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Ich nickte. »Danke noch mal.«

Sharyna und Pablo kamen ins Wohnzimmer. »Uniform aus«, befahl Colleen. »Setzt euch gleich an die Hausaufgaben, wenn ihr welche habt.«

Sharyna und Pablo ignorierten ihre Mutter, musterten meine Haare. »Cool«, sagte Sharyna. »Sieht toll aus.«

Alles mögliche Gute durchströmte mich.

»Danke«, sagte ich.

Pablo umrundete mich zweimal. Er wirkte verwirrt.

»Was meinst du, Pablo?«, fragte Colleen.

Pablo antwortete nicht. Er latschte um mich herum und beäugte mich, als wär mir ein zweiter Kopf gewachsen. Beide Schnürsenkel waren offen. Sein Hemd hing ihm hinten aus der Hose, und an den Ärmeln hatte er blaue Buntstiftflecken.

»Und?«, fragte ich. »Wie viele Sternchen von zehn?«

Pablo lachte, legte sich die Hand auf den Mund und lachte wieder. Dann nahm er die Hand aus dem Gesicht und fragte: »Dürfen weiße Mädchen Zöpfchen haben?«

»Natürlich dürfen sie«, lächelte Colleen.

Sharyna lachte, aber ich musste dran denken, was wohl die älteren schwarzen Mädchen von meinen Zöpfchen halten würden.

Einige Runden Vier-Gewinnt gegen Pablo später servierte Colleen ein komisches Essen aus Grillhuhn, Reis, Yams, Kohl, grünen Bananen und Karotten. Es sah ganz anders aus als die Aufläufe, die ich für meinen Vater gekocht hatte. Servietten lagen ordentlich auf dem Tisch. Das war alles neu für mich. Ich nahm meine und schob sie mir oben in den Halsausschnitt meines Rihanna-T-Shirts. Pablo grinste, aber Sharyna verzog keine Miene. Tony und Colleen wechselten Blicke. Ich hatte Huhn, Kohl und Karotten auf dem Teller, konnte aber den Blick nicht von den grünen Bananen lassen. Für mich sahen die gar nicht grün aus.

»Ihr kocht Bananen?«, fragte ich.

»Die sind nicht wie gelbe Bananen«, erklärte Tony. »Das ist kein Obst, das ist ein Gemüse.«

»Für mich sehen die beide gleich aus«, sagte ich. »Ich ess Banane immer in Scheiben mit Vanillesauce. Hab ich für meinen Dad gemacht. Das hat er geliebt. Aber das hier sieht … also seid jetzt nicht beleidigt … total daneben aus.«

»Probier mal«, schlug Colleen vor.

Ich beäugte das Zeug erneut. Es dampfte. Ich werde meine Geschmacksknospen nicht quälen.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich will euch nicht beleidigen, aber das ist nichts für mich.«

Pablo kicherte. Sharyna schaute ihn an und ließ sich von seinem Kichervirus anstecken.

»Nomi, du musst dein Gemüse essen«, sagte Pablo mit Quietschestimme.

Aller Augen waren auf mich gerichtet. Ich stand auf, nahm eine Serviergabel und spießte ein Stück auf. Ich ließ es auf meinen Teller fallen und schnitt ein kleines Stück ab. Das spießte ich wiederum auf meine Gabel und hielt es mir vor die Nase. Dann steckte ich es in den Mund und kaute, dachte darüber nach und kaute noch mal. Ich schaute erst nach links, dann nach rechts.

»Ganz schön hart«, sagte ich. »Schmeckt überhaupt nicht wie echte Banane. Eher wie eine komische Kartoffel.«

Pablo platzte vor Lachen, spritzte Karotte und Huhn über seine Seite vom Tisch.

»Willst du auch mal die Yams probieren?«, schlug Tony vor, nachdem er Pablos Platz sauber gewischt hatte. »Schmeckt auch ein bisschen wie Kartoffel.«

»Ganz schön grau,« meinte ich.

»Probier’s doch«, drängte mich Colleen.

Ich spießte ein plattes Stück Yams auf, legte es mir auf den Teller und schnitt ein kleines Stück ab. Steckte es in den Mund und kostete.

»Ist hart«, sagte ich. »Wie eine harte Kartoffel.«

Wieder prusteten Pablo und Sharyna drauflos.

Zehn Minuten später hatte ich aufgegessen. Mein Teller war leer. Colleen grinste so breit wie die ganze Zeit noch nicht.

Ich half Tony beim Abspülen, während Colleen im Wohnzimmer mit Sharyna und Pablo ein Brettspiel spielte.

»Und? Was hast du heute gemacht?«, fragte Tony.

