Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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Ohne ein weiteres Wort dreht sich Dixon nach vorn und steigt aus dem Wagen. Steigt aus und verriegelt die Tür hinter sich.

Ricky, der gerade einen Mord gestanden hat, bleibt allein im Auto zurück.

Woran denkt er? In jener Nacht, in der Nacht nach dem Mord an Jeremy, ging Ricky alleine im Dunkeln hinauf in sein Schlafzimmer. Nachdem all die Eltern ihre Kinder abgeholt hatten und mit ihnen nach Hause gegangen waren, und nachdem Pearl ihm gesagt hatte, er solle besser die Stadt verlassen, und ihr Gesicht abgewandt hatte, als könne sie es nicht ertragen, ihn anzusehen, und nachdem sie sich neben ihrem Ehemann auf der Matratze im Wohnzimmer schlafen gelegt hatte. June und Joey schliefen gegenüber. Das Haus war still. Ricky saß auf dem Bett und lauschte der Stille.

Es war das erste Mal seit Stunden, dass er alleine war, das erste Mal, seit Jeremy am Nachmittag an der Tür geklingelt hatte. Er konnte nicht schlafen – er war viel zu aufgeregt –, und er dachte die ganze Zeit an Jeremy. Dachte daran, dass seine Augen offen gewesen waren, als Ricky ihn gepackt hatte, und dass sie sich wie von selbst geschlossen hatten. Er wusste, dass es nicht sein konnte, aber wie er da in seinem Schlafzimmer saß und wusste, dass der Junge in dem Schrank war, hatte er das Gefühl, ihn atmen zu hören. Er bildete sich ein, dass sich diese Augen wieder öffneten. Jemand beobachtete ihn.

Hinter seinem Schlafzimmer gab es eine Treppe, sieben Meter lang, die direkt in den Wald führte und sich angeboten hätte, wenn Ricky die Leiche hätte loswerden wollen. Stattdessen schlich Ricky mitten in der Nacht hinunter in die Küche und nahm eine Rolle Alufolie. Er bedeckte die beiden Fenster seines Schlafzimmers mit Folie und klebte sie fest, sodass kein Licht mehr hereinfallen oder hinausdringen konnte.

Er hätte nicht sagen können, wer ihn nicht beobachten durfte und warum es so wichtig war, dass diese Fenster nicht mehr da waren. Er wusste nur, dass er eine kleinere Welt brauchte, eng um ihn herum, verschlossen.

Dieses Gefühl muss Ricky jetzt wieder haben, im Polizeiauto, wo die klare, helle Wintersonne durch die Scheiben scheint und das Wageninnere aufheizt. Wenn nur die Welt so klein bleiben könnte, nach außen abgeriegelt. Er hüllt sich in das Gefühl, eine Zeit lang, er weiß nicht, wie lange.

Bis Dixon zurückkommt und sagt: »Wir fahren zum Haus.«

Tagelang war die Straße voll mit Menschen, Hunden, Polizeikräften und Schleppern für die Suchboote. Aber als Dixon und Lucky jetzt mit dem Streifenwagen vorfahren, ist die Straße verlassen. Ricky sitzt, noch immer mit gesenktem Kopf, in Handschellen auf der Rückbank.

»Das ist das Haus«, sagt Lucky. Dixon hält sich zurück. Nun bleibt es doch weiterhin Luckys Fall. »Der Junge ist da drin«, sagt Lucky. Es ist keine Frage, aber er sieht Ricky trotzdem dabei an.

Ricky hebt fast unmerklich den Kopf und nickt.

»Also schön«, sagt Lucky. »Gehen wir.«

Lucky ruft keinen Krankenwagen. Er beeilt sich nicht. Später wird er sich diesen Augenblick im Zeugenstand vergegenwärtigen und den Geschworenen sagen, dass er sich natürlich nicht beeilt hat, weil er ja wusste, dass der Junge tot war. Zweimal wird er das wiederholen, wie um seine Entscheidung vor sich selbst zu rechtfertigen. Es ist eigenartig, dass ihn gerade dieser Moment quält, dass er gerade darauf zurückkommt. Es hätte schließlich nichts geändert, wenn er sich beeilt hätte. Lucky hätte den Notarzt rufen oder sofort ins Haus rennen können, ja, er hätte sogar den Jagdausflug am Vortag sein lassen können – es hätte keine Rolle gespielt. Jeremy war tot. Eigenartig, an welchen Details die Gedanken manchmal hängen bleiben. Eigenartig, an welchen Stellen sie uns suggerieren, es würde irgendetwas ändern.

