich nicht zum Kurier machen, Bro! Das bedeutet Dünnschiss für den Rest deines Lebens. Und es ist kein Spaß, ständig Klopapier mit sich rumschleppen zu müssen. Du weißt, dass die dir in Ländern wie Thailand siebenhundert Jahre ohne Bewährung aufbrummen, wenn sie dich mit Drogen erwischen. Und die Gefängnisse da sind die schlimmsten auf der Welt, Bro. Die lassen dir die Wahl, ob du lieber einen Arm oder ein Bein abgehackt haben willst. Das gehört alles zum Urteil, glaub mir! Dann ziehen sie dich aus bis auf die Unterhose und werfen dich in ein drei Kilometer tiefes Loch. Einmal pro Tag schmeißen sie trockenes Brot, Rattenleber und Paviansuppe rein und die Gefangenen müssen sich drum streiten. Wirklich, Bro. Zum Schluss wünschst du dir, sie würden dich exekutieren und dir den Kopf abschneiden.«

»Ich fliege nicht nach Thailand«, protestierte ich. O Gott! Ich wünschte, ich könnte Witze darüber machen. Ich wollte mir nicht anmerken lassen, was für eine Riesenangst ich hatte. »Mum bringt mich um, beim bloßen Gedanken«, sagte ich. »Ich hab nicht mal einen Pass.«

 

»Wenn er mir eine Million bietet, mach ich’s vielleicht«, sagte Jonah. Seine Augen leuchteten bei dem Gedanken an schöne Autos, Häuser mit Swimmingpool und möglicherweise auch Venetia im Bikini.

»Jonah, manchmal kommt aus deinem Arsch was Vernünftigeres als aus deinem Mund.« McKay lachte. »Bit, wieso hast du dir keine Ausrede einfallen lassen, irgendwas mit deiner Mutter. Man muss immer eine Mutter-Ausrede parat haben. Ich an deiner Stelle hätte gesagt, dass meine Mum will, dass ich mit ihr einkaufen gehe. Oder dass ich kochen muss, weil Mum sich um Gran kümmert, die einen Schlaganfall hatte oder so. Sei kreativ, Mann.«

»Als Manjaro mich angesehen hat, ist mir keine Lüge eingefallen.«

»Sag nicht, ich hab dich nicht gewarnt«, sagte McKay.

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich auf den Fußball zu konzentrieren. In den beiden nächsten Stunden kamen und gingen alle möglichen Brüder. Mädchen posten und nölten rum. Eine Weile spielte ich mit, aber die größeren stießen mich einfach vom Ball weg oder gaben erst gar nicht an mich ab. Ich setzte mich wieder und sah zu, wie die Fußballer foulten und fluchten.

McKay erzählte uns noch ein paar Horrorgeschichten über Raketenabschussstationen, die die Bullen auf North und South Crongton richteten, um endlich das Gang-Problem in unserer Gegend in den Griff zu bekommen. »Kein Witz, Brüder«, sagte McKay und tat total entrüstet. »Die Raketen stecken unter dem Asphalt vor der Bullenwache. Könnt ihr mir glauben, wenn das mit den Messerstechereien und den Morden nicht aufhört, bomben die uns die Iros und Afros von den Schädeln. Danach stellen sie sich ins Fernsehen und erzählen der Nation, ein Bruder von uns hätte eine Bombe bei der Armee geklaut und irgendwie dran rumgebastelt, bis sie hochgegangen ist. Könnt ihr glauben …«

McKay machte eine Pause. Von links sah er Manjaro und drei aus seiner Crew auf uns zukommen. Wieder so ein Eis-auf-Knochen-Gefühl. Verflucht! Die hatten Einkaufstüten dabei. Das war vielleicht ein abgefahrener Anblick – normalerweise sah man die Gangsta von South Crong nicht mit Einkaufstüten in der Hand.

»Kleiner«, rief Manjaro. »Danke und Respekt, dass du auf mich gewartet hast.«

Ich konnte nicht glauben, dass er das gesagt hatte. Der große Manjaro bedankt sich bei mir! Jonah hatte seinen Ach-du-Scheiße-Blick drauf; McKay schüttelte den Kopf. Manjaro und seine Crew stellten die Einkauftstüten vor mir ab. Die Tüten waren voll mit Markenklamotten, Markenschuhen und Spielsachen.

»Für Jerome«, erklärte Manjaro. »Achte drauf, dass er’s auch kriegt. Hast du kapiert?«

Ich nickte. Ich konnte nichts Schlimmes dran erkennen, wenn ich ein paar neue Klamotten für Jerome mit nach Hause brachte. Mann! Der wird das am besten gekleidete Baby von ganz Crongton sein! Einschließlich Crongton Village, wo in den Auffahrten nur Autos mit Allradantrieb und Audi Cabrios parkten. Und vielleicht helfen die Spielsachen ja, sodass Jerome aufhört, ununterbrochen zu schreien. McKay schüttelte immer noch den Kopf, aber Jonah nickte.

