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»Sicher«, erwiderte Sharyna.

Louise wartete, bis Sharyna die Tür zugemacht hatte. »Wirst du hier klarkommen?«

»Solange der nicht an mir rumfummelt.«

»Ich denke, dass du allmählich ein bisschen paranoid wirst.«

»Die sind alle gleich«, widersprach ich. »Kim hat mich vor Männern gewarnt, die Pflegekinder aufnehmen. Bei ihr haben es ganz viele versucht. Sie hat mir gesagt, dass ich denen nicht über den Weg trauen soll. Sieht man doch auch andauernd in der Zeitung und in den Nachrichten.«

Louise bedachte mich mit einem einwandfreien echt-jetzt-Blick. »Nicht alle Männer sind so wie in den Nachrichten«, sagte sie. »Und Kim kennt auch nicht alle. Sie ist kein allwissendes Orakel.«

»Orakel? Hör auf, Ausländisch zu reden. Wenn der was bei mir versucht, schneid ich ihm den Schwanz ab. Das lass ich mir nicht gefallen!«

Louise tätschelte mir die Schulter. »Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Hör endlich auf, alles zu glauben, was Kim sagt. Manchmal … dehnt sie die Wahrheit.«

»Genau wie Sozialarbeiter.«

Louise schüttelte den Kopf.

»Gib bloß mir nicht die Schuld, wenn du später heute Nacht noch einen Notruf kriegst«, setzte ich hinzu.

»Keine Angst. Mr Golding ist einer von den Guten.«

»Es gibt keine guten Männer, die Kinder in Pflege nehmen. Die haben alle … wie sagt man? Die führen alle was im Schilde.«

Louise stemmte die Hände auf die Hüften. »Meinst du, ich würde dich bei jemandem unterbringen, der nicht in Ordnung ist?«

»Du hast mich ja auch zu den Holmans geschickt. Das war der absolute Oberfummler, und ihr hab ich schon am ersten Tag an der lila Leggings und den pinken Turnschuhen angesehen, dass was nicht stimmt.«

»Hmmm.«

»Komm mir nicht mit hmmm«, sagte ich. »Das heißt, du denkst, ich rede Scheiße.«

Louise konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

»Wann kommst du wieder?«, wollte ich wissen.

»Mal sehen. Heute ist Mittwoch. Wir sehen uns Freitagvormittag.«

»Kriege ich kein Taschengeld?«, fragte ich. »Kann doch sein, dass mir diese Goldings was husten. Denk dran, wie der sich ins Hemd gemacht hat, wegen dem Fernseher.«

»Ich bin sicher, sie geben dir was.«

Ich hielt die Hand auf. »Und wenn nicht? Ich hab keinen Bock, Opfer von Sparmaßnahmen zu werden.«

»Sie werden dir geben, was sie für angemessen halten.«

»Und wenn nicht?«, wiederholte ich. »Außerdem ist das, was du angemessen findest, nicht dasselbe wie das, was ich angemessen finde.«

Louise bedachte mich erneut mit einem echt-jetzt-Blick, schüttelte den Kopf und nahm ihr Portemonnaie aus der Tasche. Jede Menge Karten waren drin. Ich frage mich, was Sozialarbeiter bezahlt bekommen? Sie gab mir einen Zehn-Pfund-Schein.

»Gib’s nicht für Zigaretten aus«, ermahnte sie mich. »Kannst auch was davon zu den Schokokeksen beisteuern, die du haben willst.«

Ich steckte den Schein in das Reißverschlussfach meiner Reisetasche.

»Die Goldings sind gute Leute«, setzte Louise noch mal an. »Sie nehmen seit Jahren Kinder in Pflege.«

Affe fährt Ski! Merkt die nicht, dass sie sich wiederholt? Die wird schon senil.

»Dasselbe hast du auch über die Holmans gesagt«, behauptete ich.

»Ein oder zwei Wochen lang wird das hier gehen, bis ich was Passenderes gefunden habe.«

»Hast du schon gesagt.«

»Benimm dich.« Louise lächelte.

Sie machte die Tür auf, zögerte aber beim Rausgehen, schenkte mir ein weiteres Lächeln. Ungelogen, ich sah sie nicht gerne gehen. Wieso kann sie mich nicht bei sich aufnehmen? Ich würde ihr schön viele Scheine aus den Rippen leiern. Ich nahm mein Erdmännchen und setzte es mir auf den Schoß.

3
DAS BAD-PROBLEM

Es war schon voll spät. Ich saß mit meinem pinken Handtuch über den Schultern auf dem Bett. Colleen stand im Eingang, sah mich an.