Lucky steigt aus dem Wagen.

Der Deputy, der mit der Videokamera auftaucht, hat Pickel im Gesicht, so jung ist er. Oder zumindest stelle ich ihn mir so vor, während ich das Transkript lese. In den nächsten paar Stunden wird dieser Mann alles, was gefilmt wird, von der Kameralinse umrahmt sehen. Er ist die einzige Person, die auf dem Band nicht zu hören ist, die nichts sagt, nicht reagiert, sondern nur aufzeichnet. Er bleibt in dem Material ein Unbekannter, aber überlegen wir, was er alles sieht. Womit er konfrontiert wird. Ich stelle mir vor, dass diese Situation neu für ihn ist; stelle mir vor, dass seine Augen sich weiten. Ich sehe die kleine Wunde in der Haut, wo er sich beim Rasieren geschnitten hat, sehe seinen dürren Hals.

Dixon taxiert ihn und schüttelt den Kopf. Er und die Polizei­fotografen sind bereits oben im Schlafzimmer gewesen und haben Bilder vom Tatort gemacht. Schön und gut, dass die Polizeidienststelle begonnen hat, mit Videoaufnahmen zu arbeiten, aber sie betrachten es eher als niedere Aufgabe, die man auf die Neulinge abschiebt.

»Bereit?«, fragt Dixon. Ich sehe ihn Latexhandschuhe überstreifen und eine durchsichtige Tüte mit der Aufschrift »Beweismaterial« entfalten. Er kann nur hoffen, dass der Junge hier schon mal eine Leiche gesehen hat. Das fehlt ihnen gerade noch, dass der Kameramann sich übergeben muss.

»Ja«, sagt der Junge. Er klingt nicht so, als ob er wirklich bereit dafür ist.

»Ich hole jetzt den Verdächtigen«, sagt Lucky, und seine Worte sind nun, da sie gleich aufgenommen werden sollen, viel förmlicher.

Er kommt mit Ricky zurück, der in Handschellen neben ihm herschlurft und nicht aufblicken will. Ehe er über die Türschwelle tritt, bleibt er abrupt stehen.

»Aufnahme an«, sagt Lucky.

Die Aufnahme läuft.

»Ich möchte, dass Sie jetzt …«, setzt Lucky an, dann hält er inne. »Was ich jetzt von Ihnen will, Jeremy, ist …«

(Dieser kleine Versprecher, die Tatsache, dass er Ricky mit dem Namen seines Opfers anspricht, ist das einzige Anzeichen dafür, dass Lucky nervös ist. Der einzige Anhaltspunkt, wie wichtig dieser Augenblick für ihn ist. Später steht an dieser Stelle im Transkript der Vermerk »[sic]«.)

»Der Kameramann wird Ihnen ins Haus folgen, und ich möchte, dass Sie mich zu dem Zimmer führen, wo es passiert ist, und ich will, dass Sie ihm den Raum zeigen und nichts anfassen, okay? Ich weiß, dass es hier drin Waffen gibt, und wie gesagt, ich will, dass Sie nichts anfassen.«

Lucky sieht Ricky erwartungsvoll an.

»Hm«, macht Ricky.

Sie gehen los.

Mit drei Leuten und dem Kameramann, der direkt hinter Ricky herläuft, ist es eng auf der Treppe. Auf dem Fernsehbildschirm wird der Film dunkel wirken – die Körper kaum mehr als Schatten, Rickys schwarzes T-Shirt ein Fleckchen Nacht in der Düsternis. Der Winkel der Kamera lässt die Decke niedriger erscheinen, die Wände enger beisammen. Die Männer steigen wortlos die Treppe hinauf, ein rascher Schritt nach dem anderen, bis sie vor der Tür des Schlafzimmers stehen.

»Hier drin?«, fragt Lucky.

Ricky nickt und erinnert sich dann, dass er laut antworten soll. »Ja.«

»Wollen Sie noch etwas ergänzen, bevor wir reingehen?«, will Lucky von Dixon wissen.

