Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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Erst danach wendet sich Ricky um und begrüßt Bessie.

Es ist Abend. Bessie trinkt schon seit Stunden. Sie wuchtet ihren Körper durch den engen Raum zum Esstisch hinüber. Sie lässt sich schwer auf den Stuhl fallen, und ihr pinkfarbenes Hauskleid bläht sich dabei über ihrem ausladenden Schoß ein wenig auf. Alcide räumt die Rechnungen vom Tisch, ehe er sich ebenfalls setzt.

Ricky blickt sich in dem düsteren, schäbigen Raum um. Er registriert die Rechnungen, den Schmutz, der die Oberflächen im Küchenbereich verkrustet, das dreckige Geschirr im Waschbecken. Die Glühbirne über dem Ofen ist kaputt und nicht ausgetauscht worden. Die Luft riecht schal und scharf; ein säuerlicher Hauch von Bessies Alkohol hängt über allem. Er hasst es. Er hasst das alles. Hasste es, als er noch hier lebte, und hasst es noch mehr, als er jetzt sieht, was er hinter sich gelassen hat.

In der Ecke steht ein kleiner Fernseher, der so platziert ist, dass man ihn sowohl vom Küchentisch als auch von dem braunen Sofa an der Wand aus sehen kann. Das Gerät ist abgeschaltet, aber noch warm. Bessie und Alcide haben den ganzen Tag daraufgestarrt. Sie wussten, dass Ricky zu ihnen kommen würde. Sie haben das weiße Haus gesehen, in dem er lebte, unheimlich und geisterhaft im Licht der Kameras, haben die improvisierte Suchzentrale vor dem Haus gesehen. Sie haben einen Reporter berichten hören, dass ein kleiner Junge vermisst werde, haben die Schule des Jungen auf dem Bildschirm gesehen. Die Kamera zeigte die weinende Mutter des Kindes.

Bessie weiß, dass Alcide nichts über das sagen wird, was sie gesehen haben. Er ist kein großer Redner, schon gar nicht, wenn es um seinen ältesten Sohn geht. Also muss Bessie das übernehmen. Sie reicht über den Tisch und ergreift die Hand ihres Sohnes, die kühl und schlaff ist. Er erwidert ihren Händedruck nicht. »Ricky«, sagt sie, und dann hält sie inne.

Ricky wartet.

»Du hattest doch nichts mit diesem kleinen Jungen zu tun, der vermisst wird, oder?«

Was geht in einer Mutter in dem Augenblick vor, bevor sie so eine Frage stellt? Ihr Sohn ist an der Tür des Wohnwagens aufgetaucht, ihr Sohn, den sie jetzt, da er erwachsen und von zu Hause ausgezogen ist, kaum mehr sieht. Sie liebt ihren Sohn. Hat ihn geliebt, noch bevor er geboren wurde, als sie um ihn kämpfen musste gegen die Ärzte, die nicht wollten, dass er geboren wird, dieses Kind, das so viele Probleme hatte. Dieser Junge, der öfter versucht hat, sich umzubringen, als sie zählen kann, und der bereits zweimal wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis saß. Einmal hat Bessie einer Sozial­arbeiterin erzählt, dass sie ihn keine fünf Minuten aus den Augen lassen konnte, ohne dass er loszog und irgendwen belästigte.

Jetzt ist Ricky erwachsen. Er lebt jenseits ihres Einflussbereichs. Ein Junge aus der Straße, in der er lebt, wird vermisst.

Sie stellt die Frage.

»Nein«, antwortet er.

Dieses Schweigen, in das sie daraufhin verfällt – ist es das süße, dankbare Schweigen von jemandem, der glaubt, was er hört? Oder ist es so schwarz und trügerisch wie die Nacht, die sich gerade über das Ende des zweiten Tages einer erfolglosen Suche legt und die dunklen, feuchten Wälder verbirgt, in denen keine Kinderleiche zu finden ist. Verbirgt dieses Schweigen ebenso viel wie die Dunkelheit?

»Wetten, der Junge ist da draußen im Wald?«, fügt Ricky hinzu. »Sie werden ihn finden«, sagt er, während die drei, der Mann und die Frau und das Kind, das sie gezeugt haben, beieinandersitzen und die zweite Nacht hereinbricht.