»Er ist unten«, beharrte sie. »Du kannst in meinem Zimmer nachsehen, wenn du willst.«

»Vielleicht ist er ja bei Pablo oder bei Sharyna«, sagte ich. »Habt ihr einen Dachboden? Er kann doch auch da oben sein.«

»Tone!«, rief Colleen. »Ruf mal was, damit Naomi glaubt, dass du unten bist.«

»ICH BIN UNTEN, Naomi!«

»Siehst du«, sagte Colleen. Ungeduld nagte an ihren Wangen. Kim hatte gesagt, ich soll unbedingt meinen Fummler-Radar einschalten.

»Sofern mein Ehemann nicht gelernt hat, wie man seine Stimme in unterschiedliche Teile des Hauses transportiert, ist er unten«, versicherte mir Colleen.

»Bleibt er die ganze Zeit unten, solange ich dusche?« Ich wollte das bestätigt haben.

»Natürlich.«

»Versprich es.«

»ICH VERSPRECHE ES, NAOMI!«, brüllte Tony. »Mit Glöckchen und rosa Einwickelpapier.«

So eine Frechheit! Jetzt benutzt er meinen eigenen Text gegen mich. Immerhin hat er Humor. Kim hätte gefallen, wie entschieden ich darauf bestand, dass Tony unten parkte, solange ich mir den Mief vom Körper spülte. Ich nahm mein Erdmännchen und stand auf. Wortlos flitzte ich an Colleen vorbei in den Flur. Eine kurze Sekunde lang blieb ich stehen, um die Treppe runterzuschauen, dann ging ich ins Bad. Meine Nerven zischten und knisterten, als ich die Tür aufzog. Ich schloss die Augen, trat einen Schritt vor. War okay. Ein ganz normales Bad. Die Wanne war sauber. Ich roch irgendein Putzmittel, stieß eine große Lunge voll Atem aus und schloss die Tür hinter mir.

Ich stand nicht auf Bäder, aber ich musste nachdenken. Traurigkeit nagte an meinem Herzen. Der Tag war irre lang gewesen. Ich setzte mein Erdmännchen hinter den Duschschlauch, damit ich nicht runterschauen musste. Ich wünschte, es könnte lächeln. Ich schloss die Augen und ließ mir Wasser über den Kopf laufen.

Zweimal Abschrubben später klopfte jemand an die Tür.

»Alles klar, Naomi?«, fragte Colleen.

»Ist er noch unten?«, fragte ich.

»Ist er. Keine Angst. Er kommt erst rauf, wenn du fertig bist.«

Kurz nach elf lag ich im Bett, mein Erdmännchen neben mir. Müdigkeit packte mich. Colleen stand wieder an der Tür und sah mich an. »Wenn du was möchtest, dann sei nicht schüchtern und bitte drum. Und wenn du nachts Hunger oder Durst bekommst, dann gehst du einfach runter in die Küche und nimmst dir was.«

Ich nickte. »Lass das Licht an«, beharrte ich. »Und die Tür offen … aber nicht zu weit.«

»Du hast eine Lampe neben dem Bett auf dem Nachttisch.«

»Die will ich nicht. Lass das große Licht an.«

»Okay, dann gute Nacht.

»Kannst du mir morgen die Haare machen wie Alicia Keys oder Solange – das ist die kleine Schwester von Beyoncé.«

»Ich kann’s versuchen.«

»Und vergiss die Schokokekse nicht«, sagte ich mit einem Lächeln.

Louise bläute mir ewig ein, dass ich mehr lächeln sollte.

»Wird gemacht«, erwiderte Colleen.

Ich glaube, das geht hier. Colleen ist spitze.

Ich drehte mich zu dem Fenster um und umarmte mein Erdmännchen. Eigentlich sollte ich ihm einen Namen geben, aber was für einen? Ich hab ja niemanden, nach dem ich es benennen könnte. Mum kann ich es nicht nennen. Ich glaub nicht, dass sie zum Tier umgetauft werden will. Ich schloss die Augen, konnte aber nicht schlafen.

Später in der Nacht sah Colleen nach mir. Ich tat, als würde ich schlafen. Eine halbe Stunde später rollte ich aus dem Bett und schlich mich durch den Flur ans Schlafzimmer der Goldings. Das hatte ich in der ersten Nacht bei den Holmans auch gemacht. Ich wollte runterladen, was die über mich redeten.