»Ja, einen Moment noch«, erwidert der. Vielleicht kommen ihm jetzt, da es so weit ist, Zweifel daran, ob es klug war, Lucky die Angelegenheit zu überlassen. Schließlich ist das hier sein Fund. Hat nicht er Lucky überhaupt erst dazu bewogen, endlich etwas zu unternehmen? Er hat Ricky dazu gebracht, die Tat zu gestehen. Oder vielleicht will er auch nur noch einmal sichergehen, dass die Verhaftung absolut wasserdicht ist. Aus welchem Grund auch immer, er geht alles noch einmal durch. »Ricky, als wir Sie an der Tankstelle festgenommen haben und Sie mit mir im Auto saßen, habe ich Sie da in irgendeiner Weise bedroht?«

Ricky schüttelt den Kopf. »Nein.«

»War ich höflich zu Ihnen?«

»Ja.«

»Und ich habe nur gesagt: ›Ricky, sehen Sie mir in die Augen, von Mann zu Mann‹, und ich habe Sie über Ihre Rechte aufgeklärt. Und alles, was Sie mir gesagt haben, haben Sie freiwillig gesagt.«

»Ja, Sir.«

»Also gut.« Dixon nickt Lucky zu. Sie sind bereit.

Die Männer betreten den Raum. »Schnitt«, sagt Lucky, und der Junge mit der Kamera stellt die Aufnahme ab. Dann zu Ricky: »Zeigen Sie mir den Schrank.« Ricky setzt sich in Bewegung. »Nein, gehen Sie nicht hin. Deuten Sie einfach darauf.«

Ricky gehorcht.

»Das Kind ist da drin?«, fragt Dixon wieder. Er kennt die Antwort. Er war schon hier oben, während Lucky Ricky aus dem Wagen geholt hat. Aber er beobachtet Ricky jetzt. Sieht die kleinen Anzeichen von Unbehagen und Furcht, die durch seinen Körper zucken.

»Ja«, sagt Ricky.

»Ist er einfach nur so da drin oder …«

»Ich hab ihn in ein paar Decken gewickelt.«

Lucky tritt nach vorn und bedeutet Dixon und Ricky, das Zimmer zu verlassen. Dann geht er zum Schrank. Die weiße Farbe an der Tür ist schmutzig und abgeblättert. Die Tür steht weit offen. Innen befindet sich ein Bündel Decken, die gar nicht danach aussehen, als würden sie einen Körper verbergen. Einfach nur nach einem Bündel. Er wartet, bis er den Kameramann hinter sich weiß, dann nickt er. Der Kameramann startet die Aufnahme wieder. Lucky spricht langsam und deutlich. »Es ist 15.35 Uhr. Wir sind wieder in dem Raum. Es ist der 10. Februar 1992. Wir sind wieder im südöstlich gelegenen Schlafzimmer von Ricky Langley, unsere Fotografen sind mit ihren Aufnahmen fertig, und wir werden jetzt die Decke oder Überdecke entfernen oder was auch immer Ricky Langley benutzt hat, um die Leiche zu verbergen.«

Er leuchtet mit der Taschenlampe ins Innere des Schrankes. Der Lichtkegel lässt das Bündel gelb aufleuchten, ehe er weiterwandert, damit die Kamera den Umriss aufnehmen kann. Lucky tritt zurück ins Bild und fasst in den Schrank. »Wir nehmen das – ich lege hier einen Vorhang oder eine Tagesdecke in diese Tüte.«

 

Die Aufnahme ist von diesem Punkt an umständlich. Lucky kommentiert jeden Handgriff. Er will es offensichtlich um jeden Preis richtig machen. Lage um Lage entfernt er und zeigt der Kamera jedes Mal die entsprechende Decke, ehe er sie in die Plastiktüte packt.

Aber sehen Sie diesen ersten Sack, der dort in der Ecke darauf wartet, versiegelt zu werden, den Plastiksack mit der Aufschrift »Beweismaterial«, der keinen Zweifel daran lässt, was in der Tüte ist? Diese Tüte wird falsch beschriftet und mit einer anderen verwechselt werden, in der sich Kleidungsstücke befinden, die später sorgfältig von Jeremys Körper heruntergeschnitten werden. Sehen Sie den Sack, den Lucky als Nächstes füllt? Auch er wird falsch beschriftet und zusammen mit einer Tüte aufbewahrt werden, in der sich nichts von Bedeutung befindet.