»Komm mal her«, beharrte Manjaro.

Ich stand auf. Manjaro legte mir eine Hand auf die Schulter und grinste. Der kalte Hauch von Voldemort fuhr mir durch die Blutbahn. Wir setzten uns in Bewegung. Seine Jungs sahen uns ganz komisch an. Ich muss zugeben, dass ich mir echt wichtig vorkam, so wie ich da neben Manjaro herlief. Ja. Ich war jemand und nicht mehr nur der blöde kleine Niemand, der beim Fußball nie einen Ball abbekam.

»Ist irgendwie scheiße, dass es mit deiner Schwester nicht so geklappt hat«, fing Manjaro an, kaum dass wir weit genug von den anderen weg waren. »Aber mir ist das mit dem Vatersein wichtig, hast du kapiert?«

Vatersein ist ihm wichtig? Für meine Festplatte war das ganz schön viel zu verarbeiten, aber ich dachte, besser nicken.

»Ich will an Jeromes Leben teilhaben«, fuhr Manjaro fort. Seine Stimme war ruhig und überzeugend. »Du vermisst deinen Dad doch auch in deinem Leben, oder?«

»Ja«, gab ich nach einer Weile zu. »Ich wünschte, er würde noch bei uns wohnen.«

»Jerome ist ein Teil von mir, hast du kapiert? Elaine und ich kriegen es zusammen nicht hin, aber ich finde es unfair, dass ich kein guter Dad für ihn sein darf. Mein Dad war kein guter …« Ich riskierte einen Blick zu ihm nach oben. Auf seinem Gesicht lag ein Schweißfilm und die Schlange an seinem Hals zuckte, als er die Schultern nach hinten durchdrückte. »Ich sag dir das, Kleiner, weil ich dir vertraue. Du kommst mir ehrlich vor, anders als die meisten Brüder hier. Kannst du glauben.« Er blieb stehen und starrte mir direkt ins Gesicht. Ich zwang mich zurückzuschauen. »Also, ich wäre dir sehr dankbar, wenn du die Sachen für Jerome mit nach Hause nimmst.«

»Cool, Bro«, erwiderte ich. »Mach ich.«

Manjaro grinste wieder. »Bin froh, dass bei dir ankommt, was ich sagen will.« Er zog seine Brieftasche raus, leckte den rechten Daumen und den Zeigefinger an und zog zwei Zehnpfundscheine raus. Dann gab er mir das Geld. »Für deine Unannehmlichkeiten.«

»Welche Unannehmlichkeiten?«, fragte ich.

»Könnte sein, dass du Krach mit deiner Schwester kriegst.«

Er machte mir erneut Mut, indem er mir auf die Schulter klopfte, dann war er weg, seine drei Brüder gingen mit ihm über den Fußballplatz. Das Spiel wurde unterbrochen, die Spieler senkten respektvoll die Köpfe, bis alle vorbeigelaufen waren. Mann! Das würden die nicht mal machen, wenn die Bürgermeisterin dieser irren Stadt hier höchstpersönlich vorbeikäme.

Jonah und McKay schoben sich wieder an mich ran. »Jetzt kannst du ja Cola kaufen«, meinte Jonah.

»Und Erdnüsse«, ergänzte McKay.

»Nur wenn ihr mir helft, den Kram nach Hause zu schleppen.«

McKay und Jonah trugen jeder eine Tüte und folgten mir zum Supermarkt, wo ich zwei Literflaschen Cola und zwei Tüten Erdnüsse kaufte. Auf dem Mäuerchen vor dem Laden haben wir erst mal getrunken und gefuttert. Wir sahen Leute kommen und gehen. War ein gutes Gefühl, kaufen zu können, egal was wir wollten, aber dann hatte ich irgendwann so viel Cola intus, dass mir schlecht war. Ich musste mich echt hartnäckig gegen meine beiden Brüder wehren, weil sie jetzt auch noch Schokoriegel, Eis und Handyguthaben von mir wollten. McKay brachte gute Argumente vor, meinte, sein Dad hätte mir ja auch Chickenwings und Pommes spendiert, und jetzt würde ich mein Geld in der Tasche behalten.

Ich trank den Rest von der Cola, dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Jonah half mir, die Tüten schleppen, und McKay ging in der entgegengesetzten Richtung davon. Ich drehte den Schlüssel in der Wohnungstür und dachte möglichst nicht daran, was Manjaro gesagt hatte von wegen Krach mit meiner Schwester. Wird alles cool, sagte ich mir. Jerome braucht schließlich was Neues zum Anziehen. »Elaine!«, rief ich, als ich eintrat. »Ich hab was für dich!«