Die Tür war nur angelehnt. Leise liefen die Nachrichten. Colleens Stimme: »… dass sie zu still wäre, kann man ja nicht gerade behaupten«, sagte sie. »Ich glaube, die kann ganz schön aufbrausen.«

»Das kannst du laut sagen«, sagte Tony. »Aber ich kann die Regeln nicht zu sehr schleifen lassen, bloß weil sie nicht lange bei uns bleiben wird.«

»Nein, kannst du nicht«, sagte Colleen. »Aber wie du sagst, es wird ja wohl nur für ungefähr eine Woche sein, bis Louise was anderes findet.«

»Länger geht es sowieso nicht«, sagte Tony. »Vergiss nicht, dass Louise gesagt hat, wenn sie länger bleibt, müssen wir alle möglichen Sonderanträge ausfüllen, wegen der Anti-Rassismus- und Anti-Diskriminierungsvorschriften.«

»So weit wird’s nicht kommen«, sagte Colleen. »Aber bist du sicher, dass du einverstanden bist? Vergiss nicht deinen Dad.«

Langes Schweigen. Im Fernsehen redete jemand über Konflikte in Nahost. Ich fragte mich, was das für ein Drama mit Tonys Dad war.

»Hauptsache, sie tut sich nichts an«, erwiderte Tony schließlich. »Um meinen Dad kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Vielleicht wird das ja gar nicht nötig sein.«

»Ich hol mir noch einen Schlummertrunk«, sagte Colleen. »Willst du auch was?«

Ich hörte Tony lachen. »Pass bloß auf, dass Louise nichts von deiner nächtlichen Trinkerei mitbekommt«, sagte er. »Dann gibt’s gleich eine Inquisition durchs Jugendamt.«

Ich fragte mich, was eine Inquisition war. Ich hatte vielleicht ein paar Probleme, aber ich war nicht so irre, dass ich mir Stacheldraht um die Pulsadern wickeln würde. Dieser Tony kannte mich schlecht.

Leise schlich ich in mein Zimmer zurück, konnte aber immer noch nicht schlafen.

4
MORGENDLICHE EILE

Ich setzte mich im Bett auf und schaute mir das Kommen und Gehen meiner neuen Pflegefamilie an, die sich für einen neuen Arbeitstag bereit machte. Ich lachte, als Pablo in der Diele hockte und zwei verschiedenfarbige Socken anzog. Tony musste ungeduldig vor dem Badezimmer warten, bis Sharyna endlich fertig geduscht hatte. Ich hatte mein Stormzy-T-Shirt und meine pinke Jogginghose an – das war mein Schlafanzug – und beschloss, aufzustehen und runterzugehen. Mein Erdmännchen nahm ich mit. Gestern Abend hatte ich nicht richtig aufgepasst, aber jetzt sah ich die gerahmten Bilder an den Wänden neben der Treppe. Sie zeigten schwarze Frauen, die Wäsche in einem Fluss wuschen und Früchte in Körben auf den Köpfen trugen. Da war ein Foto von schwarzen Männern in zerrissenen Gefängnisklamotten, die schwer an Bahngleisen schufteten. Darunter stand: Wir bauen eure Häuser, wir bestellen eure Felder, und ihr habt nur Verachtung für uns. Ich hielt inne. »Die haben da in dem Land wohl keine Einkaufswagen und keine Waschmaschinen«, murmelte ich vor mich hin. Vielleicht konnten ja Angelina Jolie, David Beckham oder so jemand von einer Wohltätigkeitsorganisation was tun.

 

Ich fand Colleen in der Küche, wo sie Brote schmierte. Sie trug einen himmelblauen Morgenmantel und ein rot-gold-grünes Kopftuch.

»Guten Morgen, Liebes«, begrüßte mich Colleen. »Hast du gut geschlafen?«

»Nein«, erwiderte ich.

»Vielleicht in der zweiten Nacht. Ist immer schwer, in einem neuen Bett richtig zur Ruhe zu kommen.«

Da hatte sie nicht unrecht. Ich versuchte alle Betten zu zählen, in denen ich gepennt hatte, seit mich das Jugendamt in die Fürsorge genommen hatte.

Die Kühlschrankmagneten lenkten mich ab. Da war ein Rasta, der in einer Hängematte schlief. Er hatte einen fetten Joint im Mundwinkel. Dann war da ein Mann mit einem Sombrero und einem Zwirbelbart, Barack Obama, der sich an seine Frau schmiegte, und ein grinsendes Kamel aus Tunesien. Wo ist das? Ich überlegte, wie viele Magneten Dad an seinem Kühlschrank hätte haben können, wenn er nicht so viel gesoffen hätte.

»Ich will Kaffee«, sagte ich.

