Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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4

New Jersey, 1983

Sobald wir uns in unserem neuen Haus eingerichtet haben, kündigt mein Vater den Job als Anwalt im Staatsdienst und eröffnet eine eigene Kanzlei. In der nahe gelegenen Stadt Teaneck mietet er im ersten Stock eines anderen grauen viktorianischen Hauses ein Büro. Er kauft ein schwarzes Metallschild, vierzig Zentimeter lang, zwanzig breit, und lässt die Worte »Andrew Robert Lesnevich« eingravieren, gefolgt von dem Wort, für das er so hart gearbeitet hat: Esquire. Das Schild ist das erste von vielen, die noch folgen werden. Er bringt es an der Tür an und wartet darauf, dass jemand mit einem Fall zu ihm kommt.

Und schließlich kommen Klienten, eine Parade der Glücklosen und Törichten, die in der Kanzlei jedes Kleinstadtanwalts für Arbeit sorgen: die Hausfrau mit dem heimlichen Hang zum Alkohol, die sich ans Steuer setzt und nicht zugeben will, dass sie nicht nur aus Erschöpfung einnickt. Der alte Mann, der auf dem vereisten Gehweg des Ladeninhabers in der Innenstadt ausrutscht, und die jugendliche Ladendiebin, deren gierige Hände, die sonst so flink sind, sie schließlich verraten. Mein Vater ist keine Klatschtante; er ist vertrauenswürdig, und es gefällt ihm, diese Position einzunehmen, mit einem Fuß in dem Gewebe, das all diese Leben verbindet. Er wird gebraucht, aber nicht zu sehr. Vor allem wird er bewundert. Die Jahre, die er bei der Air Force verbracht hat, haben ihm einen aufrechten Gang und eine Autorität verliehen, die es ihm erlauben, sich scheinbar mühelos der Geschichten anderer anzunehmen.

Jura war nicht seine erste Wahl. Mein Vater träumte als Junge davon, Kampfflugzeuge zu steuern. Sein eigener Vater war während des Zweiten Weltkriegs auf See umgekommen. Seine Mutter traf sich niemals wieder mit einem anderen Mann, und durch das Vermächtnis seines Vaters schien eine Karriere beim Militär geradezu sein Geburtsrecht zu sein. Doch er hatte Plattfüße, war eins fünfundneunzig groß und farbenblind – keine Chance, ein Kampfflieger zu werden. Immerhin konnte er Tennis spielen. Er ging zur Air Force und saß den Vietnamkrieg an einem Schreibtisch in den Tropen aus, wo er Dokumente stempelte, immer und immer wieder, und in dreifacher Ausführung unterschrieb, wie um sein Handgelenk für die Tennisplätze zu trainieren, auf denen er seine Gegner von der Marine und der Armee schlug. Nachdem seine aktive Zeit beim Militär vorüber war, stellte sich die Frage nach seiner Zukunft. Er hatte Geologie studiert, im Masterstudiengang Psychologie. Er konnte sein Studium wieder aufnehmen. Womöglich konnte er Wissenschaftler werden. Vielleicht auch Lehrer.

Aber er wollte ebenso wenig an einem Labortisch stehen wie an einem Schreibtisch sitzen. Wenn er schon kein Pilot sein konnte, dann wollte er eine öffentliche Bühne. Er wollte vor Publikum stehen und allen zeigen, dass der kleine vaterlose Andrew aus Cliffside Park, New Jersey, es geschafft hatte.

Wann immer mein Vater an dieser Stelle seiner Erzählung anlangt – einer Erzählung, der ich oft zuhöre –, wird seine tiefe Stimme eindringlicher, sein Tonfall gemessener. Mein Vater ist ein Geschichtenerzähler. Er bestreitet seinen Lebensunterhalt damit, einer Jury Geschichten zu erzählen, und er erzählt sie uns, wenn wir um den massiven weißen Kunststofftisch sitzen, der so groß ist, dass er ihn zu einem Sonderpreis bekommen hat; keine andere Familie wollte ihn haben, sagt er. Für uns ist er perfekt. Mein Vater sitzt auf der einen Seite, flankiert von zweien von uns Geschwistern, meine Mutter auf der gegenüberliegenden zwischen den anderen beiden. Die Kanten des Tisches sind abgerundet, sodass Elize, die Jüngste, die gerade erst richtig laufen lernt, sich nicht verletzen kann, wenn sie dagegenstößt. Um diesen Tisch sitzend sind wir sein Publikum, und sein Leben liefert den Text des Dramas. Während ich ihm als Kind lausche, stelle ich mir immer vor, dass die Weggabelung, die er beschreibt, wirklich eine ist: eine einspurige Straße irgendwo im östlichen Missouri, kein Auto außer dem seinen, dessen gelbe Scheinwerfer die einzige Orientierung in der Nacht bieten. Von seinem Platz hinter dem Steuer aus sieht mein Vater, wie sich die Straße vor ihm gabelt. Zu seiner Linken der Westen. Wenn er links abbiegt, wird ihn das aus den Klauen seiner Mutter befreien. Es wird ihn vor der Depression retten, die begonnen hat, ihn ebenso heimzusuchen wie sie; vor dem Gefühl, dass seine enge Verbindung zu ihr nach dem Tod seines Vaters sein Schicksal ist, dass sein Leben seit frühester Kindheit vorherbestimmt ist. Im Westen ist Kalifornien, wo er ein Leben haben wird, das so fest und verlässlich wie die Steine ist, die er einst studiert hat. Er wird ein Lehrer sein, ja, aber vielleicht auch ein Politiker. Er wird sich geliebt fühlen. Er wird glücklich sein.

