Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton

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Liccle Bit. Der Kleine aus Crongton
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ALEX WHEATLE

LICCLE BIT

DER KLEINE AUS

CRONGTON

ROMAN

Aus dem Englischen

von Conny Lösch

Verlag Antje Kunstmann

Zum Buch

Ein mit großer Empathie und Witz erzählter Roman über Freundschaft, Familie, die erste Liebe, und was es heißt, sich gegen widrige Umstände durchzusetzen und das Richtige zu tun.

Lemar Jackson ist 14 Jahre alt, und obwohl er nur der Zweitkleinste in seinem Jahrgang ist, nennen ihn, zu seinem großen Missfallen, alle »Liccle Bit«. Jonah und McKay sind seine besten Freunde, und dennoch ziehen sie ihn ständig damit auf, dass er keine Chancen bei Mädchen hat. Erst recht nicht bei Venetia King, dem heißesten Mädchen der Schule. Umso erstaunter sind alle, als Venetia ihn bittet, ein Porträt von ihr zu zeichnen. Ist das etwa ein erstes Date?

Doch auch Manjaro, der berüchtigte Anführer der Gang von South Crongton, beginnt auf einmal, sich für ihn zu interessieren, und bevor Lemar sich versieht, erledigt er kleine Aufträge für ihn. Als der erste Tote im Viertel auftaucht, erkennt Lemar, dass er schon viel zu tief in dem eskalierenden Bandenkrieg steckt und so auf keinen Fall weitermachen kann. Aber wie soll er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, die sich immer weiter zuschnürt?

Über den Autor

Alex Wheatle wurde 1963 in Brixton geboren und wuchs größtenteils in einem Kinderheim auf. Mit 16 gründete er ein Reggae Soundsystem und trat unter dem Namen Yardman Irie auf. Während der Brixton Riots wurde er verhaftet und verbrachte einige Zeit im Gefängnis, wo er seine Liebe zur Literatur entdeckte. Er hat mehrere von der Kritik gefeierte Romane veröffentlicht, bevor er sich der Jugendliteratur zuwandte. Er lebt mit seiner Familie in London.

Für Clement, Peter und Dorothy

1
DIE SCHÖNE UND DAS BIEST

ANGEFANGEN HAT ALLES VOR ZWEI MONATEN. An einem stinknormalen Schultag, sofern an meiner Schule überhaupt irgendwas stinknormal ist. Die Klingel läutete zum Ende der letzten Stunde. Ein Mittwoch. Mittwochs trainieren die Mädchen aus meinem Jahrgang Streetdance in der Turnhalle. Jonah Hani, McKay Tambo und ich rannten durch die Gänge, rempelten dabei andere Schüler und Lehrer an, nur um den besten Blick durch das Fenster in der Turnhallentür zu bekommen.

Als wir dort ankamen, standen schon zwei Jungs aus unserem Jahrgang auf unseren Plätzen. Als sie den riesigen McKay entdeckten, verzogen sie sich. Wie immer machte er sich vor dem Fenster breit.

»Schieb deinen fetten Schädel aus meiner Sichtlinie, Mann«, meckerte Jonah.

»Mach Platz, Alter!«, maulte ich.

Obwohl ich McKays Kopf nur von hinten sah, wusste ich, dass er grinste. »Ruhig Blut, meine Brüder«, sagte McKay. »Liebreiz starrt mir ins Gesicht. Venetia ist vollreif, ich sag’s euch. Mann! Die hat Beine bis zum Mond. Könnt ihr glauben!«

Mit vereinter Kraft gelang es Jonah und mir, McKay beiseitezuschieben und selbst einen Blick in die Halle zu werfen. McKay hatte sich nicht getäuscht. Venetia ging voll ab in ihrem pinken Oberteil und den weißen Shorts. Die anderen Mädchen sahen sie an, versuchten mitzuhalten, aber Alter, Venetia hatte es einfach drauf. Ms Lane, die Street-dance-Lehrerin, nickte und wippte mit den Füßen. Und wie! Venetia tanzte besser als sie!

»Mann! Wenn ich nur zehn Minuten mit Venetia alleine wäre«, meinte Jonah.