»Lass mich kurz die Sandwiches fertig machen, dann kümmere ich mich um dich.«

»Ich kann ihn mir selbst kochen«, bot ich an. »Ich bin ja nicht bescheuert.«

»Kaffee und Zucker sind im Schrank.«

Ich füllte den Wasserkocher und gab zwei Teelöffel Kaffee und drei Teelöffel Zucker in einen I-love-Washington-DC-Becher. Nachdem ich heißes Wasser draufgegossen hatte, starrte ich Colleen lange an. Sie beobachtete jede einzelne Bewegung von mir. Dann holte ich die Milch aus dem Kühlschrank, gab ein bisschen was in meinen Becher und rührte um. Colleens Scheinwerfer nervte. Der Kaffee kleckerte auf den Tisch. »Tschuldigung«, sagte ich. »Aber du wirst mir ein bisschen vertrauen müssen. Ich kann so was alleine. Ich hab mich ewig lange um meinen Dad gekümmert. Das Einzige, was ich nicht für ihn gemacht hab, war, ihm den Arsch abwischen.«

Colleen griff nach einem Lappen in der Spüle und beseitigte die Kleckerei. »Schon gut«, lächelte sie.

Ich setzte mich, probierte meinen Kaffee und beschloss, noch einen Löffel Zucker mehr zu nehmen. »Warum kümmerst du dich freiwillig um die Kinder von anderen?«, fragte ich.

Colleen packte Brote, Äpfel und Tetrapacks Saft in zwei Behälter und erwiderte: »Ich … ich konnte keine eigenen Kinder bekommen, deshalb …«

»Hat deine Kiste nicht funktioniert?«, fiel ich ihr ins Wort. »Ich kannte mal eine Frau, bei der war das auch so, die hat dann so einen Vierjährigen aus meinem alten Heim adoptiert. Bei der hat auch die Kiste nicht funktioniert. Als sich meine Freundin Kim endlich getraut hat, sie danach zu fragen, wollte sie aber nicht drüber reden. Kommt das, weil der Mann da was kaputt macht, wenn er sein Ding reinschiebt?«

»Äh, nein gar nicht«, erwiderte Colleen. Ich bin sicher, dass sie rot geworden ist. »Manche Frauen können aus gesundheitlichen Gründen keine Kinder bekommen.«

»Das Problem hatte meine Mum bei mir nicht«, sagte ich. »Sieht man ja, sie hat mich ja bekommen. Logisch. Aber ich erinnere mich, dass ihr eine Sozialarbeiterin gesagt hat, noch mehr sollte sie lieber nicht machen.«

»Ach, wirklich?«

»Ja, Mum war schwanger von dem Kerl, der bei uns im Gästezimmer gewohnt hat. War ein Ausländer, hatte aber was drauf. Er hat mir in Mathe geholfen und das Rohr unter der Spüle repariert. Manchmal hat er uns ein paar Scheine zugesteckt für die Gasrechnung. Ich konnte seinen Namen nicht aussprechen, deshalb hat Mum gesagt, ich soll ihn einfach Rafi nennen. Wenn Mum platt war, hat er mir Kaffee gemacht. Ganz starken. Ich musste immer voll viel Zucker reinmachen.

Hat ihm nicht gefallen, wenn Dad zu Besuch gekommen ist – da gab’s immer jede Menge Geschrei und Dresche. Deshalb hat mich das Jugendamt dann auch auf die Liste mit den Gefährdeten gesetzt.«

»Verstehe«, nickte Colleen.

»Eigentlich lief’s aber noch ganz okay, bis Mum das Baby von Rafi verloren hat«, fuhr ich fort. »Danach hat sie’s noch mal versucht, musste es aber abtreiben. Und das fand Rafi scheiße. Er ist in seiner komischen Sprache total hochgegangen und hat Mum sitzen lassen. Danach war sie voll neben der Spur. Ich glaub nicht, dass sie noch mal wieder durchgeblickt hat. Sie war immer ganz lange im Bad und hat nachgedacht. Du hast ja meine Akte gelesen und weißt, was passiert ist.«

Colleen nickte. Sie hatte aufgehört mit dem, was sie gemacht hatte, und stand jetzt still. Sie schenkte mir ihre gesamte Aufmerksamkeit. Erzählte ich zu viel? Ach, Pipapo & Co., steht ja sowieso alles in meiner Akte.

»Hast du schon die Schokokekse geholt?«, wechselte ich das Thema. »Vollkorn mit Schokoüberzug, Schokobutterkeks oder Schokostäbchen mag ich am liebsten. Ach, und diese Marshmallows mit dem Klecks Erdbeer drin.«

»Teekuchen«, erwiderte Colleen.

