Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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Noch drei weitere Tage wird Jeremys Leiche im Schrank eingekeilt bleiben, während nebenan im Korridor Joey und June spielen. Noch drei Tage lang werden Pearl und Terry Lawson ihre Kinder abends ins Bett bringen und morgens wecken, um sie für die Schule fertig zu machen, und diese ganze Zeit hindurch wird Jeremys Leiche da sein, jenseits der Tür, eingewickelt in die blaue Decke mit dem Dick-Tracy-Motiv, seine Stiefel und sein Luftgewehr säuberlich zu seinen Füßen platziert.

Die Erwachsenen trinken am Küchentisch ihren Kaffee, die Kinder ihre Frühstücksmilch, und drei Monate später wird der Vater, Terry, tot sein. Der Junge, Joey, ebenfalls.

Später werden Anschuldigungen laut werden, Terry habe seine Tochter June missbraucht. Sie werden nie bewiesen werden.

Ich versuche die Vergangenheit zu studieren, zwischen den Zeilen zu lesen – Terry zuzusehen, wie er sich Kaffee nachschenkt und sich setzt, daneben die Müslischalen, die Ricky für die Kinder hingestellt hat. Wo waren Terrys Hände vergangene Nacht? Er und Pearl haben ihr Schlafzimmer aufgegeben.

Und Pearl, wenn man sie jetzt sieht, wie sie die Kühlschranktür öffnet und Joey ermahnt, mit dem Frühstück fertig zu werden: Was sieht sie? Was ist sie in der Lage zu sehen? Wovor verschließt sie die Augen? Hat sie wirklich nicht gewusst, dass Jeremys Leiche dort oben war? Drei Tage lang?

Dann sterben Terry und Joey. Und Pearl verschwindet mit June.

8

New Jersey, 1985

Wochen vergehen, Monate, ein Jahr. Die Erinnerung an diesen seltsam falschen Nachmittag, an dem meine Mutter schreiend über den Rasen lief, und die an das Geräusch meines Großvaters auf den Treppenstufen in der Nacht – sie sitzen beide in meinem Inneren wie in einem Kokon, der sie vor der Hitze des Sommers schützt. Ich halte von innen her den Atem an, damit das, was darin ist, nicht in Flammen aufgehen kann.

Kurz bevor wir an Ostern zum Haus meiner Großeltern fahren, wo wir um ihren großen Holztisch herum sitzen, um von meinem Großvater zubereitete Manicotti zu essen, die er in dünne Scheiben Rindfleisch eingeschlagen hat wie in Geschenkpapier, geben meine Eltern uns jedes Jahr Körbe mit jeweils einem Ei darin. Die Schalen der Eier sind aus weißem Zucker, der an den Rändern gefärbt und glasiert ist. In ihrem Inneren verbergen sich winzige Szenen aus Zuckerwerk: ein Küken im Nest oder ein Osterhase mit einem Korb. Jede dieser kleinen Szenerien ist ein delikates Kunstwerk. Aber die Schale ist, obwohl aus Zucker gemacht, nicht zerbrechlich. Sie ist hart und fest.

Das Schweigen ist genauso. Es beschützt die leuchtenden Momente ebenso wie die verwirrenden. Zum Beispiel die Nächte, in denen mein Mund ganz trocken ist vor Durst und ich meinen Mut zusammennehme und die dunkle Treppe hinuntersteige, um mir in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Dort sitzt mein Vater mit einer großen Glasschüssel voller Kartoffelchips am weißen Küchentisch. Vor ihm steht eine leere Weinflasche und daneben eine zweite, angebrochene. Auf dem Boden zu seinen Füßen liegen leere Eisverpackungen herum. Der Fernseher kündigt lauthals ein neues Programm an. Mein Vater lächelt schief, als ich den Raum betrete.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragt er dann.

So milde ist er sonst nie, und deshalb erzähle ich es ihm manchmal. »Ich habe schlecht geträumt«, sage ich. Ich habe von Hexen geträumt, die mich im Schlaf holen kommen.

»Geh wieder ins Bett. Ich hab dich lieb. Komm her«, sagt er, und ich gehe zu ihm und küsse ihn auf die Wange.

So ist er mir am liebsten, er ist sanfter als zu irgendeinem Zeitpunkt tagsüber. Aber ich weiß, dass er sich am Morgen an nichts davon erinnern wird. Am Morgen werden diese Augenblicke schon verwischt, nichts anderes als ein ferner, unwirklicher Traum sein.