»Dann wüsstest du nicht, was du machen sollst, Bro«, lachte McKay.

»Zehn Minuten? Halb so lang und sie wär mein Mädchen! Glaub mir!«, behauptete ich.

McKay und Jonah krümmten sich vor Lachen, hielten sich die Bäuche und warfen sich auf den Boden. »Du, Bit?«, fragte McKay.

Ich war nicht der Größte in unserem Jahrgang. Tatsächlich sogar der Zweitkleinste. Einmal in der sechsten hatte mich ein Mädchen »Liccle Bit« genannt und der Name war hängen geblieben.

»Mit deiner Sklavenfrisur siehst du aus wie ein Umpa-Lumpa!«, stichelte McKay. »Eher spielt Lionel Messi für die Crongton Wanderers.«

»Okay«, sagte Jonah und rappelte sich auf. »Wenn du dich für so einen großen Gangsta hältst, dann quatsch Venetia doch nach der Stunde an.«

»Genau«, sagte McKay und schob mich weg, um selbst durchs Fenster zu schauen. »Traust dich ja doch nicht, sie zu fragen, ob sie sich mit dir trifft.«

»Wenn ihr beide dabei seid, bestimmt nicht«, sagte ich.

»Mann! Du kackst dir doch in die Hose, ich kann’s schon riechen«, machte Jonah sich weiter lustig.

»Für ein Mädchen wie Venetia brauchst du das volle Programm, Bro«, erklärte McKay. »Ein iPhone, Dr-Dre-Kopfhörer, die neuesten Sneaker von Adidas, einen anständig ausrasierten Iro und außerdem musst du groß genug sein, dass sie dir unters Kinn passt. Topmädchen wollen einen Bruder, zu dem sie aufschauen können.«

»Und Bit, nichts davon trifft auf dich zu«, sagte Jonah. »Also geh mir aus dem Weg und vergiss es, eine Spitzenfrau wie Venetia anzubaggern.«

Ich setzte mich in Bewegung, weil ich wusste, dass ich, selbst wenn ich Dr-Dre-Kopfhörer und alles andere hätte, mich trotzdem nicht trauen würde, Venetia anzusprechen. Jonah und McKay holten mich ein und wir rannten aus dem Gebäude.

Wir wohnten alle in South Crongton, zehn Minuten zu Fuß von der Schule entfernt. Jonah Hani im selben Haus wie ich, er im zweiten Stock und ich im fünften. McKay Tambo lebte mit seinem Dad und seinem älteren Bruder im Block gegenüber. Gott weiß, was die in der Wohnung dort verbaut hatten, weil alle in der Familie aussahen wie Wrestler aus dem Bezahlfernsehen.

»Glaub’s mir, Mann«, prahlte McKay. »In fünf Jahren fahr ich einen kranken Wagen, und auf meinem Schoß sitzen zwei Mädchen, neben denen Venetia aussieht, als wär ihr ein Elefant über die Fresse getrampelt.«

»Und woher hast du das Geld für deinen kranken Wagen?«, wollte Jonah wissen.

»Ich werde Unternehmer!«, sagte McKay. »Kein Scheiß. Ich mach eine Kette auf mit meinem Hot-Wings-Spezialrezept. Wenn der Bruder aus Ashburton das mit seiner Sauce kann, wieso ich nicht? Vertrau mir. Meine Wings werden schärfer und leckerer als der ganze Scheiß, den’s bei Kentucky und Alabama gibt. Kannst du glauben! Bei mir bedienen Frauen mit Bleistiftabsätzen, Sonnenbrillen und kurzen Schürzen mit nix drunter. Und in allen meinen Läden läuft Musik.«

»Aber wenn du Unternehmer werden willst, musst du auf die Uni und lernen, wie das geht«, sagte ich. »Was ist mit Mathe? Du kannst nicht mal rechnen. Wie willst du das Geld zählen? Du brauchst einen Abschluss …«

»Und der dauert drei Jahre«, ergänzte Jonah.