Ich habe eine Kopie dieser Aufzeichnung gesehen. Ich habe zugesehen, wie Ricky und Lucky die Stufen zum Haus der Lawsons hinaufgegangen sind, habe Ricky in Handschellen zu derselben Haustür gehen sehen, vor der Jeremy ein paar Tage zuvor stand. Das Geständnis, das man mir in der Anwaltspraxis zeigte, das Band, das mich überhaupt erst auf diese Geschichte aufmerksam gemacht hat, wurde unmittelbar danach aufgenommen, nachdem Dixon und Lucky Ricky zurück zur Polizeiwache gebracht hatten. Ricky sah aus wie ein Kaninchen, seine Augen schossen unruhig hin und her, und er hielt seine gefesselten Hände unbeweglich im Schoß. Der Rest seiner Worte erreicht mich in einzelnen Erinnerungsfetzen, als könnte mein Körper das alles nur in geringen Dosen ertragen, immer nur ein kleiner Schluck, gefolgt von Schwärze.

Nur das Transkript – wenn ich es mir jetzt ansehe – bringt die Erinnerung dazu, sich zu setzen.

Die blaue Decke ist die letzte Lage, die Lucky entfernt und in die Kamera hält. »Um den unteren Teil der Leiche ist eine blaue Decke gewickelt, mit irgendeiner bunten Figur darauf, vielleicht Dick Tracy, die ein Gewehr in der Hand hat. Jetzt entfernen wir die Decke, um das Opfer ganz sehen zu können.«

Die Kamera hält sich nicht mit diesem Anblick auf. Sie streift das blonde Haar und strauchelt dann im Angesicht des Jungen. Aber in diesem Augenblick befindet sich auf Jeremys Lippe – zu klein, als dass die Kamera es erfassen würde, und überhaupt schaut niemand so genau hin, keiner will die Leiche so genau anschauen –, in diesem Moment befindet sich auf Jeremys Lippe ein einzelnes dunkles Schamhaar.

Später werden Proben aus Jeremys weißem T-Shirt geschnitten, Beweisstücke, an die sich Calton Pitre noch nach Jahrzehnten erinnern wird, und ihre Untersuchung ergibt, dass sich Spermaspuren auf dem T-Shirt befinden. Das Sperma wird als Rickys identifiziert. Aber dieses Haar auf der Lippe? Es stammt nicht von Ricky. Sie testen es zweimal, und zweimal kommt dasselbe Ergebnis zurück: nicht Rickys.

Ricky hat Jeremy getötet; daran gibt es keinen Zweifel. Und das Schamhaar könnte einfach von einer Decke abgefallen sein. Aber diese Decken gehören nicht alle Ricky, dazu sind es zu viele. Sie müssen auch von Joeys und Junes Bett stammen. Vielleicht ist das Haar in der Wäsche darauf gekommen.

Vielleicht aber auch nicht. Gehört das Haar zu Terry, der in diesem Moment noch am Leben ist, seinen Sohn noch nicht auf einen Motorradausflug mitgenommen hat und sich nicht im Haus, sondern an einem unbekannten Ort aufhält, während die Polizei ihre Suche vornimmt? Gehört das Haar also nicht dem verurteilten Sexualstraftäter, dem, von dem man weiß, wie gefährlich er ist, sondern dem Vater, der im Geheimen vielleicht ebenfalls ein Raubtier ist?

Lucky redet weiter. »Sie können hier eine einzelne Socke erkennen, die offensichtlich im Mund des Opfers ist. Unser Opfer trägt ein weißes T-Shirt, hellblaue oder türkise kurze Hosen mit einem gelben Streifen am Saum, weiße Socken, und die Stiefel, von denen die Mutter ausgesagt hat, dass er sie trug, waren auch hier drin.«

Aquamarin. Lorilei beschreibt die Farbe der Hose als aquamarin. Vier Tage zuvor hat sie sie aus dem Wäschetrockner genommen und zusammengelegt, sodass die beiden Seiten des Bundes sauber übereinanderlagen, hat die kleinen Hosenbeine sorgfältig zu einem Päckchen gefaltet und mit dem T-Shirt zusammen verräumt. Sie trug die Kleidungsstücke zu der Kommode, die sie und Jeremy sich in Melissas Haus teilten, und legte die Hose in die unterste Schublade, das T-Shirt in die darüber. Behutsam, als ob sie ein Kind ablegte.