Standardpflegeelternfrage. Er gibt sich Mühe, also lass ich ihn. Aber mein Fummleralarm ist aktiviert, falls er auf die Idee kommen sollte, mir Süßigkeiten schenken zu wollen.

»Nicht viel«, erwiderte ich.

»Warst du draußen?«

»Ja.«

»Wo?«

»Einkaufen.«

»Hast du bekommen, was du wolltest?«

»Ja.«

»Was habt ihr noch gemacht?«, fragte Tony.

Sieht man das nicht? Was muss ich denn noch alles tun? Den Kopf schütteln und ihm meine neuen Zöpfchen in die Fresse schleudern?

Ich zuckte mit den Schultern.

»Wir haben in dem neuen China-Buffet-Laden auf der High Street gegessen!«, rief Colleen aus dem Wohnzimmer.

»Super!« Tony lächelte. »Was hast du dir ausgesucht, Naomi?«

»Chinesisch«, erwiderte ich.

»Hast du mal einen von den Kräutertees da probiert?«

»Nein«, erwiderte ich. »Ich trinke keine Blumen.«

»Wir hatten beide Frühlingsrollen und Special Fried Rice«, ergänzte Colleen aus der Diele.

Die Konvo war echt öde.

»Ich geh nach oben und schau eine DVD«, sagte ich. Dann an Colleen gewandt: »Versprichst du mir, dass du morgen Vormittag meine Haare fertig machst?«

»Na klar.«

»Louise wird echt geschockt sein«, grinste ich.

Ich sauste an Colleen vorbei, die Treppe hoch.

Anderthalb Filme später kam ich wieder runter, um mir Saft zu holen. Ich ging am Wohnzimmer vorbei und sah Tony dort auf einem Kissen sitzen. Colleen parkte hinter ihm auf einem Sessel und massierte ihm die Schultern. Auch das hatte ich bei Mum nie gesehen, dass sie so was bei Rafi oder Dad gemacht hatte. Wahrscheinlich hatten sie sich zu viel gestritten und keine Zeit dafür gehabt.

»Alles okay?«, fragte Tony.

»Ja«, erwiderte ich. »Sharyna und Pablo sind in meinem Zimmer und gucken was.«

Tony und Colleen wechselten Blicke. Ich ließ sie.

Als ich ein großes Glas Cola runtergekippt hatte, saßen Sharyna und Pablo mit offenen Mündern links und rechts an Kissen gelehnt neben mir. Ich hatte das Licht ausgemacht und die Vorhänge zugezogen. Sie schauten sich einen krumm gebauten Typen mit nur einem Auge, einer weißen Weste voller Flecken und einer zerrissenen Jeans an, der mithilfe einer Bohrmaschine gruselige Schweinereien mit dem kleinen Zeh eines gefesselten Teenagermädchens veranstaltete. Die blonde Schnalle schrie und schrie noch mal, dann wurde sie bewusstlos. Geschieht ihr recht. Wieso hat sie auch Sex mit ihrem Freund auf dem Rücksitz von ihrem gebrauchten Honda haben müssen? Pablo legte sich die Hände vors Gesicht. Sharyna bohrte sich die Finger in die Wangen – ihre Augen waren groß wie braune Spiegeleier.

Jemand bewegte den Türknauf.

Mein Kopf drehte sich zur Tür. Tony feuerte Kanonenkugelblicke auf mich ab, dann marschierte er schnurstracks zum Fernseher, schaltete ihn aus und funkelte Pablo und Sharyna an. »Ab ins Bett!«

Ein breites Grinsen zeigte sich auf Pablos Gesicht. »Gute Nacht, Nomi.« Er stand auf und verzog sich zuckersüß in sein Zimmer.

Sharyna brauchte eine Weile, bis sie sich rührte. Sie stand vom Bett auf und starrte unter sich. »Wir beide unterhalten uns gleich noch, junges Fräulein.«

»Ja, Dad«, erwiderte Sharyna.

Tonys Blick feuerte jetzt wieder auf mich. Er sah aus, als hätte er lange keinen Kürbissaft mehr gehabt. »Denen war langweilig, also haben sie bei mir angeklopft und gefragt, was ich mache«, sagte ich. »Sie wollten gucken, was ich geguckt hab. Sie haben ja keinen DVD-Player im Zimmer. Dabei hättest du genug Kohle, um ihnen einen zu schenken.«

Tony warf die DVD aus, hielt sie in der linken Hand, während er den Player vom Fernseher abkabelte. Er fuchtelte in der Luft damit herum, als wär’s ihm total egal. »Das«, sagte er, »gehört sich nicht. Ganz offensichtlich kann man dir nicht vertrauen. Kinder von sechs und elf Jahren sollten so was nicht gucken.«

Tony verließ mein Zimmer mit der DVD in der Hand.