6

New Jersey, 1984

Das pinkfarbene Hauskleid, das ich Bessie in dieser Szene tragen lasse – pink mit kleinen weißen Blumen und einem Spitzenkragen aus Polyester, das Kleid, das sich über ihrem Schoß aufbläht, als sie sich schwer auf ihren Stuhl fallen lässt und sich ihrem Sohn zuwendet –, dieses Kleid kommt in keiner Gerichtsakte und in keinem Protokoll vor. Es ist das Kleid meiner Großmutter. Wenn ich mir Bessie vorstelle, sehe ich meine Großmutter, denn diese beiden Frauen verbindet vieles. In meiner Erinnerung trägt meine Großmutter dieses Kleid, als sie auf dem weißen Korbsofa auf der Veranda unseres viktorianischen Hauses neben meinem Großvater sitzt. Es ist später Nachmittag an einem Samstag im Frühling. Die Sonne denkt gerade erst darüber nach, demnächst unterzugehen, es ist nur eine Schattierung dunkler als bei hellem Tageslicht. Die graue Terrasse liegt im sanften Schimmer des leicht bewölkten Himmels.

Wir spielen Dame, und ich bin dran. Ich sitze meinen Groß­eltern in einem Korbsessel gegenüber, zwischen uns der Tisch mit dem Brettspiel. Ich bin Rot, sie Schwarz, und neben mir stapeln sich die schwarzen Spielsteine, die ich gewonnen habe. Immer wenn mein Großvater einen Stein bewegt, schnalzt meine Großmutter leise mit der Zunge, ehe er auch nur die Hand von dem Plastikstein nehmen kann, und sagt: »Jimmy.« Mein Großvater seufzt und platziert den Stein so, dass ich ihn mir holen kann. Ich wünschte, sie würde damit aufhören, aber ich bin auch stolz, dass ich gewinne.

Immer häufiger fährt mein Vater in die Stadt und holt meine Großeltern ab, damit sie auf uns aufpassen. Seine Kanzlei beginnt richtig gut zu laufen. Auf einmal hängt im Schlafzimmer meiner Eltern ein Kalender an der Wand, auf dem mit schwarzem Marker Termine umrandet sind, und sie haben eine Pinnwand, an der Operntickets und Eintrittskarten für Tanzveranstaltungen hängen. Während meine Großeltern mit mir Dame spielen, macht sich meine Mutter oben fertig. Heute Abend werden sie Tosca sehen, und aus den Lautsprechern, die mein Vater überall im Haus aufgestellt hat, dringen Baritonstimmen.

Als die Sonne untergeht, mag ich nicht länger bei meinen Großeltern sitzen, also gehe ich ins Haus und steige die alte Treppe zum Schlafzimmer meiner Mutter hinauf. Mein Brustkorb ist zugeschnürt; ich will nicht, dass sie geht, will nicht die ganze Nacht mit meinen Großeltern alleine bleiben. Meine Eltern sind spät dran – es ist immer knapp bei ihnen –, und mein Vater steht in seinen weißen Unterhosen im Flur vor dem Schlafzimmer und wählt eine Krawatte von der Kleiderstange aus. Im Schlafzimmer liegt Nicola, meine mittlere Schwester, auf dem Bett meiner Eltern und sieht zu, wie meine Mutter sich ankleidet. Sie zieht eine figurformende Strumpfhose an. Keinen Büstenhalter – meine Mutter, die ebenso flachbrüstig ist, wie ich es später sein werde, hasst BHs. Sie hat noch immer die Lockenwickler aus der weißen Plastikschachtel auf dem Ankleidetisch im Haar. Obwohl meine Mutter im Teenageralter ständig mit dem Zug nach Coney Island gefahren ist, um dort Babyöl auf ihre Haut zu schmieren und sich stundenlang hinter einen aus Alufolie gebastelten Sonnenreflektor zu setzen, und obwohl sie und Andy beide tiefbraun werden, sobald der Sommer beginnt, ist das Gesicht meiner Mutter nach wie vor vollkommen glatt. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren werde ich mehr Falten haben als sie in ihren Fünfzigern. Es ist das Geschenk ihrer italienischen Gene, sagt sie. Ein Geschenk, meint sie, das mit einem Fluch einhergeht, der auf ihren Haaren liegt.