All diese Kleidungsstücke, die Jeremy trägt – diese Beweis­stücke –, haben eine Geschichte. Die Beweisstücke tragen etwas von ihrem gemeinsamen Leben in sich. Sie enthalten ihre Liebe.

»Außerdem kann man in der Ecke des Schrankes das Luft­gewehr sehen«, fährt Dixon fort, »das laut der Mutter dem Opfer Jeremy gehörte.«

In der Polizeistation verbirgt Lorilei das Gesicht in ihren Händen und beginnt zu schluchzen.

10

New Jersey, 1986

Für diesen nächsten Teil der Geschichte muss ich auf einen einzigen knappen Bericht meiner Mutter zurückgreifen, den sie Jahre später erzählte und niemals wiederholte; ich selbst kann kaum mit eigenen Erinnerungen daran aufwarten. Lassen Sie mich die Geschichte also aus diesen Hinweisen rekonstruieren. Es ist das Jahr, nachdem meine Mutter uns von Jaqueline erzählt hat. Wir befinden uns aktuell auf der zu Massachusetts gehörenden Insel Nantucket, wo wir für den Sommer ein Haus gemietet haben. Unsere Großeltern haben wir ebenfalls mitgenommen. Elize ist vier Jahre alt, ein Püppchen mit langen blonden Haaren und einer Stupsnase. Seit einiger Zeit steht sie Modell für eine britische Kleidungsmarke, die Freunden meiner Eltern gehört, und gerade trägt sie eines ihrer typischen weißen Spitzenkleidchen. Vielleicht ist es das Kleid mit der grünen Schärpe, die zu ihrer Augenfarbe passt. Es ist früh am Abend, und das Haus ist voller Geschäftigkeit, da sich die Erwachsenen fürs Abendessen umziehen. Meine Schwester ist davongewandert, ein seltener Moment, in dem sie alleine ist, und klettert auf einen der mächtigen Polsterstühle im offiziellen Esszimmer des Hauses. Das Haus gehörte in den Walfang-Zeiten der Insel einem Seekapitän, und an den Wänden hängen dunkle Ölbilder lange verstorbener Töchter mit finsteren Mienen und goldenen Schildern darunter, auf denen ihre Namen stehen: Prudence, Virtue, Chastity – Klugheit, Tugend und Keuschheit. Meine Schwester dreht sich zu den komischen Gesichtern um und schneidet einem davon eine Grimasse. Sie versucht sich vorzustellen, was man ihr erzählt hat: dass jede dieser Frauen einst ein kleines Kind war, nicht anders als sie selbst.

Mit ihrer kleinen Faust umklammert sie eine Belohnung, die sie erst kurz zuvor bekommen hat: einen Fünfdollarschein.

Meine Mutter kommt aus der Küche herein, ein Glas Rotwein in der Hand, die Haare noch auf die weißen Plastiklockenwickler gedreht, ihr schwarzes Kleid am Rücken noch offen. »Ach, hier bist du!«, sagt sie und nippt abwesend an dem Wein. Dann bemerkt sie den Schein und fragt: »Liebling, wo hast du denn das Geld her?« Sie glaubt sicher, dass meine Schwester es aus ihrer offenen Geldbörse oder von der Kommode genommen hat. Ein kleiner Fehltritt, Anlass für kaum mehr als einen freundlichen Hinweis.

Aber die Antwort meiner Schwester ist: »Opa hat es mir gegeben.«

»Wirklich?«, fragt meine Mutter. Sie denkt immer noch, dass das hier eine harmlose Kindergeschichte ist. Es gibt auf der Insel einen Süßwarenladen, in dem man für einen Cent einen einzelnen zuckrigen Gummifisch oder einen Gummibären bekommen kann. Unser Großvater hat uns schon einmal dorthin mitgenommen, und für einen Vierteldollar durften wir eine weiße Papiertüte mit Süßkram füllen. Er verwöhnt uns, ebenso wie damals unsere Mutter und ihre Brüder, als sie klein waren. Er hatte immer Bonbons für sie in den Taschen. Meine Schwester ist ein bisschen zu jung für die Zahnfee, aber vielleicht – denkt meine Mutter – hat sie die fünf Dollar bekommen, weil sie ihm seinen Hut oder seinen Gehstock gebracht hat. Meine Mutter lässt sich auf das Spiel ein: »Und wie hast du dir das verdient?«

»Ich hab auf seinem Schoß gesessen«, antwortet meine Schwester.