»Aber stattdessen«, er erreicht den Moment seiner Geschichte, der immer folgt, »wusste ich, dass meine Mutter mich brauchte. Ich wählte den rechten Weg. Ich kehrte nach New Jersey zurück. Und dann lernte ich eure Mutter kennen.«

Alles ist das Ergebnis einer einzigen Entscheidung: seine Mutter, unsere Mutter, wir vier Kinder, und jetzt sein graues Büro in der Stadt, wo er im Licht einer langen, metallenen Schreibtischlampe arbeitet, die einst seinem Onkel gehörte. Ein großes Erkerfenster schaut hinaus auf den Hof. In den Nächten, in denen er vergisst, die Jalousien zu schließen, können wir von der Terrasse vor dem Haus aus seine Silhouette sehen und erkennen, wie er im Licht der Metalllampe über den Tisch gebeugt dasitzt. Eines Nachts ruft meine Mutter wieder und wieder im Büro an, ohne dass er abhebt, und so packt sie uns ins Auto und fährt hinüber – ein sicheres Anzeichen dafür, dass sie nervös ist, denn meine Mutter, eine New Yorkerin aus Astoria, Queens, hat sich erst im Alter von achtunddreißig Jahren dazu herbeigelassen, den Führerschein zu machen, und wird niemals die steife Haltung ablegen können, mit der sie das Steuer umklammert, die Hände fest in Position, so wie man es ihr beigebracht hat. Eines Tages, wenn sie Geld haben, wird sie einen Fahrdienst nutzen, der sie überall hinbringt. In der Nacht ist das Autofahren für sie noch schlimmer als tagsüber, und sie liegt fast mit dem Oberkörper auf dem Lenkrad, das sie so fest umfasst, als handle es sich um einen Rettungsring.

Als wir bei der Kanzlei ankommen, sind alle Fenster dunkel, von meinem Vater keine Spur. »Ihr bleibt hier«, sagt meine Mutter zu mir und Andy und meinen Schwestern. »Ihr bleibt genau hier.« Das ist ungewöhnlich. Meine Eltern lassen uns fast nie alleine im Auto. Wenn nicht gerade meine Großeltern kommen und auf uns aufpassen, lassen sie uns überhaupt so gut wie nie alleine. Wir sind überall dabei: hinten in den letzten Reihen im Gerichtssaal, in feinen Restaurants. Es gibt sogar ein Bild, auf dem Andy und ich im Alter von drei Jahren Hand in Hand auf den roten Samtstufen vor der Metropolitan Opera stehen, ich in einem weißen Rüschenkleid, und daneben Andy, dessen Locken über den Kragen seines hellblauen Anzugs fallen. Aber heute Nacht bleiben wir im Auto. Es ist eine warme Nacht im frühen Herbst, und die Fenster stehen offen. Die Luft ist ein wenig stickig, die Blätter schwer und weich um uns he­rum. Im Schein einer nahen Laterne sehen wir zu, wie unsere Mutter die Treppe zum Eingang hinaufsteigt und die Klingel drückt. Sie wartet. Nichts tut sich. Sie klingelt noch einmal. Nichts. Sie trommelt gegen das Erkerfenster und ruft hinein: »Drew! Drew!«, und ihre Stimme wird mit jeder Wiederholung seines Namens höher und lauter.