Der Morgen, voll Licht und greifbarer Wirklichkeit, ist die Zeit des Handelns. Er kauft ein neues Lautsprecherset und installiert es im Haus, mit einer gesonderten Fernbedienung für Küche und Wohnzimmer. Er putzt oben seine Schuhe, weigert sich, die Anrufe von Gläubigern entgegenzunehmen, und lässt seine Opernmusik durchs ganze Haus schallen, manchmal so laut, dass mir die Ohren wehtun. Er und meine Mutter sitzen am Küchentisch und planen Feiern, mit denen sich mein Vater bei den Menschen in dieser Stadt einen Namen machen will, und meine Mutter bringt mir bei, wie man Brie in die Mitte eines Endivienblattes schmiert, Sauerrahm auf einem Cracker anrichtet und ein perfektes Nest aus Kaviar in die Mitte setzt. Auf diesen Partys grinsen die Leute übertrieben breit, zeigen ihre Zähne, und jedermanns Atem riecht nach Wein.

In diesem Sommer beschließt mein Vater, für den Stadtrat zu kandidieren. Sie haben uns passende T-Shirts für die Parade am 4. Juli machen lassen: Sie sind rot, und die daraufgebügelten, flauschigen weißen Buchstaben formen die Worte »Mein Daddy für den Stadtrat«. Das T-Shirt meiner Mutter passt ebenfalls dazu, aber auf ihrem steht nur »Drew«. Auf dem Bild von uns, das während der Parade aufgenommen wurde, blinzeln wir in unseren roten T-Shirts, die in den Bund unserer Shorts gesteckt sind, in die Sonne. Meine Schwester Nicola schwenkt eine winzige amerikanische Flagge. Ich stehe ein bisschen abseits vom Rest der Familie, die reflektierende Sonne auf meinen Brillengläsern verbirgt meine Augen. Meine Locken sind zu kurz geschnitten und ringeln sich um meinen Kopf. Einen Arm habe ich um meinen Oberkörper geschlungen; ich lächle nicht. Ich halte meinen Ellbogen mit der anderen Hand, versuche, mich selbst zusammenzuhalten.

Ich bin in jenem Sommer steif und unbewegt wie eine Schmetterlingslarve im Kokon. Wie verpuppt. Spüre ich, dass das Schweigen nicht ewig dauern kann? Ist es das, worauf ich warte? An den Nachmittagen, an denen mein Vater den Rasen mäht, ist die Luft plötzlich schwer vom grünen Staub des Grasschnitts, sie riecht streng und modrig, drückend und lauernd. Das Warten fühlt sich ebenso an. Es legt sich auf meine Lungen. Es drückt auf meinen Brustkorb.

Dann überschreitet der Sommer seinen Zenit und beginnt seinen langsamen Abstieg in Richtung Herbst. Im Gemüsegarten, den mein Vater angelegt hat, schießt das Basilikum in die Höhe. Die Rankgitter biegen sich unter dem Gewicht der Bohnen, deren Samen schwer herabhängen, und die Salatköpfe in ihren ordentlich angepflanzten Reihen werden fett und rund. Der Mais steht aufrecht, während die Sonnenblumen die Köpfe hängen lassen. Eine nach der anderen schneiden wir sie ab, und meine Mutter röstet die Blüten im Ofen, bis die Sonnenblumenkerne die Küche mit ihrem nussigen Duft erfüllen. Jeden Abend kommt jetzt das, was wir gemeinsam essen, aus dem Garten; es ist wie ein Wettrennen, bei dem wir versuchen, der Überfülle Herr zu werden, ehe alles verdirbt.

An einem dieser Abende sitzt meine Mutter in einem ärmel­losen weißen Sweatshirt am Ende des Campingtischs. Ihre Arme sind braun von der Sonne. Ich bekomme als Kind immer Sonnenbrand, aber als ich etwa dreißig bin, werde auch ich auf einmal braun, egal, wie oft am Tag ich mich mit Sonnencreme einreibe – als ob sich meine Haut plötzlich zu meiner Mutter bekennen wollte. Mein Vater hat ihr gegenüber auf einem Stuhl Platz genommen, den wir herangezogen haben. Meine Geschwister und ich sitzen auf den Bänken, zwei auf jeder Seite. Mir fällt auf, dass das immer so ist, dass wir perfekt um unsere Besitztümer passen, dass da niemals mehr Platz ist, als wir sechs brauchen. Meine Mutter tischt Nudeln auf, Pesto, Zucchini mit Parmesan und Oregano. Der Geschmack – süß und klar und würzig – bleibt sich immer treu: Es ist der Geschmack des vergangenen Sommers und des Sommers davor und der Sommer, die kommen werden.