Das Geflüster, das folgt, ist wie ein Messer in der Scheide, voll scharfer, aber beherrschter Dringlichkeit. Keine erhobenen Stimmen; Türen, die geschlossen bleiben. Hinter einer davon werde ich befragt, und ich weiß, dass ich nicht laut reden darf, weil meine Eltern nicht wollen, dass mein Großvater oder meine Großmutter oder mein Bruder uns hören. Ich gebe einfache Antworten: Ja, mein Großvater hat mich angefasst. Ja, das geht schon seit Jahren so. Sie stellen mir noch mehr Fragen – wo war das, woran kann ich mich erinnern, was war um mich herum zu sehen –, um Anhaltspunkte zum Zeitraum zu bekommen. Fünf Jahre, das ist die Antwort. Ich fange an zu weinen. Nicht wegen dem, was passiert ist. Sondern weil meine Mutter jetzt Bescheid weiß. Ein Teil von mir hat genau darauf gewartet – aber in erster Linie habe ich furchtbare Angst. Ich bin überzeugt, dass wir alle in Sicherheit sind, solange sie nur nicht diese Dinge über ihren Vater weiß. Dass es die schrecklichste Sache der Welt ist, laut auszusprechen, dass ein Vater zu so etwas fähig ist.

Sie stellen erst mir, dann meinen Schwestern genügend Fragen, um sich über die groben Tatsachen im Klaren zu sein. Dann gehen wir alle zum Abendessen.

Ist das möglich? Kann das stimmen? Kann es wirklich sein, dass sie uns alle in unserem Stammrestaurant jener Jahre – es trägt den Namen meines Großvaters Vincent – an einen großen, runden Tisch mit rot-weiß kariertem Tischtuch führen und einen Stuhl für den Mann zurechtrücken, über den sie gerade so etwas erfahren haben? Können sie sich einfach so seiner Ehefrau, meiner Großmutter, gegenübersetzen, die sie schützen wollen, indem sie die Sache vor ihr geheim halten? Wie oft sehen sie während dieses Abendessens wohl auf die Hände meines Großvaters und fragen sich, was diese Hände getan haben?

Oder projiziere ich mein eigenes Interesse an der Vergangenheit auf sie? Kann es wirklich sein, dass meine Eltern ihm gegenüber­sitzen und sich niemals, nicht ein einziges Mal die Taten vorstellen, die hinter den Worten stehen? Ist es möglich, dass sich das Gehörte nie als Geschichte vor ihren Augen abspielt?

Ich weiß nur, was danach geschieht: Meine Eltern reden nie mit meinem Großvater über das, was sie erfahren haben. Sie erwähnen es auch meiner Großmutter gegenüber nicht. Sie lassen nie erkennen, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Wir beenden den gemeinsamen Urlaub wie geplant. Wir kehren in das viktorianische Haus zurück. Meine Eltern laden die Großeltern nicht mehr ein, dort die Nacht zu verbringen, und der Missbrauch findet ein Ende, ohne dass irgendwer jemals irgendetwas sagt. Sie arrangieren die Erinnerung so sorgfältig wie ein Drehbuch.

Und wie zuvor fährt mein Vater weiterhin den großen grauen Chevrolet über die George Washington Bridge und in den Stadtteil von Queens, in dem meine Mutter aufgewachsen ist. Wie zuvor parkt er vor der braunen Tür des Ziegelhauses, in dem meine Mutter ihre Kindheit verbracht hat, in dem mein Großvater mit seinem Vinyl­jackett und der Schiebermütze auf dem Kopf auf seinen Ausflug wartet. Mein Vater streckt eine Hand nach meinem Großvater aus und nimmt mit der anderen seinen Gehstock entgegen. Wie zuvor bietet mein Vater meinem Großvater eine Schulter zum Anlehnen, und im Schneckentempo gehen sie zum Auto hinüber. Er hilft meinem Großvater hinein und verstaut den Stock hinter dem Sitz, dann schlägt er die Tür zu und geht zur Fahrerseite. Schließlich fährt er meinen Großvater über die Brücke zurück zu uns.