Viel später, als ich dem Alter, in dem sie in diesem Moment vor dem Haus steht, näher bin als dem des Kindes, das im Auto wartet, kehre ich in Gedanken zu diesem Moment zurück. Und verstehe, welche Ängste die Nacht für sie bereithielt. Vielleicht ist er zu guter Letzt doch fortgegangen, wie er es manchmal angedroht hat in den dunkelsten Nächten, in denen er sich auflehnte gegen die Wahl, die er auf einer einsamen Landstraße in Missouri getroffen hatte – diese Wahl, die ihn in dieser Geschichte mit uns festhielt. Nächte, in denen er an dem Kunststofftisch saß und den Wein austrank, den meine Mutter und er zuvor geöffnet hatten, und dann eine weitere Flasche öffnete. Jene Nächte, in denen er beteuerte, es würde uns ohne ihn besser gehen. Nächte, in denen er schwor, es würde uns besser gehen, wenn er tot wäre.

Aber in dieser Nacht, in der ich meiner Mutter auf den Stufen zusehe und höre, wie sie seinen Namen ruft und Schweigen als Antwort erhält, in dieser Nacht habe ich einfach nur Angst, dass mein Vater tot ist – nicht von eigener Hand, sondern durch das Schicksal. Er verlor seinen Vater, als er noch ein Baby war. Er verlor den Onkel, der geholfen hatte, ihn aufzuziehen, und dann früh an einem Herzinfarkt verstarb. Jeden März, wenn wir seine Wange küssen und ihm alles Gute zum Geburtstag wünschen, schüttelt er, wenn er etwas Wein getrunken hat, den Kopf und sagt, wie überrascht er ist, dass er noch lebt. Er wiederholt diesen Satz Jahr um Jahr, bis ein Teil von mir anfängt, es ebenfalls überraschend zu finden.

In dieser Nacht kommt er endlich doch aus der Tür, und im Licht der Straßenlaterne sehe ich, wie das Gesicht meiner Mutter sich entspannt, halb freudig, halb erleichtert, dankbar, dass sie das alles noch immer zusammen durchstehen. Sie kommen Hand in Hand zum Auto zurück. Sie strahlt. »Hey, Kids«, sagt er. »Ich bin am Schreibtisch eingeschlafen.« Seine Krawatte hängt halb geöffnet um seinen Hals. Er reibt sich die Augen, dann lächelt er ebenfalls. Meine Mutter küsst ihn, drückt ihm die Autoschlüssel in die Hand. Er fährt uns alle heim. Morgen werden sie überlegen, wie sie das zweite Auto wieder nach Hause zurückbringen.

Kummer setzt sich in den Menschen fest, schlägt Wurzeln in ihnen. Aber ich sehe die Anzeichen bei meinen Eltern zuerst nicht, erst neun Monate später an einem blendend hellen Sommertag. Ich lese mich gerade durch die alten Nancy-Drew-Bücher meiner Mutter, stolz darauf, nicht länger Bilderbücher vorgelesen zu bekommen wie meine kleinen Schwestern. Heute ist Die verborgene Treppe dran. Ich bin das Schaukelgerüst am Ende des Gartens hinaufgeklettert und liege jetzt ganz oben auf den Sprossen, das Buch offen auf dem Brustkorb aufgestellt, die Augen mit der Hand vor dem blendenden Sonnenlicht geschützt. Diese Position ist ein Experiment. Ich bin immer noch dabei, das neue Haus kennenzulernen, all die Ecken und Nischen zu entdecken, in die ich mich zum Lesen verziehen werde. Aber die Sprossen der Leiter bohren sich mir in den Rücken, Holzsplitter drücken durch mein T-Shirt, und ich kann einfach keine bequeme Position finden. Eigentlich sollte das Schaukelgestell längst fertig lackiert sein, ist es aber nicht. An jedem Sonntagnachmittag, an dem mein Vater beschließt, dass die Schaukel unsere Aufgabe für den Tag ist, zieht meine Mutter uns alte Overalls an und drückt mir, Andy und meiner Schwester Nicola kleine Eimer und Pinsel in die Hand. Aber anstatt auf die Stangen des Schaukelgerüsts tragen wir die durchsichtige Farbe auf unsere eigenen Hände auf. Wenn der Lack anfängt anzutrocknen, pressen wir unsere Handflächen zusammen. Festgeklebt! Dann scheucht mein Vater uns in das winzige Badezimmer hinter der Küche, wo ich meine Hände unter den Wasserhahn halte und warte, während er ein Lösungsmittel darübergießt. »Feste reiben«, sagt er. Ich gehorche, und langsam fühle ich durch die Hitze der Reibung und die Feuchtigkeit hindurch, wie meine Hände sich voneinander lösen und meine Haut wieder mir gehört.

 

Es ist ein Augenblick puren Glücks. Ich klebe immer wieder meine Hände zusammen, nur für dieses kurze Glück, ihn hinter mir stehen zu fühlen, seine Arme auf meinen. Noch Jahre später liebe ich den metallischen Geruch des Lösungsmittels. Und er muss diese Augenblicke genauso lieben wie ich, denn obwohl wir mit der Schaukel überhaupt keine Fortschritte machen, schreit er uns nicht an. Das wird sein liebster Sommer werden, in dem wir alle gemeinsam an unserem Zuhause arbeiten.