Aber diesmal legt sie den Servierlöffel plötzlich fort und sieht in die Runde.

Wie sie anfängt, welche Worte sie genau benutzt, weiß ich nicht mehr. In unserem Haushalt ist mein Vater sowohl der tragende Balken als auch die Axt, sowohl der zerklüftete Felsen als auch die Brandung, die sich dagegenwirft, und als Kind sind meine Antennen immer auf ihn eingestellt, auf seine Worte und seinen Gemütszustand, niemals auf meine besonnene Mutter. Der Abendbrottisch untersteht seinem Kommando, hier hält er Hof, erklärt er uns die Welt, redet er über Politik und fremde Länder und die Werte, die er uns vermitteln will. Meine Mutter ist ruhig. Jahre werden vergehen, ehe mir klar wird – mit einem Ruck, als ob mein Blick auf die eigene Welt plötzlich einen neuen, scharfen Fokus bekommt –, wie klug sie ist.

»Hörst du mir zu?«, fragt sie mich an diesem Abend. »Dein Vater und ich haben euch etwas zu sagen.«

Was für ein gewichtiger Satz. Seine Ernsthaftigkeit ist wie ein Warnschild. Etwas in ihrer Stimme sagt mir ganz deutlich: Was immer sie zu sagen hat, ich will es nicht hören. Die Luft schwirrt ohnehin schon von so viel Ungesagtem, und ich bin bis zum Rand angefüllt mit meinem eigenen Geheimnis. Etwas schnürt mir die Kehle zu. Kann sie nicht sehen, dass diese Nacht licht ist, mit einer sanften Brise und dem Widerschein der untergehenden Sonne? Geigenmusik von Vivaldi strömt aus den Lautsprechern, die mein Vater in den Zweigen der Bäume angebracht hat. Niemand streitet, mein Vater schreit nicht, und meine Großeltern sind weit weg, jenseits der Brücke in New York.

Mach es nicht kaputt, denke ich.

»Ich brauche einen Pullover«, sage ich. Ich stürze mich mit triumphierender Stimme in diese Erwiderung, die mir wie ein Erfolg vorkommt.

»Muss das gerade jetzt sein?«, fragt sie.

»Mir ist kalt.«

Sie seufzt. »Beeil dich.«

»Mir ist auch kalt«, sagt meine kleine Schwester Elize.

»Dann bring deiner Schwester auch einen Pullover mit«, fordert meine Mutter mich auf. »Nimm einfach den erstbesten, den du finden kannst, es ist nicht so wichtig.« Ihre Stimme ist abgehackt und barsch – es ist die Spannung, denke ich später, der Versuch, noch eine Minute lang zurückzuhalten, was schon viel zu lange unterdrückt worden ist.

 

Das Haus versinkt um mich herum in formlosen Schatten. Im Halbdunkel ist das einzige Geräusch, das ich hören kann, das immer gleiche geisterhafte Knarren in den Wänden, die sich setzen, und das ständige Schwirren des Deckenventilators, dessen metallene Rillen sich oben über dem Treppenabsatz öffnen und schließen. Ich gehe diese Treppe im Dunkeln niemals alleine hinauf. Es ist undenkbar. An den Abenden, an denen wir unten in der Küche essen und eines meiner Geschwister das untere Bad benutzt, sagt mir meine Mutter manchmal, ich solle nach oben gehen. Dann verlasse ich die Küche und warte still in der Dunkelheit des Esszimmers, zähle langsam bis vierzig und gehe dann wieder hinein. Manchmal trete ich mit den Füßen fester und dann weniger stark auf, dann wieder stärker, damit es klingt, als ob ich mich entferne und wieder näher komme. Manchmal sagt sie, wenn ich mich wieder an den weißen Küchentisch setze: »Das ging ja schnell«, und dann warte ich beim nächsten Mal länger. Ich kann ihr nicht erzählen, warum ich einfach nicht nach oben gehen kann.

Ein paar Jahre später, wenn ich in der fünften Klasse bin, werde ich im Zimmer der Schulpsychologin sitzen. Es ist eine Routine­angelegenheit, eine Besprechung mit jeweils zwei Kindern, die nach dem Alphabet ausgewählt wurden. Der Junge, der mit mir im Raum ist, gehört zu den beliebten Schülern: hochgewachsen, agil und braun gebrannt, einer, der den Fußball genau so trifft, dass er hoch und weit durch die Luft fliegt.