Die Menschen in dieser Geschichte wollen immer noch glauben, dass sie die Vergangenheit beherrschen können, sie ebenso säubern können, wie man einen Tatort reinigt. Sie wollen glauben, dass der Tatort, solchermaßen gereinigt, zu einem ganz normalen Schlafzimmer wird. Heute erklären mir meine Eltern, dass sie einen Psychologen konsultiert hatten, der ihnen sagte, es sei für ihre Kinder am besten, wenn sie sich selbst möglichst unbeeindruckt geben würden. Wenn sie die Dinge so gestalteten, als ob die Vergangenheit keine Macht, keine bleibende Bedeutung hätte.

Es ist nicht so, dass ich ihnen das nicht glauben würde. Nicht direkt. Aber ich wundere mich, wie gut dieser Rat ins Bild passt. Er spiegelt so exakt – zu exakt – das Schweigen wider, das ich von meinen Eltern schon kenne. Das Schweigen über die Wutausbrüche meines Vaters. Das jahrelange Schweigen über meine fehlende Schwester. Es ist ein Echo dessen – aber an dieser Stelle sind wir noch nicht angelangt –, was mit der Leiche meiner Schwester geschah.

 

Fürs Erste genügt es, wenn Sie Folgendes verstehen: Die beiden müssen die Vergangenheit hinter sich lassen.

Und so ist mein Großvater in meiner Erinnerung anwesend wie ein Kloß in meinem Hals, sitzt im Wohnzimmersessel am Fuß der Treppe. Er ist an Weihnachten da, er ist an Ostern da, er ist da, wenn es einfach nur Sonntag ist, und meine Großmutter sitzt neben ihm und bittet mich, mit ihr Dame zu spielen, und ich sage ihr nicht, dass ich dafür zu alt bin. Er ist da, als ich dreizehn bin und zum ersten Mal ein Erwachsenenkleid trage, aus schwarzem Samt und mit einem tiefen V-Ausschnitt. Er ist da, als ich mich auf die Zehenspitzen stelle und mich drehe, um den weiten Rock zum Schwingen zu bringen. Es ist sein heißer Atem, der nahe an meinem Hals flüstert, wie erwachsen ich aussehe, wie gut mein Körper das Kleid ausfüllt. Er ist da, als ich fünfzehn bin und beginne, wütend zu werden.

Als wir Lorilei zuletzt gesehen haben, saß sie schluchzend auf der Polizeistation, das Gesicht in den Händen verborgen. Sie ist schwanger mit ihrem zweiten Kind, dem Jungen, der im Schatten seines Bruders aufwachsen wird.

In den Monaten, die Rickys Verhaftung folgen, wird sie sich ständig auf einem schmalen Grat zwischen Wut und Trauer bewegen. Jener Drink auf der Veranda in der ersten Nacht, in der die Helfer auf der Suche nach Jeremy ausschwärmten, wird zu Monaten schweren Trinkens und des Drogenkonsums führen. Sie wird in ihre alten Gewohnheiten zurückfallen, und die Vergangenheit wird die Gegenwart überfluten. Während dieser ganzen Zeit wird in ihr ein neues Leben heranwachsen, aber sie wird nicht imstande sein, es zu hegen. Es wird nur wachsen.

Es gibt einen Zeitungsartikel, der ein Jahr später erschien und zu Lorileis Adresse passt. Wenn ich ihn lese, sehe ich eine Frau vor mir (sie weigert sich, ihren Namen preiszugeben, aber ihr Haar muss noch immer von diesem leichten Braun sein, das in der Kindheit einmal blond war), die aus der Tür eines Hauses tritt und auf die Polizisten zugeht, die eben aus dem Streifenwagen steigen. Sie hält ein Baby im Arm.

»Sie müssen nicht reinkommen«, sagt sie.

»Ma’am, wir sind hier, weil ein Anruf von den Nachbarn bei uns eingegangen ist«, sagt der Beamte. »Es geht um einen Fall häuslicher Gewalt.«

»Sie müssen nicht reinkommen«, wiederholt sie. Sie blinzelt in die Sonne. Um ihr linkes Auge ist eine beginnende Schwellung zu sehen. Das Kind in ihrem Arm wird unruhig, und sie drückt es enger an ihre Brust. Sie hat den Jungen Cole genannt. Er wird den Nachnamen seines Vaters tragen. »Hören Sie«, sagt sie. »Wenn er weg ist« – sie nickt zum Haus hinüber – »weiß ich nicht mehr, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll.«

Sie sieht dem Beamten fest in die Augen. »Guten Tag«, sagt sie entschieden. Dann kehrt sie mit dem Kind in ihren Armen zum Haus zurück.