»Genau. Die liebe ich auch. Hast du schon mal abgetrieben? Tut das weh?«

Colleen schaute mich komisch an und schluckte schwer. »Äh, nein. Und die Kekse hab ich auch noch nicht geholt. Hatte noch keine Zeit, aus dem Haus zu gehen. Willst du nachher vielleicht mitkommen?«

»Kannst du den Erdbeerjoghurt mit dem Erdbeer-Dip holen? Der schmeckt obergeil mit Schokokeksen.«

Pablo sauste in seiner Schuluniform, schwarze Hose und lila Pulli, in die Küche. An seiner Schulter hing eine blaue Nike-Tasche und dengelte ihm an die Knie. Seine Schnürsenkel, sein Gürtel und seine Hemdmanschetten waren offen. Suuupersüß. Colleen schüttelte den Kopf und lächelte. »Was soll ich nur mit dir anstellen? Komm her.«

Ich musste laut lachen. »Ich mach das schon«, bot ich an.

Ein bisschen unsicher wechselte Pablo Blicke mit Colleen, während ich ihm die Schnürsenkel zuband, den Gürtel feststeckte, den Riemen seiner Tasche kürzer zog und seine Ärmelknöpfe schloss. Er schenkte mir ein erstklassiges Lächeln. »Danke. Wie heißt du noch mal?«

»Naomi.«

»Danke, Nomi.«

Er rannte wieder raus. »Warte, Pablo«, schmunzelte Colleen. »Hast du nicht was vergessen?«

Pablo drehte sich um. Er grinste wie in einer Quizsendung und rannte noch mal in die Küche zurück. Colleen gab ihm seine Brotdose. »Du würdest deine Füße vergessen, wenn sie nicht an deinen Beinen dran wären! Hab einen schönen Tag. Nicht an den Baum auf dem Spielplatz treten und dem Hund unten an der Straße keine Grimassen schneiden, wenn du ihn siehst.«

Pablo lachte und flitzte mit Affenzahn durch die Diele. »Sharyna! Ich bin fertig. Du hast gesagt, ich soll mich beeilen, und jetzt bist du selbst nicht fertig!«

»Komme schon!«

Ich trank meinen Kaffee. Ich fragte mich, wie es wäre, wenn ich eine kleine Schwester oder einen Bruder hätte, um die ich mich kümmern könnte.

»Früher musste ich vor der Schule immer für meinen Dad Brote schmieren«, sagte ich. »Dann hab ich ihn geweckt und ihm gesagt, wo ich sie hingestellt hab. Wenn ich viel fluche, dann ist mein Paps schuld daran – morgens hat er immer erst mal die Luft verpestet. Dann ist er aufs Klo. Hätte genauso gut gleich sein Bett da reinstellen können. Manchmal musste ich in die Spüle pinkeln, so lange hat das gedauert. Und wenn ich aus der Schule gekommen bin, musste ich meistens erst mal das Klo putzen, weil Dad reingekotzt hatte. Wenn ich ihn nach Geld für Domestos gefragt hab, hat er mir da welches gegeben? Nein!«

»Nicht … schön«, sagte Colleen. Sie hatte ihre Mitleidsmiene aufgesetzt.

Ich hörte Schritte die Treppe runterstampfen. Tony trug eine blaue Latzhose über einem schwarzen T-Shirt. Seine dicken grauen Socken hatten Löcher. Ein Bleistiftstummel klemmte hinter seinem linken Ohr. »Morgen, Naomi«, grüßte er. »Morgen, Colleen. Sind die Sandwiches fertig?«

Ich warf einen Seitenblick auf Tony. Er küsste Colleen auf die Wange. Ich konnte mich nicht erinnern, dass Dad oder Rafi so was bei Mum am frühen Morgen gemacht hätten. »Fast«, erwiderte Colleen. »Apfel oder Orange?«

»Beides«, erwiderte Tony. Er setzte sich mir gegenüber. »Und wie war die Nacht?«

»Nicht so gut«, erwiderte ich. »Konnte nicht schlafen.«

»Das ist ganz klar, ist ja schon aufregend, in ein neues Zuhause zu ziehen.«

»Aufregend?«, wiederholte ich. »Was hast du denn genommen? Das ist nicht mein Zuhause hier. Ich hatte schon kein richtiges Zuhause mehr, seit … das ist nur ein Platz, wo ich vorübergehend meine müden Knochen ablegen kann. Nächstes Jahr um diese Zeit hast du schon vergessen, wer ich bin. Ich hab nicht den Blassesten, wo ich dann sein werde. Aber das bin ich ja gewohnt.«

Tony wechselte Blicke mit Colleen. »Wir tun beide, was wir können, damit du dich hier zu Hause fühlst, Naomi. Solange du hier bist.«

Ich dachte wieder an Dad. Dann stellte ich meinen Becher auf den Tisch, biss mir auf die Oberlippe und verschränkte die Arme.