»Wo willst du hin mit meiner DVD?«, fragte ich. Ich sprang aus dem Bett und rannte Tony in den Flur hinterher.

»Irgendwohin, wo du sie nicht findest«, erwiderte er.

»Aber die gehört mir. Dein scheiß Name steht da nicht drauf!«

»Du bist zu jung, um dir so was anzuschauen.«

»Trotzdem gehört sie mir! Wer bist du, dass du mir meine Sachen abnehmen darfst? Hast du sie gekauft? Nein! Also gib sie mir wieder! Unverschämtheit!«

»Das ist mein Haus und du wirst dich an meine Regeln halten.«

»Ich hab nicht drum gebeten, herzukommen, du Arschgesicht! Scheiß auf deine verkackten Vorschriften! Gib mir die DVD zurück.«

»Hör auf mich zu beleidigen, junges Fräulein, sonst bekommst du sie nie wieder.«

»Das nennst du beleidigen? Halt schön die Luft an, ich hab noch gar nicht richtig angefangen.«

Pablos Zimmertür flog auf – ich konnte seinen halben Kopf und sein Grinsen sehen.

»Du kannst deine DVD wiederhaben, wenn du dich dafür entschuldigst, dass du sie kleinen Kindern gezeigt hast.«

»Dann gibst du sie mir nicht wieder?«, fragte ich.

»Ob du einen Tag oder zehn Jahre hier bist«, sagte Tony, »du musst lernen, dass es Grenzen gibt, Naomi. Lerne, was in Ordnung geht und was nicht.«

Ich kehrte Tony den Rücken zu, stampfte durch den Flur und bog in Tony und Colleens Schlafzimmer ab. Sie hatten DVD-Boxen auf dem Regal gegenüber vom Bett. Ich schnappte mir 24, die Hobbit-Trilogie und jede Menge andere. Beim Rausrennen fielen ein paar davon zu Boden. Tony stand immer noch im Flur. Colleen kam die Treppe rauf. »Sie hat den Kindern einen Horrorfilm gezeigt«, petzte Tony.

Colleen bedachte mich mit einem Warum-bin-ich-bloß-Pflegemutter-geworden-Blick, während Tony den Kopf schüttelte. »Sie muss lernen, dass es Grenzen gibt«, wiederholte er. »Auch wenn sie nur eine Nacht bleibt.«

 

Ich schob an ihnen vorbei in mein Zimmer. »Du hast was von mir und ich hab was von dir. Und du kriegst nichts davon zurück, bis ich nicht wiederbekomme, was mir gehört.«

Dann knallte ich die Tür hinter mir zu. Der Türrahmen vibrierte und ich ließ mich aufs Bett fallen. Ich suchte mein Erdmännchen und drückte es ganz fest.

Ein paar Minuten später klapperte jemand an meiner Tür.

»Ich bin’s, Colleen. Können wir reden?«

»Nein.«

»Wir haben Regeln, Naomi.«

»Na und?«

»Daran müssen sich alle halten«, beharrte Colleen. »Wir können Sharyna und Pablo nicht erlauben, Horrorfilme zu gucken. Die sind nicht … so groß wie du. Sie haben andere Erfahrungen gemacht als du. Kannst du das nicht verstehen? Wir wollen nicht, dass sie Albträume bekommen.«

Das verstand ich. Aber er hatte mein Eigentum einkassiert.

»Sag ihm, dass ich meine DVD wiederhaben will!«, schrie ich.

»Du bekommst sie zurück, wenn wir beide das Gefühl haben, dass du was draus gelernt hast«, sagte Colleen.

Die geben kein Stück nach. Die Holmans hätten mir schon längst was zu essen gemacht, mir einen süßen Kaffee aufgesetzt und Kohle für eine brandneue DVD gegeben. Das Ganze mit Zahnpastawerbungslächeln.

»Und er bekommt seinen Kram zurück, wenn er was draus gelernt hat«, fauchte ich.

»Wir unterhalten uns morgen«, sagte Colleen.

»Mit dem rede ich nicht«, erwiderte ich.

»Ich will mich wirklich nicht mit dir streiten, Naomi«, sagte Tony und kam hinter Colleen die Treppe rauf. »Aber Regeln sind Regeln.«

»Gute Nacht«, sagte Colleen.

»Gute Nacht«, wiederholte Tony.

»Gute Nacht, Nomi!«, rief Pablo aus dem Flur.

»Ab ins Bett!«

So süß.