»Drei Jahre zusätzlich, nachdem du deine A-Levels bestanden hast«, sagte ich. »Außerdem kostet die Uni einen Batzen Geld.«

»Mann!«, rief McKay. »Ihr Brüder versteht es echt, einem den Wind aus den Segeln zu nehmen.«

»Du wirst sowieso kein Geld verdienen«, lachte Jonah. »Du kriegst einen Fressflash und verfutterst den ganzen Profit. Wenn du in deinem Laden aufkreuzt, kriegen die Kunden keine Wings mehr zu sehen. Glaub mir!«

»Du kannst mich mal!«

McKay jagte Jonah den ganzen Weg bis zu unserer Siedlung, aber als wir dort ankamen, schnaufte McKay schon ganz komisch.

»Jonah, morgen mach ich dich fertig«, drohte McKay. »Dein kleiner Kugelkopf wird mit meiner großen Faust Bekanntschaft schließen. Und hinterher stopf ich ihn ins Klo! «

»Und deine große Klappe schließt Bekanntschaft mit meinem Frisbee, ich schieb ihn dir quer rein, dann kriegst du keinen einzigen Hot Wing mehr runter«, revanchierte sich Jonah.

McKay, der inzwischen keuchte wie ein Weißer beim olympischen Zehntausenmeterlauf, hatte keine Energie mehr, Jonah weiter zu jagen, und schlappte seinem Block entgegen. Jonah und ich gingen zu unserem Betonklotz. »Machst du heute Abend Hausaufgaben?«, fragte er.

»Kunst«, erwiderte ich. »Ich will Gran zeichnen. Lieber mal ich Porträts als irgendeinen bescheuerten Apfel oder so.«

»Und Mathe?«

»Ich werd nie gut drin sein, also wozu?«

Oben im zweiten Stock flitzte Jonah über den Balkon zu seiner Wohnungstür. Ich hoffte, seine sechzehnjährige Schwester Heather würde ihm aufmachen. Die sah echt super aus, was ich Jonah natürlich niemals sagen würde.

Aber sie ließ sich nicht blicken.

Anstatt den Lift zu nehmen, ging ich lieber über die Treppe rauf, schleppte mich bis in den vierten. Als ich laute Stimmen hörte, blieb ich stehen. Meine Schwester Elaine und Manjaro, ihr Ex.

»Spinnst du oder was!«, brüllte Manjaro. Mir fiel wieder ein, dass er so eine irre Ader am Hals hatte, die hervortrat, wenn er die Stimme hob. Irgendwie stellte ich mir immer vor, dass es eine schlafende Babyschlange war. »Nimm das Geld und kauf dem Kleinen was anzuziehen. Windeln und Spielzeug, oder so.«

»Ich will dein dreckiges Geld nicht«, schrie Elaine. »Wieso kannst du mich nicht in Ruhe lassen? Mum kommt gleich zurück. Kapierst du’s nicht? Das mit uns ist vorbei! Dein Konto ist abgelaufen! Der Automat spuckt deine Karte aus. Ich lass mir keinen Scheiß mehr von dir gefallen, also geh mir aus der Sonne!«

»Heißt das, ich darf für meinen Sohn kein Vater sein? Ist es das, was du mir sagen willst, Elaine? Kennst du mich nicht? Du weißt, dass ich das nicht zulassen kann. Nimm wenigstens das Geld.«

»Scheiß auf dein Geld! Lass mich in Ruhe!«

»Das wirst du noch bereuen.«

»Du kapierst nicht mal, was du mir angetan hast!«, brüllte Elaine. »Du schnallst es einfach nicht. Du bist so bescheuert, dass du denkst, du hast nichts falsch gemacht. Glaub mir! Du brauchst Hilfe. Schieb deinen traurigen Arsch aus meinem Blickfeld und lass mich in Ruhe.«

 

Ich hörte die Schritte meiner Schwester auf den Betonstufen oben, dann knallte die Wohnungstür zu. In diesem Moment klingelte mein Handy. Ich ging dran, stieg dabei weiter die Stufen rauf. Es war Gran. »Wo bist du, Lemar?«

»Unterwegs, Gran. Bin in einer Sekunde da.«

Ich guckte hoch. Manjaro kam die Treppe runter. Er warf einen Blick auf mein billiges Handy und grinste. »Zeig mal«, sagte er.