Während meiner gesamten Kindheit stylt sie ihre Haare jeden Morgen mit heißen Rollen zu einer Toupierfrisur à la Jackie O. – eine Frisur, die sie als junges Mädchen für sich entdeckt hat, und der einzige Stil, der, wie sie beteuert, zu ihrer Haarstruktur passt. Vor jeder Reise muss mein Vater die Lockenwickler einpacken. Meine Mutter behauptet, sie habe sich die Haare als Teenager mit diversen Laugen ruiniert, mit denen sie versuchte, sie zu glätten. Später einmal, während eines Familienausflugs nach Jamaika, werde ich mit ihr zusammen in einem Schönheitssalon sitzen. Zwei Frauen unter Fönhauben schauen zu uns herüber und lachen. Eine von ihnen kommt her. »Ihre Mama muss mit einem Schwarzen geschlafen haben«, sagt sie zu meiner Mutter und nickt, um ihrer Bemerkung Nachdruck zu verleihen.

Meine Mutter lacht. »Mein Vater ist Italiener«, antwortet sie. »Vincent Jimmy Marzano aus Astoria in Queens.« Kann irgendwas italienischer sein als das?

Die Frau zieht ihre Brauen hoch und fasst meine dunklen Locken ins Auge. »Nun, dann müssen Sie wohl mit einem Schwarzen geschlafen haben!« Und wieder lacht meine Mutter.

Jetzt gerade steht sie vor der Kommode, die mein Vater extra für sie hat schreinern lassen und deren Schubladen noch fast leer sind, aber voller Versprechen für die Zukunft, und sie wählt eine Kette aus, die er ihr geschenkt hat, ebenholzschwarze und roséfarbene Perlen, die in der Mitte eine große Blüte bilden. Sie winkt mich herbei, und ich stelle mich hinter sie. Sie hält ihre Haare zusammen, damit ich den Verschluss in ihrem Nacken zumachen kann. Ich bin schon beinahe so groß wie sie. Ich habe ihre Haare, ihre Liebe zu Büchern, ihr Lächeln geerbt. Mit der Zeit werde ich in die Form ihrer Hüften, in ihre Entschlossenheit und ihre Körpergröße hineinwachsen. Sobald ich den Kettenverschluss gesichert habe, dreht sie sich mit glänzenden Augen zu mir um.

Dies ist eine außergewöhnliche Nacht, eine magische Nacht. An anderen Abenden zieht sie sich alleine an, ohne dass mein Vater im Flur steht, weil er noch irgendwo in der Dunkelheit unterwegs ist, nachdem er das Auto genommen hat und mit quietschenden Reifen aus der geschotterten Einfahrt geschossen ist. An einem solchen Abend wird mein Bruder einst in den Raum kommen und sie schweigend betrachten, während meine Schwester und ich auf dem Bett liegen. »Wen liebst du mehr?«, wird er plötzlich fragen. »Daddy oder uns?« Seine Worte werden einem Eingeständnis gefährlich nahe kommen, das es eigentlich nicht geben dürfte: dass es eine Wahl geben könnte zwischen uns und ihm.

Aber nicht heute. Dieser Abend ist wunderbar. Meine Mutter trägt Lippenstift auf. Mein Vater bindet seine Krawatte und streicht das Jackett über seinen Schultern glatt, ehe er ihre Hand nimmt. Die beiden sind fort in einem Atemzug, einer Wolke aus Parfum und Aftershave, die hinter ihnen herschwebt wie eine Erinnerung.

 

Später an diesem Abend, es ist jetzt vielleicht zehn Uhr: Die Dunkelheit ist so tief, wie sie nur werden kann, die Welt draußen verstummt, und lediglich die Scheinwerfer von Autos ziehen auf dem Weg in ein entferntes, unbekanntes Irgendwo hin und wieder an den Fenstern unseres Spielzimmers vorbei. Meine Großmutter liegt dort in der Nähe des Fensters auf einem knubbeligen grünen Schlafsofa. Jenseits der Tür zum Spielzimmer befindet sich die Treppe, die sie gerade heruntergestiegen ist, nachdem sie und mein Großvater uns ins Bett gebracht haben. Jetzt ist das Haus ganz still, nur der Deckenventilator surrt in der Luft, und der schwache gelbe Lichtschein der Nachtlämpchen erhellt die Flure. Der Ventilator muss anbleiben, mein Vater will das so, aber in dem langen, holzgetäfelten Raum mit den Eimern voll Holzspielzeug und den Regalen mit Comicbüchern fröstelt meine Großmutter. Sie legt sich eine Decke um die Schultern, eine pinkfarbene Wolldecke, die sie zu meiner Geburt gehäkelt hat. Sie und mein Großvater sind gemeinsam ins Bett gegangen. Aber jetzt ist sie alleine dort.

Die Treppe knarzt, das Geräusch eines Fußtritts auf einer Stufe.