»Ich muss los«, sagte Tony. »Habt einen schönen Tag, ihr beiden.«

Ich sah ihm aus dem Augenwinkel nach. Ich wusste, dass er’s gut machen wollte, aber Kims Warnungen wirbelten mir durch den Kopf.

»Sharyna!«, rief Tony.

Eine Minute später hörte ich die Haustür zuschlagen. Tonys Pick-up fuhr davon. Ich linste in meinen Kaffeebecher. »Tut der Sex mit ihm weh?«, fragte ich.

Colleen stellte eine Pfanne auf den Herd und wurde wieder rot.

»Äh, hm. Wenn, äh … wenn man sich in einer liebevollen Beziehung befindet, sollte Sex überhaupt nie wehtun.«

»Meine Freundin Kim sagt, es tut weh. Zieh dein Fickding aus mir raus, hat sie zu ihrem letzten Freund gesagt.«

»Ausdrucksweise, Naomi.«

»Tschuldigung«, sagte ich.

»Vielleicht … vielleicht war’s ja gar keine liebevolle Beziehung für deine Freundin Kim?«

Sozialarbeiter- und Sexualkundegequatsche.

»Konnte gar nicht mehr mitzählen, mit wie vielen Typen Kim was gehabt hat«, sagte ich. »Glaub nicht, dass sie auch nur in einen davon verliebt war. Jetzt hat sie eine Freundin. Darf ich noch Würstchen zu den Eiern?«, fragte ich. »Und Baked Beans, wenn du welche hast.«

»Selbstverständlich.«

»Machst du mir heute die Haare?«

»Wenn wir im Supermarkt waren.«

»Wann hattest du zum ersten Mal Sex?«

»Sind das wirklich Fragen, die man einer Erwachsenen stellt?«, fragte Colleen. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und fixierte mich. »Ich weiß, dass du Dinge erlebt hast, die ein Mädchen in deinem Alter nicht erleben sollte, aber du bist trotzdem erst vierzehn.«

»Louise sagt immer, ich soll erwachsen über so was reden«, sagte ich. Das war nicht gelogen.

Sie tat zwei dicke Würstchen in die Pfanne. Gut. Ich mag die dicken Fetten.

»Louise hat das gesagt?«

»Ja, hat sie«, erwiderte ich. Ich äffte Louise nach: »Natürlich darf man über Sex sprechen, vorausgesetzt man tut es auf erwachsene Weise.«

Colleen grinste etwas bemüht. »Okay«, sagte sie.

»Also, raus damit.«

Colleen holte tief Luft. »Ich war viel zu jung«, sagte sie. »Vierzehn.«

»Vierzehn«, wiederholte ich. »Bist du sicher, dass du noch nie abgetrieben hast? Jedenfalls warst du nicht die Jüngste, von der ich gehört hab. Ich kenne ein Mädchen, die hat sich schon mit dreizehn die volle Spermaladung abgeholt. Connie Richards. Die war ein Schwanzschwamm, hat sie aufgesogen. Die hat mit Typen gefickt …«

»Ausdrucksweise, Naomi.«

»Und sie war selbst schuld, dass sie genagelt wurde«, fuhr ich fort. »Sie hat mir gesagt, sie will ein Baby haben, damit sie sich um jemanden kümmern kann. Ihre Sozialarbeiterin hätte ihr lieber ein Kaninchen oder so schenken sollen. Aber irgendwie hat sie mir leidgetan. Ihre Mum war ständig weg und sie hat ewig auf ihre kleine Schwester aufpassen müssen. Der Typ, mit dem sie’s gemacht hat, hat echt abgewichst ausgesehen – bei Love Island hätte der keine Chance gehabt. Der hatte so kleine Vulkane um den Mund rum, und seine Haare waren so fettig, dass man Dinoschenkel drin hätte frittieren können. Keine Ahnung, wie sie’s über sich gebracht hat, dem die Zunge in den Hals zu schieben. Wenn ich fünfzehn bin, such ich mir auch einen, und der wird nicht so aussehen. Auf keinen Knall, Herr Fall. So notgeil bin ich nicht.«

 

Colleen wendete die Würstchen. Ich dachte, ich hätte ein Viertellächeln auf ihren Lippen gesehen. »Dreizehn … ist viel zu jung, um zu wissen, was man will«, sagte sie.

»Wie warst du denn drauf, als du dreizehn warst?«, fragte ich.

Colleen spülte sich die Hände ab, dann setzte sie sich zu mir an den Tisch. »Ich hab in einem Kinderheim gelebt«, packte sie aus.