Ich wollte ihm nicht in die Augen schauen. Er war so gebaut, dass man sich lieber nicht mit ihm anlegte, und er hatte einen schmalen Schnurrbart wie mein Opa früher, dazu noch ein Ziegenbärtchen. Der Stecker in seinem linken Ohrläppchen war wohl ein Diamant und seine Haare waren immer voll korrekt geschnitten. Aber keine Markenklamotten, nur ein schlichtes blaues T-Shirt, ein Anorak, schwarze Jeans und coole Reeboks. Immer wenn ich ihn sah, raste mein Herz wie Usain Bolt. McKay behauptete, Manjaro hätte zwei Brüder umgebracht. Gerüchte besagten, er sei der Enkel von einem legendären Gangsta namens Herbman Blue. Wieso hatte meine Schwester ausgerechnet von ihm ein Baby bekommen müssen?

»Hast du nicht gehört, Kleiner?«, sagte er. »Lass mal dein Handy sehen und hör auf, so eine Fresse zu ziehen. Ich tu dir schon nichts. Reg dich ab.«

Ich hasste es, wenn er mich Kleiner nannte. Aber was sollte ich machen? Manjaro war ungefähr zehn Jahre älter als ich und der OG, der absolute Obergangsta hier bei uns in der Siedlung. Widerwillig gab ich ihm mein Handy. Er betrachtete es wie die Typen in den weißen Anzügen alles, was sie am Tatort eines Verbrechens finden – ein paar Mal hatten wir die in South Crongton schon gesehen. »Weißt du«, sagte er. »Vielleicht kann ich dir ein Upgrade beschaffen, wenn du eine Kleinigkeit für mich erledigst.«

Ich sagte nichts. Er sah mich an und lachte. Dann wuschelte er mir mit der rechten Hand durch die Haare. »Könntest einen Haarschnitt vertragen«, sagte er. »Erledige was für mich, dann schneid ich dir die Haare vielleicht sogar selbst. Ich kümmere mich immer um die Brüder, die für mich arbeiten, das weißt du.«

Er gab mir mein Handy “wieder und sprang fünf Stufen weiter runter. Ich stieß einen langen Seufzer aus. Dann blieb er aber noch mal stehen und drehte sich um. Wieder raste mein Herz. »Sag deiner Schwester, sie hätte das Geld nehmen sollen. Ich weiß, dass ihr nicht viel habt. Deine Mum kann nicht viel verdienen.«

Ich musste mir verdammt große Mühe geben, mir meine Wut nicht anmerken zu lassen, weil er über meine Mum redete – sie tat, was sie konnte. Er schaute mich ein letztes Mal an, dann war er weg.

2
AN DER HEIMATFRONT

ICH DREHTE DEN SCHLÜSSEL IN DER WOHNÜNGSTÜR und trat ein. Gran war am Kochen. Elaine versuchte Jerome irgendwas aus einem Gläschen zu füttern, aber mein Neffe wollte nichts davon wissen. Er brüllte das ganze Haus zusammen. Hätte ich schlucken müssen, was Jerome vorgesetzt bekam, hätte ich auch Zeter und Mordio geschrien.

»Du wolltest einfach an mir vorbeispazieren«, erwischte Gran mich im Flur. »Komm her, Lemar! Lass dich anschauen.«

Ich ging zu Gran, linste in den Topf und sah die Bolognese friedlich vor sich hin blubbern. Auch die Spaghetti warteten schon darauf, in einem anderen Topf gekocht zu werden. Gran umarmte mich, als würde es Glück bringen – ihre Unterarme waren so dick wie die Zweiliterflaschen Coke, die Mum immer kaufte. Sie drückte mir einen dicken Kuss auf die Stirn und umarmte mich gleich noch mal. »Spazier nicht an mir vorbei, als würdest du mich nicht kennen!«, ermahnte sie mich.

Ich vermied es möglichst, mich mit Gran auf der Straße blicken zu lassen, weil sie echt peinlich sein konnte.