»Und, seid ihr aufgeregt, dass ihr nächstes Jahr in die Mittelschule kommt?«, will die Psychologin wissen.

Der Junge sieht sie an, als wäre sie verrückt. Er weiß schon jetzt, dass er nie wieder so beliebt sein wird wie jetzt.

»Ich freue mich«, platze ich heraus. »Da werden so viele Kinder sein.«

Sie lächelt mich an.

»Da kann ich mich unsichtbar machen«, sage ich.

Mich unsichtbar machen können, das ist es, was ich mir jedes Mal wünsche, wenn mein Großvater sich auf meine Bettkante setzt. Seine braunen Augen blicken in meine, dann verzieht er das Gesicht und spuckt seine Zähne auf seine Handfläche. Er hält sie mir hin. Die Prothese glänzt wie eine Kreatur aus dem Meer. Er grinst. Sein Mund ist plötzlich ein feuchter, pinkfarbener Rand um ein schwarzes, leeres Loch herum. »Siehst du«, sagt er, obwohl er mir das schon oft gezeigt hat. »Ich bin eine Hexe. Vergiss das nicht. Wenn du irgend­jemandem etwas verrätst, werde ich kommen und dich holen. Immer. Sogar, wenn ich tot bin.«

Ich drehe meinen Kopf weg und richte meine Augen auf den gelben Rock einer Puppe, die gleichzeitig eine Lampe ist. Ihr Körper erhellt den Rock, lässt ihn zu einem formlosen, hellen Gelb verschwimmen. Es brennt im Dunkel des Raumes, und während er seine falschen Zähne auf den Nachttisch legt und seine Hände nach dem Saum meines Nachthemds tasten und dann den Stoff von meinen plötzlich ganz kalten Beinen heben, starre ich in das Gelb und versuche, in der Flamme aufzugehen, mich aufzulösen. Seine Hand wandert auf meinem Bein nach oben. Mit der anderen zieht er den Reißverschluss seiner Hose herunter. Ich blicke das Licht so starr an, dass die Luft um mich herum in Stücke bricht, zerbirst. Ich fühle, wie er meine Unterhose herunterzieht. Ich fühle seine Finger. Die Luft zersplittert in einzelne Moleküle. Es ist wieder kalt zwischen meinen Beinen, seine Hand hat sich bewegt – und dann ist sie zurück, umklammert einen dicken Teil von ihm. Er hält meine Beine auseinander. Er reibt sich an mir.

Um mich herum drehen sich die Moleküle in einem wilden Strudel. Ich fühle, wie ich mit ihnen zerbreche.

Noch heute hasse ich die Farbe Gelb.

Aber als das Kind, das barfuß in dem dunklen Esszimmer steht, während draußen der Sommerabend langsam sein Licht verliert, habe ich mehr Angst vor dem, was meine Mutter sagen wird. Und deshalb gehe ich.

Ich haste die Treppe hinauf und versuche, das Knarren der Stufen nicht zu hören. Stattdessen zwinge ich mich, mich auf das Surren des Ventilators zu konzentrieren. Seine Rillen öffnen und schließen sich in einem langsamen Brüllen, sein Atem ist ein kaltes Nichts da­runter. Das Schlafzimmer meiner kleinen Schwester erinnert an einen Dachboden; es hat eine schräge Wand und ist eigentlich ein Korridor. Ich muss durch ihr Zimmer hindurchgehen, um in meines zu kommen. Es ist derselbe Weg, den mein Großvater nimmt, wenn er nachts nach oben kommt. Auf ihrer Kommode liegt ein flauschiger Pullover von der Farbe eines Kükens; seine Ärmel sind nach hinten gefaltet wie Flügel. Ich bleibe stehen. Das Gefühl, mit dem ich ihn anstarre – sein fahles Gelb in der Dunkelheit, mein Körper, der still und leer sein muss –, dieses Gefühl wird für immer da sein. Dann treffe ich eine Entscheidung: Ich werde meiner Mutter sagen, dass ich nicht gleich einen Pullover finden konnte. Ich werde ihr sagen, dass ich erst danach suchen musste. Hinter mir ist Elizes Kinderbett. In meiner Vorstellung presst sich dieses Bett gegen meinen Rücken, ich kann es spüren. Das Wissen, dass auch er hier steht. All die Male, die ich ins Zimmer meiner Schwester gekommen bin und gesehen habe, wie er sich über sie beugte. Ich kämpfe gegen die Gedanken, will ganz leer sein.

Dann muss ich wegrennen.