Die Decke ist locker gehäkelt, kühle Luft kommt durch die Löcher zwischen den Maschen, und die Wolle kratzt auf ihrer Haut. Sie dreht sich um und zieht die Decke fester um sich. Ihr wird nicht richtig warm ohne den Körper meines Großvaters neben sich. Seit sie geheiratet haben, haben sie jede Nacht zusammengelegen. In sechs Jahren werden meine Eltern für sie in einem Restaurant in der Stadt eine Feier zu ihrem fünfzigsten Hochzeitstag ausrichten, und wir alle werden uns versammeln, um die schiere Anzahl all dieser Tage, all dieser Nächte als Leistung zu feiern. Jetzt aber streckt sie die Hand nach der Karte aus, die neben ihrem Kopfkissen liegt. Sie zeigt die Jungfrau Maria mit friedlichen, halb geschlossenen Augen, die Hände für immer im Gebet zusammengelegt. Auf der Rückseite steht der Name der Mutter meiner Großmutter. Seit sie vor Jahrzehnten gestorben ist, legt meine Großmutter diese Karte jede Nacht neben sich. Sie berührt die kühle, laminierte Oberfläche und wünscht ihrer Mutter eine gute Nacht. Meine Großmutter weiß genau, wohin sie gehen wird, wenn sie stirbt. Sie nennt diesen Ort ihre einzig wahre Heimat.

Die Stufen knarren wieder unter dem Gewicht eines Körpers, der auf ihnen hinaufsteigt.

Es ist mein Großvater, der auf ein Hörgerät angewiesen ist, nicht meine Großmutter. Sie muss also die Treppe hören und sein heftiges Keuchen, während er auf den Stufen steht. Weiß sie, wohin er geht? Weiß sie, was er dort tun wird?

Die Treppe ist noch immer der ganze Stolz meines Vaters. Jedem Besucher erzählt er ihre Geschichte, und er sorgt dafür, dass ihre Pfosten immer glänzen. Auf der Wand gegenüber dem Treppengeländer hängen gerahmte Familienfotos, in umgekehrter Reihenfolge arrangiert, sodass jeder, der die Treppe hinaufsteigt, in der Zeit zurückgeht. Erst lächeln wir in steifen Kragen und mit zu fest geflochtenen Zöpfen für Schulfotos in die Kamera, dann liegen wir als Babys lachend auf dem Rücken. Danach kommt meine Mutter als junge Frau mit Perlen und Toupierfrisur und mein Vater als blonder kleiner Junge, der die Nase gegen einen Zaun presst und hungrig aus dem Bilderrahmen herausschaut. Unter den Bildern ist ein weinroter Teppich auf die Stufen getackert, der als Läufer dient, aber dazu neigt, gefährlich zu verrutschen, während das alte Holz protestiert.

Die Treppe knarrt so laut, dass ich es von meinem und Nicolas Schlafzimmer im hinteren Teil des Hauses aus höre. Während ich lausche, stelle ich mir vor, wie mein Großvater die Treppe heraufgestiegen kommt: wie er sich von den Fotos abwenden muss, um das Geländer mit beiden Händen zu packen und sich seitwärts hinaufzuarbeiten. Wie seine dicken Finger sich um das Holz klammern, wenn die Angina seinen Mund zu einer schmalen, überraschten Linie werden lässt und seine Arme sich versteifen, während er gegen den Schmerz anatmet. Nur noch diesen einen Anfall ertragen, denkt er sich, dann kommt vielleicht kein weiterer mehr. Er erträgt sein Altern auf die gleiche Weise: indem er sich dem Druck der Zeit entgegenstemmt, als hegte ein Teil von ihm die Hoffnung, dass er sich selbst eines Tages als junger Mann wiederfinden könnte, dem noch alle Möglichkeiten offenstehen.

Meine Großmutter trägt Hauskleider und wickelt ihre kurzen grauen Haare jeden Abend auf Schaumstoffwickler, die sie manchmal nicht einmal am nächsten Morgen entfernt. Aber mein Großvater bügelt noch immer messerscharfe Bügelfalten in seine Hose und trägt eine dazu passende Tweedkappe. Er poliert regelmäßig seinen Gehstock, der an der Tür für seinen täglichen Spaziergang bereitsteht. Ein oder zwei Jahre später (ein Jahr, bevor ich das Zimmer verlasse, wann immer mein Großvater es betritt) werde ich einmal warten, bis die beiden alleine in der Küche meiner Eltern sind. Dann frage ich sie, ob sie sich, alt wie sie sind, mittlerweile an die Vorstellung gewöhnt haben zu sterben.