»Kein Scheiß?«

Colleen nickte. »Mein Dad ist abgehaun. Meine Mum ist nicht alleine klargekommen. Kennt man ja, die Geschichte.«

»Hat sie dich auf den Rathausstufen abgelegt, oder wie? Ist meiner Freundin Bridget passiert. Die erzählt ständig davon. Das hat sie wirklich fertiggemacht, wenn sie zum Beispiel in einen verknallt ist, der sie nicht mit dem Arsch anguckt, will sie sich gleich umbringen. Blöde Kuh! Ist so eine East-Ender-Mama mit großer Klappe. Ich meine, wie zum Teufel kann die sich dran erinnern, dass sie im Alter von sieben Monaten auf den Stufen vor dem Rathaus von Ashburton abgelegt wurde?«

»Ich wurde nirgendwo abgelegt.«

»Was denn dann?«, wollte ich wissen.

»Ich war sechs, als ich ins Heim gekommen bin«, sagte Colleen. Sie machte einen Punkt und sah mich durchdringend an. Ich glaube, sie wollte wissen, ob sie mir ihren persönlichen Kram anvertrauen konnte. Ich grinste wie ein Clown auf der Party einer Fünfjährigen.

Es funktionierte.

»Mum hat mich an dem Tag ganz früh geweckt«, fuhr Colleen fort. »Sie steckte mich in die Wanne und wusch mir die Haare. Hat sie geföhnt, geflochten und kleine Bantu-Knots gemacht. Dann hat sie mir meine Sonntagsklamotten angezogen, wie für die Kirche – ein gelbes Kleid, weiße Socken und rosa Sandalen. Oh Gott, das gelbe Kleid hab ich geliebt. Ich sah so unschuldig aus wie ein Chormädchen.«

»Gelbes Kleid, weiße Socken und rosa Sandalen«, wiederholte ich. »Ich wette, da haben die Fummler Stielaugen gekriegt. Von denen gibt’s jede Menge in der Kirche – dahin gehen die chillen. Kim hat mich immer gewarnt. Sie hat gesagt, meistens sind das Leute, die man kennt, Onkel und ältere Cousins und so. Wenn er dir Süßigkeiten schenkt, will er was von dir. Hat Kim immer gesagt.«

Colleen bedachte mich mit einem Naomi-hat-nicht-mehr-alle-Gurken-im-Salat-Blick. Sie fuhr fort. »Bis heute weiß ich nicht warum, aber Mum hat ein Taxi bestellt. Es war nur eine halbe Meile bis zum Sozialamt. Wir hätten auch zu Fuß gehen können. Sie hatte lauter Ein-Pence- und Zwei-Pence-Münzen in einer Whiskyflasche. Die hat sie rausgeholt, in kleine durchsichtige Tütchen sortiert und in die Handtasche gesteckt. Damit hat sie die Taxifahrt bezahlt. Die weißen Handschuhe, die meine Mum an dem Tag getragen hat, werde ich nie vergessen. Sie hat sie auf dem Markt gekauft und immer gewaschen, als wär’s der Schlüpfer der Königin. Mum und ihre weißen Handschuhe. Du liebe Güte.«

»Ich hätte das Geld aus der Whiskyflasche für Make-up ausgegeben und wäre abgehauen«, schaltete ich mich ein. »Kim sagt, Wimperntusche lässt meine Augen glühen.«

»Make-up ist nicht das Einzige, was ein junges Mädchen schön macht«, sagte Colleen. »Viel wichtiger ist, was in ihr steckt.«

»Aber die Menschen können ja nicht in einen reinsehen, oder?«, erwiderte ich.

Nachdem ich meine Sachen abgewaschen und den Küchentisch abgewischt hatte, fuhr Colleen mit mir zum Supermarkt. Die Old-school-Mucke, die sie im Auto hörte, gefiel mir nicht, aber ich hielt die Klappe. Wenn ich sie besser kenne, bringe ich ihr bei, was guter Grime ist.

Den Einkauf erledigte hauptsächlich ich. Ich suchte Joghurts aus, Kekse, Crumpets, Fertiggerichte für die Mikrowelle und Sprudeldrinks. Ich wollte nicht unhöflich sein, aber ich hab die Dosen mit Ackee, Augenbohnen und Kidneybohnen, die Colleen eingepackt hat, ganz schön komisch beäugt. Danach waren wir noch Chinesisch essen. Ich hab mir Frühlingsrollen und Special Fried Rice reingeschaufelt, danach hat Colleen uns wieder nach Hause chauffiert und mir vor dem Fernseher im Wohnzimmer die Haare geflochten. Ich hatte einen Musiksender eingeschaltet.

»Freust du dich auf die Schule am Montag?«, fragte Colleen.