Ich saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett, schaukelte mit geschlossenen Augen vor und zurück. Das musste ich eine halbe Stunde lang gemacht haben, dann wurde es mir langweilig.

»Tony, du Arschgesicht«, flüsterte ich. »Du blödes verficktes Super-duper-Arschgesicht.«

Ich schloss die Augen.

Als ich mich um meinen Dad kümmern musste, war ich die Chefin gewesen. Ich konnte ins Bett gehen, wann ich wollte. Gucken, was mir gefiel. Machen, was ich wollte. Jetzt sagen mir Sozialarbeiter und irgendwelche Fremden, was ich machen soll.

5
EINE NEUE SAMMLUNG

Ich wälzte mich erst aus dem Bett, als Pablo, Sharyna und Tony aus dem Haus waren. Wartete, bis ich Tonys Truck abfahren hörte, dann zog ich die Vorhänge auf. Die Morgensonne zwang mich, die Augen zusammenzukneifen. Ich schaute hinaus in den Garten und hörte so ein nerviges Vogelgezwitscher in der Nähe. Hinten im Garten am Schuppen war ein Minifußballtor. Ein orangefarbener Ball lag in der Ecke vom Netz. Eine sauber gemähte Rasenfläche war auf drei Seiten von Blumen und Pflanzen umgeben.

Stufen führten von der Hintertür an einen kleinen Teich, der die Form einer Acht hatte. Sehr schick. Louise meinte ja, Arschgesicht ist Landschaftsgärtner oder so. Wenigstens ist er in seinem Job auf der Höhe. Ich kann mich nicht mal mehr erinnern, was hinter meiner alten Wohnung war – hab nie einen Fuß da rausgesetzt.

Ich schaute mir die DVDs aus Tonys Schlafzimmer an, die auf dem Boden verteilt lagen. Ich hob sie alle auf, setzte mich aufs Bett damit und ging sie durch. Die Verurteilten, Die glorreichen Sieben, Der Clou, Manche mögen’s heiß, Saturday Night Fever, Sarafina!, Babylon, Burning an Illusion. Affe hängt in den Seilen! Hat er auch was von diesseits der Jahrtausendwende?

Ich beschloss, Colleen zu suchen. Ich ging mit den DVDs raus in den Flur, sprang die Treppe runter und hörte die Waschmaschine. Das Geräusch kam aus dem Keller.

Ich öffnete die knarzende Tür und stieg eine kurze Treppe hinunter. Ich konnte getrockneten Matsch, Gras, Öl und Waschpulver riechen. Die Luft war feucht. Ich erinnerte mich an etwas aus meiner Vergangenheit. Es ließ mir das Blut gefrieren. »Du musst da nicht rein, Naomi.« Das war Dads Stimme. »Ich sehe doch, dass dich das fertigmacht. Wenn du willst, mach ich dir warmes Wasser in eine Schüssel, dann kannst du dich in deinem Zimmer waschen. Wenn du willst, kannst du dich immer da waschen.«

Ich schüttelte den Kopf und die Erinnerungsblase platzte.

Auf einer Seite des Kellers stapelten sich unzählige Gartengeräte und Werkzeuge. In einer Ecke entdeckte ich eine kaputte Schubkarre.

Ich kam unten an. Colleen war gerade dabei, Buntes von Weißem zu trennen. Sie trug ihr rot-gold-grünes Kopftuch. Pinke Slipper mit Monstergesicht umkuschelten ihre Füße.

»Oh, du hast mich erschreckt«, schmunzelte Colleen. »Willst du dein Frühstück?«

»Ich mach mir selbst was«, erwiderte ich.

Colleen schaute auf die DVDs in meinen Händen. »Hast du gut geschlafen?«

»Ja, besser als die Nacht davor.«

»Was möchtest du zum Frühstück?«

»Ich hätte gerne Speck und Rührei.«

»Gib mir noch ein paar Sekunden, dann …«

»Ich kann mir selbst Frühstück machen«, fiel ich ihr ins Wort.

»Ich bin sicher, dass du das kannst.«

»Für meinen Dad hab ich auch immer Frühstück gemacht«, sagte ich. »Jedenfalls wenn was im Kühlschrank war.«

Ich drehte mich um, wollte wieder die Treppe rauf. »Hätte ich fast vergessen«, sagte ich. Ich übergab die DVDs. »Hier, kannst du wiederhaben. Ist nichts dabei, worauf ich stehe. Ist alles ganz schön alt … tut mir leid wegen gestern Abend.«

»Danke, Naomi. Der Grund, warum …«

Bevor Colleen ihren Satz beenden konnte, hatte ich mich schon umgedreht und war wieder hochgelaufen. Ich wollte sie nicht beleidigen, aber so früh am Morgen war ich noch keinem Vortrag gewachsen. Und ich hatte echt Hunger.