Ich schnappe mir in meinem Zimmer einen blauen Pullover – meine Lieblingsfarbe. Zurück durch das Zimmer meiner Schwester, unter dem Ventilator durch, die Treppe hinunter. Ich fliehe. In dem dunklen Esszimmer halte ich an, fühle den Holzboden kühl und glatt unter meinen Füßen. Mein Körper ist reglos. In der Stille ist das Schlagen meines Herzens so laut wie der Ventilator.

Zaudern. Ich zaudere immer noch.

Dann gehe ich nach draußen.

Als ich auf die Veranda hinaustrete, bemerkt mich meine Mutter und winkt mich zu sich.

»Warum hat das so lange gedauert?«, ruft sie. »Komm, setz dich.« Nach dem glatten Boden im Haus fühlt sich das Gras uneben an und sticht in meine Fußsohlen; das helle Licht hier draußen trifft mich wie aus weiter Ferne. Ich rutsche auf die Bank mit ihrem abgesplitterten Holz und reiche meiner Schwester den flauschigen Pullover. Mein Körper sitzt da, aber eigentlich bin ich nicht hier, nicht wirklich.

»Euer Vater und ich müssen euch allen etwas sagen«, sagt sie.

Es kann nicht um meinen Großvater gehen. Sie kann nichts davon wissen. Kann es noch ein anderes Geheimnis geben?

»Ihr alle hattet eine Schwester«, sagt sie. »Ihr Name war Jaqueline. Sie war Andrews und Alexandrias Drillingsschwester.«

Meine Mutter benutzt niemals unsere vollen Namen. Mein Bruder ist Andy und ich, auch wenn ich es hasse, bin Ali. Dass sie diese Worte benutzt, zeigt mir mindestens ebenso sehr wie das, was sie sagt, wie gravierend das Ganze ist. »Erinnert ihr euch, wie wir euch gesagt haben, dass Andrew und Alexandria krank waren, als sie geboren wurden?« Nicola sitzt mit großen Augen da wie eine Schülerin im Unterricht und nickt. Das ist es, was sie uns erzählen, wenn mein Bruder ohnmächtig wird: dass er krank war, als er ganz klein war, und dass das nur die Spätfolgen davon sind. Das ist es, was sie uns erzählen, wenn plötzlich die Nachbarin auftaucht, um auf uns aufzupassen, und meine Mutter die Reisetasche aus dem Schrank zerrt. »Nun, Jaqueline war auch krank, aber bei ihr war es zu schlimm. Sie war zu klein. Sie starb, als sie fünf Monate alt war.«

Und ein höchst eigenartiges Gefühl ergreift mich: Ich wusste es bereits.

Später am Abend, nachdem unsere Eltern uns ins Bett gebracht haben, liege ich in dem Zimmer, das ich mir mit Nicola teile, wach.

»Ali?«, sagt sie. Heute Nacht lasse ich zu, dass sie mich so nennt. »Werden wir auch sterben?«

»Nein«, sage ich. »Psst. Schlaf jetzt. Wir werden nicht sterben.«

»Aber sie ist gestorben.«

Ich denke darüber nach. »Ja, aber wir nicht. An dieser Sache stirbt man nur, wenn man klein ist. Wir sind jetzt groß.« Ich bin sieben und sie fünf. »Wir sterben nicht.«

Als ich das sage, wird mir plötzlich bewusst, dass ich lüge. Dass wir alle eines Tages sterben werden. Ich hoffe, dass sie das nicht weiß. Ich hoffe, dass sie das niemals wissen wird.

»Versprochen?«, fragt sie.

»Versprochen«, antworte ich. Danach ist meine Schwester still. Aber ich liege in der Dunkelheit noch lange wach. Woher wusste ich von dem Mädchen?

9

Louisiana, 1992

Lorilei ist diejenige, die zu guter Letzt die Polizei auf Ricky Langleys Spur führt. Früh am Montagmorgen, ihr Sohn ist noch immer nicht gefunden, sucht der Sheriff sie in Melissas Haus auf und bittet sie, zur Polizeistation zu kommen, um dort einige Fragen zu beantworten. Er ist freundlich, aber entschieden. Sie muss sich einem Lügendetektortest unterziehen.