Als ich diese Frage stelle, bin ich eine sehr ernste Achtjährige. Ich denke oft über den Tod nach. Mir ist bewusst geworden: Das Schweigen meiner Mutter, die Anfälle meines Vaters, all das bedeutet, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist. Es hat etwas mit der blauen Reisetasche zu tun, die sie immer noch für meinen Bruder fertig gepackt bereithalten, und mit der Tatsache, dass die Geburtsanzeigen meiner Schwestern gerahmt an der Wand hängen, aber nicht meine und die meines Bruders. Und manchmal habe ich das unerklärliche, aber sichere Gefühl, dass jemand fehlt.

Das kann nicht stimmen. Wir sind vier Kinder, sind immer vier gewesen. Und doch raubt der Gedanke an den Tod mir manchmal den Atem. Also frage ich. Haben sie sich an den Gedanken gewöhnt?

Auf diese Frage hin zuckt meine Großmutter zusammen, und ihre Hände flattern vor meinem Gesicht, als wollte sie den Gedanken verscheuchen. Aber mein Großvater sieht mir in die Augen, die von demselben tiefen Braun sind wie die meiner Mutter. »Nein«, sagt er ganz ruhig. »Die Angst geht niemals weg.«

Meine Großmutter keucht auf. Sie legt mir die Hände auf die Schultern, als könnte sie mich, indem sie mich wegdreht, vor dem Wissen bewahren, dass seine Worte der Wahrheit entsprechen. Aber ich fühle, wie es in meiner Brust ganz ruhig wird, nicht aus Furcht, sondern aus plötzlicher, klarer Dankbarkeit ihm gegenüber. Dankbarkeit dafür, dass er mich als diejenige erkannt hat, die ich bin, dass er meine Frage ernst genommen hat.

Bevor also mein Großvater die Treppe weiter hinaufsteigt, bedenken Sie bitte: Er war nicht nur schlecht. Er war ein Mann, den die Kraft von Geschichten begeisterte, der, als meine Mutter und ihre Brüder klein waren, einen Filmprojektor von seiner Arbeitsstelle mitzubringen pflegte und sie verzauberte, indem er das Wohnzimmer in einen Theatersaal verwandelte. Er wusste, wie man Kinder zum Lachen bringen konnte, und er hatte immer Süßigkeiten oder ein aufziehbares Blechspielzeug in seinen Taschen. Er war der erste Künstler, den ich kannte, ein Maler und Bildhauer. Er lehrte mich das Zeichnen. Er lehrte mich, was es bedeutete, den Blick nach innen zu richten, still und nachdenklich zu sein mitten im Lärm der Außenwelt. Wir waren einander in dieser Hinsicht ähnlich. Als Einzige in unserer Familie. Ich liebte ihn. Es war Familienliebe, die Art von Liebe, die man nicht hinterfragt.

In jenem Moment im Jahr 1984, in dem meine Großmutter auf dem halb leeren Schlafsofa liegt und mein Großvater auf der Treppe innehält, in diesem Augenblick gibt es immer noch eine Alternative. Vielleicht wird mein Großvater heute, anders als in all den Nächten zuvor, kehrtmachen. Wird die Treppe wieder hinabsteigen und meiner Großmutter eine Erzählung ihrer Ehe ermöglichen, eine Erzählung ihres Lebens, in der sie ihn eben nicht auf der Treppe hört. Er wird meine Schwester und mich in unseren Kinderbetten in Ruhe lassen, in denen wir in diesem Moment schweigend daliegen und in die Dunkelheit horchen. Wir wissen beide, worauf wir lauschen, auch wenn wir die Worte niemals ausgesprochen haben.

Oder vielleicht wird heute Nacht – anders als in allen anderen Nächten, die ihr vorausgegangen sind – meine Großmutter ihr Gebetskärtchen beiseitelegen, ihre Augen öffnen und aus dem Bett aufstehen, dem Geräusch nachgehen, das sie ja hören muss …

Doch nein. Die Treppe.

Meine Großmutter in ihrem Bett, meine Schwester in ihrem, ich in meinem – wir liegen da und lauschen.