Rühreier und drei Scheiben Speck später setzte Colleen sich zu mir an den Küchentisch. Ich schaute sie an, kippte mir noch mehr braune Sauce auf meinen Teller. Ein großes Glas Cola stand daneben.

»Danke noch mal, dass du die DVDs zurückgegeben hast«, sagte Colleen. »Und dass du dich entschuldigt hast. Ich wollte sagen, der Grund, warum wir Sharyna keinen DVD-Player in ihrem Zimmer erlauben, ist, dass wir nicht noch mehr Ablenkungen für sie wollen. Ist so schon schwer genug, sie abends dazu zu bringen, den Fernseher auszumachen.«

»Ihr habt doch auch einen DVD-Player im Zimmer«, wandte ich ein. »Sogar Blu-ray. Und Pablo hat nicht mal einen Fernseher.«

»Tony und ich müssen ja auch keine Hausaufgaben machen«, sagte Colleen. »Und wir lernen auch nicht lesen. Als wir angefangen haben, Pflegekinder aufzunehmen, bekamen sie immer alles, was sie wollten, in ihr Zimmer. Spiele, Fernseher, alles. Aber man lernt aus der Erfahrung.«

»Die beiden haben bei mir angeklopft«, sagte ich. »Und ich wollte ihnen zeigen, dass wir Freunde sind. Ich wollte nicht, dass sie Angst vor mir haben … manchmal passiert mir das.«

Colleen nickte. »Das verstehe ich«, sagte sie.

»Gut, dass wir uns da einig sind«, sagte ich.

»Ist nur so, ich glaube nicht, dass sie schon mal irgendwas dieser Art gesehen haben …«, Colleen stammelte, »wie das, was du ihnen gestern gezeigt hast. Sharyna hatte eine ganz schlechte Nacht.«

»Aber Pablo fand’s toll«, verteidigte ich mich. »Er hat sich weggeschmissen vor Lachen.«

»Ich glaube nicht, dass es ihm gefallen hat, Naomi. Kinder in seinem Alter tun manchmal so, als würden sie etwas toll finden.«

Wieder Sozialarbeitergequatsche.

»Horrorfilme haben mir nie was ausgemacht«, sagte ich. »Hab sie geguckt, seit ich sechs war. Mum ist immer zum Woodside Market und hat welche gekauft, für eins fünfzig das Stück. Später, wenn Dad weggetreten war und ich nicht in die Schule konnte, weil ich mich um ihn kümmern musste, hab ich sie nachmittags geguckt. Und Kim im Heim kennt so einen Koreaner, der DVDs verkauft. Er will fünf Pfund für eine, aber Kim gibt ihm nur drei. Die kann gut handeln.«

»Nicht jedes Kind ist wie du, Naomi. Viele bekommen Albträume.«

»Ich bin kein Kind!«, protestierte ich.

Hätte nicht laut werden sollen. Louise lag mir ständig deshalb in den Ohren.

Ich senkte meinen Ton. »Hatte Sharyna wirklich einen richtigen Albtraum?«

»Nein, aber sie hat sehr lange gebraucht, bis sie eingeschlafen ist«, sagte Colleen. »Ich musste ihr lange vorlesen.«

»Sie hätte was sagen sollen. Dann hätte ich’s ausgemacht.«

»Das wird sie nicht machen, Naomi. Sie will, dass du sie für cool hältst.«

Dagegen konnte ich nichts sagen. Warum hätte Sharyna nicht so cool sein wollen wie ich?

Ich trank den Rest meiner Cola. Colleen sah mir zu, wie ich mir die Lippen leckte und das Glas auf den Tisch stellte. »Wann kommt Louise dich abholen?«, fragte sie.

»Um zwölf«, erwiderte ich. »Sie geht mit mir mittagessen. Hab sie seit Monaten gefragt, ob wir nicht mal zu dem TGI in Cranerley gehen können, aber so viel will sie nicht lockermachen. Sag ihr nicht, dass ich’s gesagt hab, aber Louise ist Baronin Billo. Kims Sozialarbeiterin ist mit ihr zu TGI, und als Nats fünfzehn geworden ist, war sie mit ihrer bei Harvester. Aber Louise macht mit mir auf Getto, wir gehen immer nur zu McD oder Zubaretti’s Fish and Chips an der Ashburton High Street.«

»Soll ich dir schnell die Haare fertig machen, bevor du los musst?«

»Na klar … ich meine, ja bitte! Will nicht raus und aussehen, als hätten sie mich bei Fluch der Karibik nicht mehr genommen.«

»Okay. Dann geh duschen, danach steh ich dir zur Verfügung.«

Ich spülte schnell noch die Pfanne, den Teller und mein Glas und trocknete ab. Als ich alles in den Schrank geräumt hatte, merkte ich, dass Colleen mich beobachtete. »Danke, Naomi«, sagte sie.