Platzieren wir sie dafür in einem kleinen Raum in der Polizeidienststelle. Von der Decke hängt eine kegelförmige Lampe, genau wie in der Küche meiner Eltern, als ich ein Kind war, die Art Lampe, die in jedem Krimi zu sehen ist, wenn ein Verdächtiger verhört wird, und die deshalb zweifellos auch über Ricky Langleys Kopf hängen muss, wenn er schließlich vor laufender Kamera sein Geständnis ablegt. Lorilei ist nicht verdächtig – »Nein, Ma’am, wir wollen nichts andeuten«, sagt der größere, stämmige Polizist mehrmals zu ihr. Die Wahrheit ist, dass es keine Verdächtigen gibt. Noch nicht.

Die Männer stellen sich ihr als Don Dixon vom FBI-Außendienst und Donald DeLouche von der Polizeiwache des Calcasieu Parish vor. »Aber Sie können mich Lucky nennen«, meint der hochgewachsene Mann. »Das tun alle.«

Lucky?, denkt sie sich bestimmt. Schönes Glück! Wo ist ihr Junge?

In den Stimmen der beiden Männer am Tisch mischen sich Freundlichkeit und Anspannung. Sie kann nicht ausmachen, ob sie glauben, dass sie etwas mit Jeremys Verschwinden zu tun hat. Wahrscheinlich ist sie auch zu müde, um sich darum zu kümmern, was sie glauben. Sie will nur ihren Jungen zurückhaben.

»Nun, Ma’am, ich muss Sie bitten, sich so genau wie möglich an alles zu erinnern.«

Sie seufzt. »Ich habe den Ermittlern doch schon alles gesagt. Ich bin nach nebenan gegangen und danach zum Haus der Lawsons. Sie haben einen Jungen und ein Mädchen; Jeremy spielt dort manchmal mit ihnen. Ein Mann hat mir die Tür geöffnet und mir angeboten, das Telefon zu benutzen, damit ich meinen Bruder anrufen konnte.«

»Wissen Sie seinen Namen?«

Es ist das erste Mal, dass ihr jemand diese Frage stellt. Zu dem Zeitpunkt, als ihr Sohn verschwand, kannte sie seinen Namen noch nicht, inzwischen aber schon. »Ricky Langley«, sagt sie.

Lucky steht auf, nimmt seinen Hut vom Tisch und verlässt den Raum. Dixon folgt ihm.

Etwa eine Minute später kommt ein anderer Polizist herein. Er ist jünger als die beiden anderen und glatt rasiert. Er nimmt den Stuhl, auf dem Lucky gesessen hat, und zieht ihn zum Tisch. »Keine Sorge«, sagt er. »Die beiden müssen nur etwas überprüfen. Mein Name ist Roberts. Also dann: Sie wollten über den Mann reden, der Ihnen die Tür geöffnet hat?«

Stundenlang behält Roberts sie da, geht den Tag in allen Details mit ihr durch. Manchmal kommt ein anderer Polizist dazu. Gemeinsam spüren sie jedem einzelnen Schritt nach, den sie getan hat. Schließlich bringen sie sie ins Büro des Sheriffs.

Dort erzählen sie ihr, dass sie ihren Sohn gefunden haben. Er ist tot.

Vierundzwanzig Stunden zuvor hätte Lucky und Dixon der Name Ricky Langley nichts gesagt. Aber am Morgen des 9. Februar, während die Suche weiterlief, waren die beiden zusammen in den Wald gegangen, um Gänse zu jagen. Später würde man ihnen vielleicht die Hölle heiß machen, weil sie jagen gegangen waren, obwohl ein Kind vermisst wurde. Später würde die ganze Sache vielleicht einen komischen Beigeschmack haben. Aber die Blässgänse kamen nur zweimal im Jahr durch diesen Landstrich, und überhaupt war der Junge höchstwahrscheinlich ertrunken und längst tot.

In aller Frühe hatten sie flache Boote mit Lockvögeln bestückt und langsam flussabwärts treiben lassen, bis sie das leise Schnattern des Schwarms hörten, mit dem die Vögel auf die Köder reagierten. Dort hatten sie die Boote festgemacht und in dem weichen Schlamm in Ufernähe zwei brusthohe Gruben ausgehoben. Nun, als sie Seite an Seite in ihren Löchern hockten, die Hände schussbereit an den Gewehren, eine Thermoskanne mit Kaffee zwischen sich, schaute Dixon in den leeren blaugrauen Himmel und sagte zu Lucky: »Was hältst du von der Sache mit dem Jungen, der immer noch vermisst wird? Macht ihr weiter mit der Suche?«

 

Die Gruben waren eiskalt, die Luft zu still. »Heute auf jeden Fall noch«, meinte Lucky. »Aber die brauchen mich da nicht.« Er goss Kaffee in den Plastikdeckel der Thermoskanne und nahm einen Schluck. »Sie suchen heute mit Baggern im Kanal. Die Leute von der Wache haben die Sache im Griff.«

»Ich weiß schon, dass es nicht mein Fall ist«, sagte Dixon, »aber ich glaube nicht, dass er im Wald ist. Wenn er dort wäre, hätten sie ihn mittlerweile gefunden.«

»Er ist bestimmt ertrunken. Viele Kinder ertrinken dort in der Gegend.«

»Dann hätten sie ihn auch schon gefunden.«

»Vielleicht«, antwortete Lucky. Mehr schien er nicht sagen zu wollen.