Nachdem ich Elaine kurz ein Hallo zugenickt hatte, ging ich in mein Zimmer, meinen Skizzenblock holen. Anschließend kehrte ich mit Bleistiften und Block in die Küche zurück. »Also, Gran, bist du bereit?«

»Siehst du nicht, dass ich am Kochen bin? Wenn wir gegessen haben, setz ich mich für dich hin. Aber jetzt verschwinde und mach deine anderen Hausaufgaben.«

»Und lass sie mich sehen, wenn du fertig bist«, setzte Elaine hinzu.

Jerome machte immer noch einen Riesenkrawall und verweigerte sein Essen.

In unserer Wohnung gab’s drei Zimmer, außerdem ein Wohnzimmer. Eins für Gran, eins für Elaine und Jerome und das kleinste war meins. Mum schlief unter der Woche auf dem Sofa, aber am Wochenende tauschte sie mit Gran. Elaine und Jerome warteten auf eine Sozialwohnung, eine Million Leute vom Wohnungs- und Sozialamt waren schon vorbeigekommen. Inzwischen war Jerome schon elf Monate alt und die beiden hatten immer noch keine eigene Bleibe.

Als ich in mein Zimmer kam, warf ich meinen Rucksack aufs Bett und überlegte, ob ich meine Mathe-Hausaufgaben machen sollte. Mum hatte mir einen kleinen Tisch in die Ecke gestellt und einen gebrauchten Drehstuhl dazu, den sie von der Arbeit mit nach Hause geschleppt hatte. Ich setzte mich auf den Stuhl, schlug mein Mathebuch auf und sah die ganzen Fragen, die alle irgendwas mit Kreisen, Radius und einem gewissen Pi zu tun hatten. Ich wurde nicht schlau draus, also klappte ich das Buch wieder zu und legte mich aufs Ohr.

Eine Stunde später gab’s Essen. Am Tisch saßen nur Gran und ich. Mum war noch nicht von der Arbeit zurück und Elaine brachte Jerome gerade ins Bett.

»Hast du heute mit dem Mädchen geredet, in das du dich verguckt hast?«, wollte Gran augenzwinkernd wissen. Ihre Augen waren karamellfarben mit unzähligen kleinen Muttermalen drum herum – die würde ich auch zeichnen müssen.

Noch bevor ich antworten konnte, hörten wir den Schlüssel in der Wohnungstür. Mum kam rein, wirkte müde und geistesabwesend. Sie stellte ein paar Tüten in die Küche, drückte Gran ein Küsschen auf die Wange, wuschelte mir durchs Haar und holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank.

»Hi, Mum«, sagte ich. »Guter Tag auf der Arbeit?«

»Nicht wirklich. Diese scheiß Kunden sind manchmal so dreist.«

»Was haben sie denn heute wieder gemacht?«

»Jetzt nicht, Lemar«, erwiderte Mum. »Ich kann mich nicht zum Essen hinsetzen. Im Wohnzimmer steht ein Sack schmutzige Wäsche, und die wird sich nicht von alleine waschen. Hast du die Leute wegen der Waschmaschine angerufen, Mum?«

Gran starrte ihr Essen an, drehte ein paar Spaghetti auf die Gabel und schob sie sich in den Mund. Erst als sie den Mund voll hatte, antwortete sie. »Das hast du mir gestern Abend ganz spät gesagt, Yvonne«, erklärte Gran. »Ich hab schon halb geschlafen! Tut mir leid … ich hab’s vergessen.«

»Mum! Ich brauche eine funktionierende Waschmaschine. Die Trommel ist verzogen. Ruf wenigstens jetzt da an. Ich muss in den Waschsalon.«

»Soll ich helfen, Mum?«, bot ich an.