Bei den Lokalnachrichten ging gerade die Mittagsschicht zu Ende. Wieder ein Bandenmord in Crongton. Sie hatten einen fünfzehnjährigen Brother mit dem Spitznamen Joe Grine gefunden, er hatte abgestochen im Crongton Stream in der Nähe von Gulley Wood gelegen. Affe kniet auf Nagelbrett! Ashburton ist schon toxisch genug, aber so wie die sich in Crongton bekriegen, hätte ich echt keinen Bock, dort zu wohnen.

Ich schnappte mir die Fernbedienung und zappte durch die Musiksender. Zu viel Werbung. Es klingelte. Colleen ging hin.

In der Diele hörte ich Louise. Ich drehte die Lautstärke runter und spitzte die Ohren, um was von der Konvo mitzuschneiden. »Tut mir leid, bin spät dran«, sagte Louise. »Hatte noch einiges an Papierkram abzuarbeiten. Alles in Ordnung? Gab’s Probleme?«

Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen und hielt mir den Mund zu.

»Äh, na ja«, räumte Colleen ein. »Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit wegen Naomis DVD-Sammlung. Sie hat Pablo und Sharyna erlaubt, bei einem Film mitzugucken.«

Meine Mad-Killer-Driller-DVD erfreute sich allgemein keiner großen Beliebtheit.

»Oh«, erwiderte Louise. »Die hätte ich ihr abnehmen sollen. Leider scheinen ihre Freundinnen auch drauf zu stehen.«

»Sie war ein bisschen ungehalten, als Tony sie ihr weggenommen hat«, sagte Colleen. »Woraufhin sie in unser Zimmer gegangen ist und einige unserer DVDs einkassiert hat, aber heute Morgen hat sie sie zurückgegeben und sich entschuldigt. Also alles wieder in Ordnung.«

»Gut«, sagte Louise.

»Kaffee?«, bot Colleen an.

»Das wäre wunderbar. Wo ist sie?«

Affe sitzt auf Blubberblasen! Die sind so scheiß höflich miteinander, wundert mich, dass sie sich nicht gegenseitig die Ärsche abwischen.

»Im Wohnzimmer«, erwiderte Colleen.

Ich schaltete den Fernseher aus, sprang mit einem Satz vor Louise in die Diele und flitzte in die Küche. Dort schaltete ich den Wasserkocher ein.

»Kaffee, Louise?«

Louise antwortete nicht. Und vergaß sich zu setzen. Stattdessen blieb sie ganz still stehen, stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete meine Frisur.

»Wie viele Sternchen von zehn?«, fragte ich, zwirbelte ein Zöpfchen zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Das ist … schick, Naomi.«

»Hat mir Colleen gemacht. Bringt auf jeden Fall mal Abwechslung zwischen meine Schultern.«

 

»Ja … tatsächlich mal was anderes«, sagte Louise. Endlich parkte sie ihr Hinterteil.

»Kekse?«, bot Colleen an.

»Heute nicht«, erwiderte Louise. Sie musterte meine Zöpfchen, als würde Tarzan sich von einem zum anderen schwingen. »Ich will mir so kurz vor dem Mittagessen nicht den Appetit verderben.«

»TGI?«, schlug ich vor.

Warum es nicht wenigstens versuchen, sie kann ja nur Nein sagen.

»Fang nicht wieder davon an«, erwiderte Louise. »Das ist zu teuer.«

Baronin Billo ist zurück. Zu ihrem nächsten Geburtstag schenk ich ihr eine Cap, auf der das steht.

»Kim ist mit ihrer Sozialarbeiterin schon da gewesen.«

»Ich bin aber nicht Kims Sozialarbeiterin.«

»Das hab ich gemerkt!« Ich hob die Stimme. »Die ist nämlich nicht geizig und lässt ihr Portemonnaie nur ab und zu mal Luft schnappen.«

»Hmmm?«, erwiderte Louise. »Bin ich dir nicht großzügig genug?«

»Wenn du’s wärst, wären wir schon längst auf dem Weg zu TGI.«

Keine Ahnung, was Colleen von unserem Schlagabtausch hielt. Sie stand mit verschränkten Armen da. Aber hey-de-ho, so reden Louise und ich nun mal miteinander.

»Du bist wohl nie zufrieden, oder?«, fuhr Louise fort.

»Doch, wenn du mit mir zu TGI gehst.« Ich kicherte.