Dixon wartete eine Weile und wählte seine Worte dann mit Bedacht: »Wenn ihr die Leiche bis morgen früh nicht findet, wird das FBI sich intensiver mit der Sache befassen müssen.«

Nach dem Mord an Charles Lindberghs Baby war das Bundesgesetz zum Kidnapping in Kraft getreten, demzufolge nach vierundzwanzig Stunden von der Vermutung auszugehen ist, dass ein vermisstes Kind über die Grenze in einen anderen Bundesstaat gebracht wurde. Jeremy wurde bereits seit sechsunddreißig Stunden vermisst.

Sehr bald würde es nicht mehr Luckys Fall sein.

»Das weiß ich«, sagte Lucky.

»Sie werden die Sache an sich ziehen.«

»Ich weiß.« Lucky spielte an seinem Gewehr herum, entsicherte es und legte an. Keine Spur von den Gänsen. Er nahm die Jagdbeute ins Visier, die sich noch nicht blicken ließ. »Okay, morgen vernehme ich die Mutter.«

An diesem Abend, nachdem Lucky und Dixon zusammengepackt hatten, ohne dass die langen Stunden in den Gräben ihnen irgendeinen Erfolg beschert hätten, machte Lucky auf dem Weg nach Hause bei der Polizeiwache halt. Er wollte noch ein wenig Papierkram erledigen und alles für das Gespräch mit der Mutter am nächsten Tag vorbereiten. Er saß am Schreibtisch, und die einsame Schreibtischlampe warf ein warmes gelbes Licht auf die Akten vor ihm, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung war eine Bewährungshelferin. »Ich hab von dem vermissten Jungen bei Ihnen gehört«, sagte sie mit einer stark näselnden Stimme. »Es gibt da einen Mann, über den Sie Bescheid wissen sollten, er ist auf Bewährung draußen; saß in Georgia wegen Kindesmissbrauch. Nicht mein Fall, eigentlich – die haben von Georgia niemals irgendwelche Unterlagen geschickt; das letzte Mal habe ich ihn im Dezember gesehen. Danach ist er verschwunden.«

Viele Männer entzogen sich dem Bewährungsprozess. Sie meinte es sicher gut, aber wahrscheinlich hatte es nichts mit der Sache zu tun.

»Was ist die letzte Adresse, die Sie von ihm haben?«

»Lassen Sie mich nachschauen«, sagte sie. Lucky hörte das Rascheln von Papier. »Er hat bei seinen Eltern in Iowa gelebt. Iowa«, wiederholte sie. »Sie sprechen das komisch aus da drüben, nicht? Hier steht, er hat eine Vorliebe für Jungen im Alter von ungefähr sechs Jahren. Wie alt ist der Junge, den Sie suchen?«

Luckys Herz begann schneller zu schlagen. »Sechs.«

»Vielleicht sollten Sie versuchen, ihn zu finden«, riet sie ihm. »Er heißt Ricky Langley.«

Es ist kurz nach zehn Uhr am Montagmorgen, als Lucky und Dixon auf den Parkplatz der Tankstelle fahren. Der Himmel ist von klarem, leichtem Blau. Sie haben einen Haftbefehl bei sich, auf dem die Tinte der richterlichen Unterschrift noch kaum getrocknet ist – gegen Ricky Langley, wegen seines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen in Georgia. Dixon steigt aus dem Auto. Er sieht einen jungen Mann mit Segelohren, der auf einem Traktor sitzt und damit Muschelkalk auf dem Boden verteilt. Dixon bedeutet ihm, den Traktor abzustellen.