7

Louisiana, 1992

Später wird Lanelle Trahan, Pearls und Rickys Chefin in der Tankstelle, sagen, dass sie in der Nacht, in der Jeremy verschwand, wusste, dass Ricky es getan hatte. An dem Abend hatte sie die Kasse gemacht, hatte extragroße Kaffees eingetippt und die Dieselpumpen für die Lkw-Fahrer eingeschaltet, die nach all den Stunden, die sie auf der Straße unterwegs gewesen waren, ein wenig o-beinig aus ihren Führerhäuschen geklettert kamen, um bei ihr bar zu bezahlen. Ein Mann von der Freiwilligen Feuerwehr war hereingekommen, und während er ihr einen zerknitterten Fünfdollarschein für eine Schachtel Zigaretten und einen Kaffee reichte, sagte er: »Das wird ne lange Nacht für mich.«

»Ja?«, fragte Lanelle freundlich nach.

Und der Mann erzählte, ja, drüben in der Watson Road in Iowa werde ein kleiner Junge vermisst, und sein Feuerwehrtrupp und noch ein anderer seien im Einsatz. Eltern aus der ganzen Gemeinde seien zum Helfen aufgetaucht, nachdem sie es in den Abendnachrichten gehört hätten. »Große Suche«, sagte der Mann. »Richtig groß. Sie wollen Suchhunde einsetzen.«

Lanelle musste sofort an Pearls Sohn Joey denken. Joey spielte immer draußen in den Wäldern, und manchmal kam Pearl zu ihrer Schicht und klagte darüber, dass Joey sich verletzt oder verlaufen hatte. Oder noch Schlimmeres. Als es Zeit für ihre Zigarettenpause wurde, rief Lanelle den Besitzer der Tankstelle an und fragte ihn, ob sie den Helfern ein paar Thermoskannen Kaffee und Plastikbecher bringen durfte. »Ja, das geht schon klar«, hatte er gesagt. »Aber erst nach Schichtende.«

Und so war es zehn Uhr und vollständig dunkel, als Lanelle es schließlich zu Pearl hinausschaffte. Mehrere Polizeiautos versperrten die Straße, ihre Scheinwerfer waren wie Leuchtfeuer. Aber sie rollte näher heran, kurbelte ihr Fenster herunter, durch das die Luft dieser Februarnacht beunruhigend kühl hereinstrich, und erzählte dem Officer im Wagen, der mit seinem Bürstenhaarschnitt selbst fast noch wie ein Junge aussah, von dem Kaffee. Er ließ sie durch.

Im Licht der Scheinwerfer wirkte der weiße Putz des Hauses gespenstisch, und da, wo die Farbe abgeblättert und schmuddelig war, verlieh das Licht ihm eine seltsame Gestalt, als sei das Haus in Wirklichkeit nur die Haut einer Kreatur, die dahinter lauerte. Ihr Rücken verschwamm mit dem Schwarz des Waldes.

Die Tür war nicht verschlossen. Lanelle schlüpfte ins Haus. Ricky war gerade dabei, die Küche auszufegen. »Hi, Ricky«, sagte sie, aber er kehrte weiter, mit raschen, kurzen Bewegungen. Die beiden waren noch nie gut miteinander ausgekommen. Als sie die Thermoskannen auf dem Küchentisch abstellte, hörte sie aus dem Wohnzimmer den Fernseher plärren. Dort hockte Pearl zusammengesunken auf der abgewetzten braunen Couch und sah fern. Das weiße Haus war auf dem Bildschirm zu sehen, hell erleuchtet. Der Anblick machte Lanelle nervös, es schien, als ob sie von weit oben auf sich selbst herabblickte. Sie setzte sich neben Pearl. »Pearl«, sagte sie sanft. »Haben sie Joey mittlerweile gefunden?«

»Joey wird nicht vermisst«, sagte Pearl. »Er ist oben. Ricky hat sich um die Kinder gekümmert. Es ist ein kleiner Junge aus der Straße. Joeys Freund.«

Sie starrte wieder auf den Bildschirm. Lanelle wartete einen langen Moment, aber es schien nicht so, als hätte Pearl noch mehr zu sagen. Wenn Lanelles Straße von Scheinwerfern erleuchtet gewesen wäre, dann wäre Lanelle ganz sicher zu den anderen nach draußen gegangen. Aber Pearl benahm sich, als ob nichts Besonderes los wäre. Lanelle sagte: »Ich habe Kaffee für die Helfer mitgebracht. Der Boss sagt, das geht in Ordnung.«

»Danke.«

»Hm«, meinte Lanelle. »Also, ich denke, ich werfe mal einen Blick die Treppe rauf? Mal sehen, ob mit Joey und June alles okay ist?« Vielleicht, dachte sie sich, versteckte sich der vermisste Junge bloß da oben. Kinder in dem Alter – wenn sie erst mal ein gutes Versteck gefunden hatten, bekam man sie da manchmal gar nicht mehr raus.