Und machte Louise Kaffee. Ein Löffel Zucker und nicht zu viel Milch. Sie nahm einen Schluck und betrachtete erneut meine Frisur. Ich glaube nicht, dass sie die gerne auf meinem Passfoto gesehen hätte.

»Also, wohin fahren wir?«, wollte ich wissen. Sie nahm sich einen Vanillecremekeks, bevor sie antwortete.

»Monk’s Orchard.«

»Monk’s Orchard? Wozu denn das? Da sind lauter ausländische Nannys, Typen mit Strass am Kragen und alte Ladys mit dürren kleinen Kötern.«

»Es gibt dort ein sehr schönes Café«, erklärte Louise. »Das Friar’s Tuck.«

Ich verzog das Gesicht. »Das Friar’s Tuck? Ich esse in keiner Kirchenkantine. Diese scheiß Kirchen-Brüder sind die schlimmsten Fummler. Die haben nur deshalb so weite schwarze Kutten an, damit sie ihre erigierten …«

»Ausdrucksweise, Naomi«, fiel mir Colleen ins Wort.

»Tschuldigung«, sagte ich.

»Es ist in keiner Kirche, Naomi«, sagte Louise. »Es ist ab von der High Street. Die machen da auch tollen Nachtisch.«

Ich dachte drüber nach. Louise warf noch einen Blick auf meine Zöpfchen. »Na schön«, gab ich nach. »Aber wenn mich eine von den kleinen Graurücken blöd anguckt, kick ich ihr den Krückstock weg und mache Salami aus ihrem dürren Schoßhund.«

Ich schwöre, ich hab Colleen kichern hören. Sie gab sich Mühe, schnell wieder ernst zu gucken.

»Ich bin sicher, die werden nichts sagen«, behauptete Louise.

Eine Stunde später bogen wir in Monk’s Orchard in eine ruhige Straße ab und gingen zu Friar’s Tuck. Eine fette braune Katze lag faul auf dem Fensterbrett und beäugte mich. Das Café war klein, hatte nur acht Tische. Hauptsächlich waren Graurücken da und verkosteten Tee, verknusperten Kuchen und lösten Kreuzworträtsel. Wir setzten uns ans Fenster und ich nahm eine Speisekarte, schaute fünf Minuten durch. »Ich nehme den Pie mit Huhn und Pilzen, dazu Erbsenpüree, Pommes und eine große Cola.«

Louise zog ihre Jacke aus, legte sie auf den Stuhl neben sich und musterte erneut meine Haare. »Wessen Idee war das denn mit der neuen Frisur?«, wollte sie wissen. »Deine?«

»Ja. Colleen hat’s heute fertig gemacht.«

»Dann hat also weder Tony noch sie das vorgeschlagen?«

»Nein, war meine Idee. Mal was anderes, oder? Kim wird vor Neid sterben. Sie wollte die Haare immer schon haben wie die schwarzen Mädchen. Nats hat Glück, die ist schwarz und kann sich die Haare selbst machen. Einmal haben Kim und ich die Schule geschwänzt und sind in so einen Salon in Ashburton. Du weißt schon, wo die Friseure tageweise einen Stuhl mieten. Wir wollten uns Zöpfchen machen lassen, aber Kim hat vorher Schiss bekommen. Ich wär rein.«

»Ich finde, bei schwarzen Mädchen sieht das gut aus, aber …«

»Aber was? Bei mir nicht? Sharyna fand’s supertoll. Und Pablo auch. Willst du nicht bestellen?«

»Äh, doch, aber du darfst deine Identität nicht aufgeben, Naomi.«

»Meine Identität?«, fragte ich. »Wusste gar nicht, dass ich eine habe. Was hab ich denn für eine Identität?«

Louise rutschte auf ihrem Stuhl herum. »Na ja, äh«, stammelte sie. »Die Sache ist die, Naomi, wenn du eine andere ethnische Identität übernimmst, läufst du Gefahr, die eigene zu verlieren. Beim Jugendamt gibt es alle möglichen Vorschriften, die Eltern in der Notpflege untersagen, Einfluss auf die kulturelle Identität der Kinder zu nehmen.«

»Die was untersagen?«, fragte ich. »Keine Ahnung, wovon du redest mit deinem ganzen kulturellen Kauderwelsch. Ich will einfach nur salonfähig aussehen. Sagst du mir nicht immer, dass ich mehr auf mein Erscheinungsbild achten soll?«

»Ja, das sage ich, Naomi, aber …«

»Aber was?«, widersprach ich.