»Steigen Sie ab«, sagt er. Er mustert den Mann. Braune Haare, ziemlich dürr, Brille. »Ich bin Agent Dixon, und das ist Detective DeLouche. Sind Sie Ricky Langley?«

»Ja, Sir.«

Lucky hat bisher nichts gesagt, aber jetzt kommt er direkt auf Ricky zu. »Sie haben das Recht zu schweigen«, sagt er. Staub wirbelt von den zerstoßenen Muscheln auf, als er darüberläuft. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen einer gestellt.« Ricky antwortet nicht, und Lucky hört nicht auf zu reden. »Verstehen Sie diese Rechte, die ich Ihnen gerade erklärt habe?« Er steht jetzt vor Ricky.

»Ja, Sir.«

»Wir werden Ihnen jetzt einige Fragen stellen«, sagt Lucky. »Sie kommen mit uns.«

Ricky wird plötzlich so still wie ein gejagtes Tier, das in die Falle gegangen ist. Dann senkt er den Blick – und das, wird Dixon später sagen, überzeugt ihn davon, dass sie den richtigen Mann gefunden haben. Wenn einer schuldig ist und bereit ist, zu gestehen, senkt er den Blick.

Schließlich sagt Ricky: »Ich hab meine Jacke da drin.«

»In der Tankstelle?«

»Ja.«

»In Ordnung, wir holen sie.«

Lucky geht zum Tankstellengebäude, um Rickys Jacke zu holen und die Stempelkarten zu untersuchen, die ihnen zeigen werden, wann Ricky an dem Tag, an dem Jeremy verschwand, in der Arbeit war. Dixon führt Ricky zum Streifenwagen. Er hätte ihm, wenn nötig, Handschellen angelegt, aber Ricky geht freiwillig mit, ein paar Schritte vor Dixon. Beide Männer gehen steifbeinig, ihre Körper sind wachsam und unter Hochspannung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Februarluft ist so kalt und trocken wie ein leerer Raum. Als sie am Auto ankommen, beugt sich Dixon vor, öffnet die hintere Tür und bedeutet Ricky einzusteigen. Er gehorcht. Dixon schließt den Sicherheitsgurt und sagt noch einmal: »Sie haben das Recht zu schweigen.« Seine Stimme klingt hart. Ricky lässt den Kopf wieder sinken. »Sie haben das Recht auf einen Anwalt.« Dixon sagt das alles zum zweiten Mal. Die Verhaftung muss absolut wasserdicht sein. »Verstehen Sie diese Rechte, wie ich sie Ihnen erklärt habe?«

»Ja«, antwortet Ricky. Er klingt elend.

Dixon setzt sich ans Steuer. Im Rückspiegel betrachtet er Ricky. Er registriert – dafür wurde er geschult –, dass Rickys Halsschlagader unter dem gesenkten Kinn heftig und schnell pulsiert. Registriert die Spannung in seinen Halsmuskeln und die zu Fäusten geballten Hände. Ricky sieht aus wie ein Mann, der sich verzweifelt wünscht, dass der gegenwärtige Augenblick nicht wahr ist.

Das ist der geeignete Moment, beschließt Dixon.

Er wendet sich zu ihm um. »Also, Ricky«, sagt er. Er kann Rickys Gesicht nicht sehen, nur seinen Scheitel, sein dunkles Haar. »Ich will, dass du mir in die Augen siehst, von Mann zu Mann.«

Ricky rührt sich nicht.

»Von Mann zu Mann, Ricky.« Dixon lässt seine Stimme ruhig und unbewegt klingen. Bei jemandem wie Ricky, der sein ganzes Leben als seltsam galt, einem Außenseiter, einem, den niemand res­pektiert, muss man ruhig klingen, das weiß Dixon. Als würde man ihn ernst nehmen. »Sieh mich an, Ricky.«

Einen kurzen Moment blickt Ricky auf, und als er seine Augen sieht, weiß Dixon Bescheid. Die Pupillen sind geweitet. Dixon hat ihn.

»Ich will, dass du mir in die Augen siehst« – Ricky schaut weg – »nein, ich will, dass du mir in die Augen siehst, Ricky, und mir sagst, ob du irgendetwas über das Verschwinden von Jeremy Guillory weißt.«

Ein Schauer rieselt über Rickys Schultern. Wie das Zittern, das durch einen Körper geht, der den Kampf aufgibt.

Dann, plötzlich: »Ich war es.« Ricky atmet aus. »Ich hab’s getan, ich hab’s getan, ich weiß nicht, warum, aber ich hab’s getan.« Er verbirgt das Gesicht in den Händen. Einfach so. So einfach. Drei Tage, und dann ist es plötzlich vorbei. Schluss.

»Wo ist die Leiche?«, fragt Dixon.

»Im Schrank. In meinem Schlafzimmer.«