 

»Ist gut«, sagte Pearl.

Also stand Lanelle auf, um genau das zu tun. Sie wusste, dass das Haus etwas komisch aufgebaut war. Um zur Treppe zu kommen, musste man erst einmal durch das Bad neben der Küche.

Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003

Frage: Was passierte dann?

Antwort: Ich ging zur Treppe, aber Ricky steuerte auf mich zu.

Frage: Okay.

Antwort: Lief direkt an mir vorbei und wollte mich nicht rauflassen. Er hat gesagt, dass ich nicht die Treppe hochkann. Er wollte mich nicht da oben haben. Und er wurde wütend. Wenn Ricky wütend wurde, wurde er richtig wütend. Ich hatte ihn vorher schon mal wütend gesehen. Er wurde knallrot, und Dolche schossen aus seinen Augen.

Halten wir an dieser Stelle einen Moment inne. Ricky steht auf der Treppe, seine Augen blitzen, eine Ader an seiner Stirn pulsiert, und sein Gesicht ist puterrot. Er breitet die Arme aus, damit sie nicht an ihm vorbeikommt, blockiert die Stufen mit dem Besen, seine Hand eine feste Faust um den Besenstiel. Lanelle steht auf der Stufe unter ihm, immer noch in ihrem grünen Poloshirt mit dem Tankstellen­logo, ihr Make-up sitzt nicht mehr, und ihr Haar riecht nach Abgasen und Zigarettenrauch.

Es war ein langer Tag. Sie hat eine anstrengende Schicht hinter sich. Sie sollte längst zu Hause sein und die Füße hochlegen, nicht hier im Haus der armen Pearl sein.

Das ist der Moment, in dem sie es wusste, wird Lanelle später sagen. In dem sie wusste, dass etwas nicht mit Ricky stimmte. Dass schon die ganze Zeit etwas nicht mit ihm gestimmt hatte, auch wenn niemand sich getraut hatte, es auszusprechen.

Lanelle machte kehrt und erzählte Pearl, dass Ricky sie nicht hinauflassen wollte.

»Ach, so ist Ricky halt«, sagte Pearl. »Er hat oben schon geguckt. Das hat nichts zu bedeuten. Ricky ist einfach so.«

Lanelle wusste, was sie meinte. Wenn jemand sein Leben lang für seltsam gehalten wird, kann es passieren, dass er dadurch seltsam wird. Aber sie hatte ein ungutes Gefühl.

Also trat Lanelle auf die Straße hinaus und klopfte an das Fenster des ersten Polizeiautos, das sie sah. Noch gab es keine Kommandozentrale; die Polizisten organisierten alles von den Fahrersitzen ihrer Wagen aus. »Haben Sie Pearls Haus auch durchsucht?«, fragte sie.

»Ma’am?«

»Das weiße Haus«, sagte sie. »Genau hier. Haben Sie dort gesucht?«

Der Officer warf einen Blick auf sein Klemmbrett. »Die Besitzerin sagt, ein gewisser Ricky hätte im Haus gesucht.«

»Und damit geben Sie sich zufrieden?«

»Ja, Ma’am.«

Sie konnte es sich später selbst nie wirklich erklären, warum sie nicht wieder umgekehrt war und Ricky einfach zur Seite geschoben hatte, um nach oben zu gehen und dort zu suchen. Gewiss, später sagte man ihr, dass es ohnehin zu spät gewesen wäre, dass der Junge längst tot war, dass das Einzige, was sie in dem Schrank hätte finden können und was Ricky vor ihrem Blick verteidigte, ein lebloser Körper war.

Aber sie sollte noch lange darüber nachdenken. Über Jahre hinweg würde die Sache sie beschäftigen.

Sie versicherte den Polizisten, dass sie bereit wäre, alles zu tun, um sich nützlich zu machen. Sie schickten sie mit den Feuerwehrleuten aus LeBleu in die Wälder, wo sie bis spät in die Nacht mit einer Taschenlampe auf das schmutzigbraune Laub leuchtete, in der Hoffnung, in dem Widerschein eine Farbe zu entdecken, die da nicht hingehörte. Sie lief am Rand der Schlucht entlang und beugte sich weit vor, ohne wirklich zu erwarten, den Jungen dort unten zu entdecken, aber sie suchte, suchte immer weiter.