Louise sog lange Luft ein. »Du könntest etwas von dir selbst verlieren, die wahre Naomi Brisset«, sagte sie. »Zum Beispiel würdest du doch von einem schwarzen Jungen, der keine Ahnung von Schottland hat, auch nicht erwarten, dass er einen Kilt trägt?«

»Was ist denn ein Kilt? Ein kariertes Kondom oder was? Ich denke, du hast nicht mehr alle Klöße im Gulasch, Louise. Die wahre Naomi Brisset will Zöpfchen so wie Solange Knowles und Alicia Keys. Findest du nicht, dass die megageil aussehen? Kim und Nats finden das auch.«

»Doch, die sind beide sehr attraktiv.«

»Warum machst du dir dann ins Hemd wegen meinen Zöpfchen? Wenn wir dieses Jahr einen guten Sommer kriegen, seh ich zu, dass ich braun werde. Ich würde gerne aussehen wie Rita Ora.«

»Rita Ora ist nicht braun, Naomi.«

»Bist du sicher? Ich finde, die sieht braun aus. Entweder von der Sonne, oder sie hat sich so eine Power-Sonnenbank ins Schlafzimmer gestellt und schläft nachts drauf.«

Eine Kellnerin kam und nahm unsere Bestellung auf. Louise entschied sich für einen langweiligen Salat. Wozu soll das gut sein, wegen einem Salat bis nach Monk’s Orchard zu fahren? Ich bestellte absichtlich den teuersten Nachtisch – Tiara-Sue. Ihr Portemonnaie brauchte eine Abspeckkur.

»Am Samstag kommt eine neue Pflegefamilie aus dem Urlaub zurück«, sagte Louise. »Die Hamiltons. Ich dachte, vielleicht passt du ganz gut zu denen. Die haben eine neunzehnjährige Tochter. Sie studiert an der Uni und könnte einen guten Einfluss auf dich haben.«

»Weiß nicht«, sagte ich. »Ich will erst mal sehen, wie’s mit Colleen läuft. Die ist super. Wusstest du, dass sie selbst im Heim war?«

»Ja, weiß ich. Aber was ist mit Tony? Verstehst du dich denn auch mit ihm?«

»Ungelogen«, erwiderte ich, »der kann schon ganz schön arschgesichtig sein. Macht voll auf Mann-im-Haus. Erinnert mich ein bisschen an Rafi. Rafi wollte mir auch Vorschriften machen. Aber ich hab keine Angst vor Tony und ich glaub auch nicht, dass er ein Fummler ist. Er ist schön unten geblieben, als ich geduscht hab. Und ich mag Sharyna und Pablo, kann mich um die beiden kümmern. Vielleicht fragen mich Tony und Colleen ja, ob ich babysitten will, wenn sie mal in den Urlaub wollen? Wo wohnen denn diese Hamiltons?«

»Spenge-on-Leaf«, erwiderte Louise. »In einem tollen Haus.«

»Spenge-on-Leaf«, wiederholte ich. »Das ist doch, wo die Reichen wohnen. Kim hat mir erzählt, sie ist mal mit einem von da zusammen gewesen. Sie dachte, er ist zwanzig …«

»Du sollst nicht immer alles glauben, was Kim dir erzählt«, sagte Louise.

»Willst du sagen, dass sie lügt?«

»Äh, nein … egal, die Hamiltons wohnen an einem Hang und haben eine wunderschöne Aussicht.«

»Eine wunderschöne Aussicht«, wiederholte ich. »Wenn ich eine schöne Aussicht will, guck ich mir Postkarten an.«

»Hmmm.«

»Du sollst nicht hmmm machen, wenn ich was sage«, sagte ich. »Im Heim war so ein Junge aus Swim Lanka. Schöne schwarze Haare hatte der. Früher hatte er in einem Haus am Strand gewohnt, aber so wie er’s erzählt hat, war’s wohl eher eine Hütte – zum Kacken musste er nach draußen. Still war der. Würdest du nicht glauben, was der für eine Scheiße hinter sich hatte. Die schöne Aussicht hat ihm nicht viel geholfen. Tatsächlich hat sie seiner kleinen Cousine sogar das Leben gekostet. Er hat mir ein Bild von ihr gezeigt – sie hatte …«

»Das ist was anderes.« Louise schnitt mir wieder das Wort ab.

»Diese Hamiltons …«, fragte ich. »Was sind die von Beruf?«

»Tim, Mr Hamilton, ist Architekt. Er hat Aufträge im ganzen Land und darüber hinaus. Seine Frau Susan arbeitet ehrenamtlich im Jugendzentrum in der South Smeckenham Road und hat viel Erfahrung im Umgang mit Kindern jeden Alters. Sie ist jetzt seit fast einem Jahr in der Kindernothilfe.«