»Hast du keine Hausaufgaben?«

»Doch, aber …«

»Mach deine Hausaufgaben, Lemar!«

Anderthalb Stunden später zeichnete ich Gran im Wohnzimmer. Andauernd machte sie’s mir schwer, indem sie lächelte oder den Kopf drehte. Ich hatte gerade so den Umriss ihres Gesichts, dann fing ich mit den Augen an. Ihr Doppelkinn richtig hinzubekommen war schwer, auf ihrer Stirn fuhren zwei tiefe Falten Achterbahn. Ich vermutete, dass Gran Ende sechzig war, aber sie hat mir ihr Alter nie verraten. Einmal hatte Mum mich gebeten, sie lieber nicht danach zu fragen. Inzwischen hatte Elaine es endlich geschafft, Jerome zum Schlafen zu bringen, und jetzt sah sie irgendeinen Musiksender im Fernsehen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Gran. »Hast du mit dem Mädchen gesprochen, das es dir angetan hat?«

Meine Festplatte suchte nach einer Entgegnung, während mein Gesicht aufheizte, als wär’s an den Wasserkocher angeschlossen. Meine Schwester antwortete für mich. »Venetia heißt die, die ihm gefällt«, verriet sie. »Lemar hat größere Chancen, X Factor zu gewinnen, als an sie ranzukommen. Alle aus dem Jahrgang und sogar die aus der Zehnten fahren auf sie ab. Ich kenne sogar ein paar Mädchen, die auf sie stehen.«

»Venetia ist es nicht«, protestierte ich. »Was weißt du denn? Du gehst nicht mal mehr auf meine Schule.«

»Ich hab immer noch Freundinnen da«, widersprach Elaine.

»Das reicht«, sagte Gran.

In dem Moment hörten wir die Wohnungstür. Mum kam mit zwei Riesenladungen Wäsche rein. Ich rannte los, um ihr zu helfen, hängte die Sachen auf den Ständer im Bad. Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, war Gran aufgestanden, um sich einen Kaffee zu machen.

»Gran!«

»Bin gleich wieder da, Lemar. Nur die Ruhe.«

Ich nahm meinen Skizzenblock, Mum sah mein viertelfertiges Porträt von Gran. »Das ist echt gut«, meinte sie. »Weiter so.«

»Aber Mathe hat er noch nicht gemacht«, warf Elaine ein.

»Mach ich später, Mum.«

Mum nickte immer noch, würdigte mein Kunstwerk. Das war schön. Mum nahm sich sonst fast nie Zeit für meinen Schulkram. »Mum, gehst du am Wochenende mit mir zum Friseur?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schenkte mir einen ihrer Blicke. Dann zeigte sie mit dem rechten Zeigefinger auf mich. »Lemar, du weißt, dass die Waschmaschine kaputt ist. Hast du eine Ahnung, was es kostet, wenn wir eine neue Trommel brauchen? Die vom Kabelfernsehen rufen mich jetzt schon auf der Arbeit an und beschweren sich, weil ich die Rechnung nicht bezahlt habe, die vom Bestelkatalog hab ich auch jeden Tag am Handy, und jetzt willst du verdammt noch mal zum Friseur!«

»Er will einen Iro, Mum«, schaltete Elaine sich ein. »Bei den Jungs in seinem Alter ist das der letzte Schrei.«

»Der letzte Schrei muss warten«, sagte Mum. »Sonst sorg ich dafür, dass Lemar zum letzten Mal schreit!«

Mum dampfte in die Küche ab, machte sich ihr Essen in der Mikrowelle heiß. Gran kam mit ihrem Kaffee wieder rein, und ich arbeitete zwanzig Minuten lang weiter an dem Porträt, bis Gran müde wurde und sich hinlegen wollte.

Am Abend ging ich mit dem Gefühl ins Bett, betrogen worden zu sein. Ich hab Elaine nicht gesagt, dass sie ein Baby kriegen soll, dachte ich.Ist nicht meine Schuld, dass Gran bei uns wohnt, und auch nicht, dass Mum den Leuten vom Bestellkatalog Geld schuldet; das meiste, was sie bestellt hat, waren Buggys und so ein Zeug für Jerome. Und jetzt hat sie nicht mal zehn Pfund für mich, damit ich mir die Haare schneiden lassen kann. Was sind schon zehn Pfund? Morgen muss ich in die Schule, und am Tag danach auch, und Jonah und McKay werden mich bis zum Umfallen wegen meiner scheiß Haare verarschen.