Ein weiteres Jahr später, als das Urteil gegen Ricky wegen des Mordes an ihrem Sohn endlich verkündet wird, ist sie nicht im Gerichtssaal. Sie sitzt in einem Hotelzimmer auf der anderen Straßenseite und wartet. Ihr Bruder Richard ist im Gerichtssaal, als die Geschworenen ihre Entscheidung verkünden. Ricky wird für seine Tat sterben.

Richard überquert die Straße und geht hinüber zu Lorilei. Es ist vorbei, sagt er ihr. Es ist vollbracht.

Als ich anfing, diese Geschichte zu schreiben, dachte ich, es sei wegen des Mannes in der Videoaufzeichnung. Ich dachte, es sei wegen Ricky. In ihm sah ich meinen Großvater. Ich wollte verstehen.

Aber jetzt denke ich, dass ich um Lorileis willen schreibe. Ihre Geschichte endete nicht an dem Tag, an dem Richard sie im Hotelzimmer umarmte, während auf der anderen Straßenseite Ricky in Handschellen abgeführt wurde. Zehn Jahre nach dem ersten Prozess wurde die Todesstrafe gegen Ricky aufgehoben. Er wurde aus der Todeszelle ins Gefängnis des Calcasieu Parish zurückverlegt, um dort auf einen neuen Prozess zu warten.

Diese Verhandlung fand im Jahr 2003 statt. Das war der Prozess, der gerade zu Ende gegangen war, als ich nach Louisiana kam. Und weil er gerade erst zu Ende gegangen war, zeigte die Anwältin mir die Videoaufzeichnung.

Ich bin im Besitz des Transkripts. Am zweiten Prozesstag ruft die Anklage Lorilei in den Zeugenstand. Sie erzählt den Geschworenen, wie sie Jeremy sein Luftgewehr reichte. »Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah«, sagt sie, dann verbessert sie sich: »Ich meine – es war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.« Sie berichtet, wie sie zum Haus der Lawsons ging, um ihn zu suchen. Von ihrer Begegnung mit Ricky. Von dem Telefonanruf.

Der Staatsanwalt dankt ihr. Der Richter entlässt sie. Sie kehrt an ihren Platz zurück, und der Prozess geht weiter.

Aber am vierten Tag fordert die Verteidigung sie auf, in den Zeugenstand zu treten.

Die Geschworenen müssen in diesem Moment sehr verwirrt sein. Sie ist die Mutter des toten Jungen. Sie hat bereits ausgesagt. Tagelang haben sie Bilder von Jeremys Leiche angeschaut. An einer Stelle hat einer der Geschworenen bei der Betrachtung der Bilder einen Weinkrampf bekommen, und der Richter musste die Verhandlung unterbrechen. Warum ruft die Verteidigung sie auf?

Aber sie erhebt sich und geht zum Zeugenstand. Sie weiß mittlerweile alles über Rickys Leben. Jahrelang hat sie sich damit beschäftigt. Sie setzt sich auf die hölzerne Bank, glättet das Kleid über ihrem Schoß und wendet sich der Jury zu.

»Möchten Sie den Geschworenen irgendetwas sagen?«, fragt der Verteidiger. Er ist ein hochgewachsener, schlanker Brite. Er verteidigt Ricky seit vielen Jahren.

»Ja«, antwortet sie mit fester Stimme. »Das möchte ich.«

Im Saal muss es jetzt ganz still geworden sein, jeder horcht gebannt, was sie zu sagen hat. Lorilei holt tief Luft. Dies sind die Worte, die sie vorbereitet hat.

»Obwohl ich jeden einzelnen Tag den Todesschrei meines Kindes höre, kann ich auch Rickys Hilfeschrei hören.«

Es ist Ricky, für den sie aussagt. Sie versucht ihn am Leben zu erhalten.

Ich lese die Worte, die sie im Gerichtssaal gesprochen hat, und sehe meinen Vater, wie er die Finger um die Hand meines Großvaters schließt. Er fühlt das Gewicht dieser Hand in der seinen. Er stützt ihn und hievt den alten Mann ins Auto, sodass er ihn über die Brücke fahren kann. Damit er ihn heim zu uns bringen kann.

Ich will – ich muss – verstehen.

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