»Nein«, erwiderte ich. »Und Schule ist das auch keine. Das ist eine Sondereinrichtung für Jugendliche, die von der Schule geflogen sind oder besonderen Förderbedarf haben – so nennen die das. Wir haben keine Probleme, wir haben Förderbedarf. Manchmal sind mehr Erzieher da als Kinder. Prügeleien gibt’s trotzdem dauernd welche.«

»Wieso gefällt es dir nicht in deiner, äh, Einrichtung?«

»Weil mich die meisten anderen Mädchen nicht leiden können.«

Das war nicht gelogen.

»Kann ich gar nicht glauben«, sagte Colleen.

Wieder Sozialarbeitergequatsche.

»Ist aber so!« Ich hob die Stimme. »Die Einzigen, die mit mir reden, sind Kim und Nats. Kims Mum hat Probleme mit Drogen aus der Apotheke. Du weißt schon, den Pillen, die dir helfen, wenn dein Ballon kurz vorm Platzen ist oder du Einschlafprobleme hast. Die haben sie mega abgefuckt. Wenn es Montag war, dachte sie, es ist Samstag.«

»Ausdrucksweise, Naomi.«

»Tschuldigung … und Nats wurde vom Sohn der Freundin ihres Vaters vergewaltigt.«

Ich spürte, wie Colleens Finger steif wurden. Sie legte eine Endlospause ein. »Das ist schrecklich«, sagte sie.

»Dazu kam noch, dass ihre Ellies ihr nicht geglaubt haben. Die sind aber auch scheiß hirnblind.«

»Du benutzt schon wieder Schimpfwörter, Naomi.«

»Tschuldigung.«

»Manchmal können Menschen nichts dafür, wie sie sich verhalten«, sagte Colleen. »Umstände und Herkunft haben eine Menge damit zu tun.«

»Bei mir gibt’s keine Umstände«, sagte ich. »Ich bin normal.«

»Natürlich bist du das«, sagte Colleen.

»Meinst du, den Jungs werden meine Zöpfchen gefallen? Ich wette, Kim wird neidisch. Das bringt sie um, wenn mich die anderen länger angucken als sie.«

»Die sollten sich nicht wegen deiner Frisur für dich interessieren, Naomi.«

»Die schwarzen Mädchen in der Sondereinheit nehmen das super ernst. Die reden immer über Haare, ständig. Ich glaube, Nats hat so eine Anklebeperücke oder so … wie heißt das noch mal?«

»Extensions?«, schlug Colleen vor.

»Die nennen das Weave, aber für mich sieht’s aus wie eine Perücke«, sagte ich. »Bei einer Prügelei hat sie die mal verloren – eine Neue hat Kim beschimpft und Nats ist durchgedreht. War ein Schock für mich, weil Nats vorher so still war wie die Fußspitzen einer Ballerina.«

»Die Stillen fressen oft alles in sich rein«, sagte Colleen.

»Letztes Jahr sind sie mit uns schwimmen gegangen, aber von den schwarzen Mädchen ist keine mit. Die haben sich alle ins Hemd gemacht wegen dem Chlor, weil das angeblich die Haare kaputt macht. Tatsächlich kannst du Nats von Kim nur trennen, wenn ihre Betreuerin mit ihr zum Friseur geht.«

»Das war schon so, als ich jung war«, sagte Colleen. »Ich hatte nichts anderes im Kopf, als dass ich den größten Afro hab …«

»Warte kurz«, unterbrach ich ihren Redefluss.

Ich flitzte in die Diele und betrachtete mich im Wandspiegel. Ich nahm eins von den Zöpfchen und wickelte es mir um den Zeigefinger. Voll cool. Ich grinste breit, dann sprang ich wieder ins Wohnzimmer zurück. »Vielen Dank dafür«, sagte ich. »Du bist die Größte. Wie lange dauert’s noch, bis es fertig ist?«

»Um die zwei Stunden«, erwiderte Colleen. »Ich finde, es sieht süß aus.«

»Tut es«, lächelte ich. »Die Typen werden drauf abfahren. Aber ich wünschte, ich hätte längere Beine, und meine Titten könnten auch größer sein. Meine sind kleiner als die von Kim, was komisch ist, weil sie dünner ist als ich. Aber egal, bis ich fünfzehn bin, reifen sie bestimmt noch nach, und dann angele ich mir einen anständigen Typen – einen coolen Aknefreien.

Zweieinhalb Stunden später war Colleen fast fertig mit meinen Haaren. Das Geräusch des Schlüssels in der Haustür war das Stichwort, auf das Colleen hin lockerließ. »Das ist Tony, der Sharyna und Pablo absetzt«, sagte sie. »Er muss noch mal weg, ein paar Sachen für die Arbeit besorgen, aber dann kommt er nach Hause. Ich fang lieber mit dem Abendessen an. Können wir das später fertig machen?«