Am nächsten Morgen war sie zurück in der Tankstelle, wo sie die geliehenen Thermoskannen auswusch. Ricky war ebenfalls da. Den ganzen Tag, während sie den Fernfahrern Wechselgeld aushändigte und ihnen zunickte, ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie durch die Glasfenster an der Front des Gebäudes starrte, wie sie Ricky beobachtete, der über das Gelände lief. Sie versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Sah er normal aus? Normal für seine Verhältnisse? Oder sah er aus wie ein Mann, der etwas zu verbergen hatte? Und diese Hände – sahen sie aus wie die Hände von jemandem, der einem Kind etwas antun würde? Was sie dachte und fühlte war nichts, das sie irgendjemandem hätte mitteilen können. Aber etwas stimmte einfach nicht.

Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003

Antwort: Ich für meinen Teil, wenn ich Leute zu Besuch habe, denen ich nicht über den Weg traue, dann versteck ich meinen Schmuck in meinem Zimmer. Ich schließ die Zimmertür ab, damit niemand reinkann.

Frage: Sie meinen, Sie sind misstrauisch?

Antwort: Richtig. Weil ich nicht will, dass jemand da reingeht, verstehen Sie, warum auch immer. Ich verstecke meinen Schmuck.

Frage: Okay.

Antwort: Deshalb kam es mir verdächtig vor, dass Ricky mich nicht rauflassen wollte.

Sie wusste, was das bedeutete. Ricky hatte etwas zu verbergen.

Niemand kann zu diesem Zeitpunkt – als Lanelle den Lastwagenfahrern ihre Kassenzettel aushändigt und Pearl die Oberflächen im Tankstellenshop abwischt und Ricky seinen Wäschesack über die Schulter hievt, um ihn zu seiner Familie mitzunehmen – wissen, was in drei Monaten passieren wird. Nachdem Jeremys Leiche im Schrank gefunden worden ist, nachdem Ricky in Handschellen abgeführt und im örtlichen Gefängnis eingesperrt worden ist, nachdem die Titelseiten aller Zeitungen im ganzen Land dasselbe Schwarz-Weiß-Foto von dem monströsen Sextäter abgedruckt haben, der einen kleinen Jungen ermordet hat. Nachdem das Haus der Lawsons zum Hauptquartier für die Polizeibeamten geworden ist, die gelbes Absperrband am Schrank und Rickys Schlafzimmertür angebracht haben, nachdem alle Habseligkeiten von Ricky aus dem Raum in Plastiktüten verstaut wurden, versiegelt und mit der Aufschrift »Beweismittel« versehen, und man auch Jeremys Leiche versiegelt und zur Leichenhalle gebracht hat. Niemand kann jetzt schon wissen, dass in drei Monaten, nach alledem, Terry Lawson, Pearls Ehemann und Vater von Joey und June, seinen Sohn eines Nachmittags zu einem Ausflug auf seinem Motorrad mitnehmen wird.

Es existiert kein Bericht darüber, was Terry Lawson an diesem Nachmittag sagt. Vielleicht sagt er: »Komm, wir fahren zum See, mein Sohn.« Oder vielleicht: »Warum kommst du nicht mit zum Laden, ich nehme dich auf dem Motorrad mit.« Oder: »Magst du Eis essen gehen?« Er reicht dem Jungen seine Hand und hilft ihm auf die Maschine, zeigt ihm, wie er mit seinen kleinen Beinen die Seiten des Motorrads umklammern kann.

Und dann rast ebendieses Motorrad exakt in den zweiten Waggon eines herankommenden Amtrak-Zuges, und beide sterben.

Den zweiten Waggon.

Terry Lawson steuert die Maschine. Sein Sohn sitzt hinter ihm, hält sich an ihm fest. Zeugen berichten, das Gelände sei übersichtlich gewesen; dass man den Zug aus einer Meile Entfernung habe sehen können und dass er unmittelbar vor dem Aufprall einen lauten Pfiff habe ertönen lassen. Wie stößt man mit dem zweiten Waggon eines Zuges zusammen? Den ersten Waggon könnte man vielleicht übersehen und von ihm erfasst werden. Aber wie wird man vom zweiten Waggon eines Zugs erfasst?

Es gibt so vieles, was die Menschen in dieser Geschichte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen können. Durch die Seiten der Verhandlungsprotokolle hindurch sehe ich zu, wie Lanelle den Zapfhahn für einen weiteren Lkw freischaltet und Ricky durch die Scheiben hindurch anstarrt. Ich sehe zu, wie Pearl sich daranmacht, die Milchkännchen aufzufüllen. Ich sehe zu, wie Ricky versucht, ein vorbeifahrendes Auto anzuhalten.