Die untersten Sprossen sind bereits lackiert, und als ich so ganz oben auf der Leiter liege, dringt ihr essigscharfer Geruch zu mir hoch. Die Sonne brennt auf meinen nackten Beinen unterhalb der Shorts. Ich kratze mich an dem Mückenstich an meiner Hüfte und blättere die Seite um. Unter mir bildet die Wiese einen kleinen Kamm und fällt dann ab. Von hier oben sieht der Garten beinahe flach aus, aber in der Entfernung erhebt sich das Haus mit seinem noch neuen, glänzenden Anstrich auf dem Hügel. Wir haben den längsten Garten der Nachbarschaft. Hinter dem Schaukelgerüst befindet sich ein vernachlässigtes Fleckchen Garten, wo wilde Apfelbäume stehen und aufgehäufter Grasschnitt mit süßlichem Gestank verrottet. Manchmal springe ich kopfüber in den Haufen und fühle, wie mein Kopf auf das tote Gras trifft und die Welt wie eine Wolke unter mir nachgibt. Dieses Fleckchen heißt bei uns »die Wildnis«, und unsere ganze Kindheit hindurch werden wir Pläne schmieden, dort Burgen und geheime Verstecke zu bauen. Pläne, die wir nie verwirklichen werden. Und wann immer meine Eltern in den kommenden Jahren knapp bei Kasse sind, werden sie am Esszimmertisch sitzen und Pläne schmieden, wie sie »die Wildnis« verkaufen können. Aber es taucht nie ein Käufer auf.

Während ich lese und versuche, die Wörter auf der Seite scharf zu sehen – ich brauche eine Brille, aber das ist bislang noch niemandem klar –, mäht mein Vater den Rasen mit einem roten Aufsitzrasenmäher, den wir seinen Traktor nennen. Er liebt den Garten fast ebenso sehr wie das Haus, und seit wir eingezogen sind, hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, Wrangler-Jeans mit Schlag zu tragen, und dazu Stiefel und einen breitkrempigen Cowboyhut, der ihn vor der Sonne schützt, während er das Gras in ordentlichen Bahnen mäht. Ein Cowboy aus New Jersey, zumindest für den Moment. Meine ganze Kindheit hindurch erfindet mein Vater sich selbst immer wieder neu, gebiert alle paar Jahre eine neue Identität: die Opernjahre, die Golfjahre, die Jahre, in denen Cole Porters Stimme durch das Haus swingt und plötzlich ein weißes Dinnerjackett auftaucht. Aber in diesem Augenblick dröhnen Gitarrenklänge aus einer Musikbox auf dem Rasen. Mein Bruder Andy klettert auf den Autoreifen, der an einem Seil von einem Ast der großen Eiche baumelt. Obwohl wir Zwillinge sind, ist er einen Kopf kleiner und zwanzig Pfund leichter als ich, so dürr, dass fremde Leute ihn im Supermarkt angaffen. Gerade jetzt will er durch die Reifenschaukel springen und landet mit dem Bauch auf dem Reifen.

Meine Mutter kommt schreiend aus dem Haus gelaufen.

Sie muss genau in dem Moment aus ihrem Schlafzimmerfenster geblickt haben, in dem mein Bruder auf dem Reifen aufgekommen ist, und gesehen haben, wie seine Arme und Beine schlaff herunterfielen. Sie eilt über die Wiese, barfuß und hysterisch, und der Gürtel ihres pinkfarbenen Bademantels flattert hinter ihr her. Sie rennt auf meinen Bruder zu, der gerade dabei ist, sich aufzurichten, und noch nicht begriffen hat, was das Problem ist, aber erkennt, dass er sich in Bewegung bringen muss. Mein Vater erreicht sie zuerst; er packt sie, stoppt den Aufruhr ihres Körpers und hält ihre Arme fest. Seine Lippen bewegen sich, er wischt ihr die Tränen ab, aber ich bin zu weit entfernt, um zu hören, was er sagt.

Ich starre sie nur an.

Dann lege ich mein Buch beiseite und setze mich aufrecht auf das Schaukelgerüst. Mein Bruder befreit seinen kleinen Körper aus dem Autoreifen und steht stocksteif unter dem Baum. Er starrt ebenfalls.

Etwas stimmt nicht an dieser Szene.

Wir haben unsere Mutter noch nie weinen sehen. Mein Vater ist derjenige, der uns manchmal zu sich ins Schlafzimmer ruft, wo wir ihn bäuchlings auf dem riesigen Bett meiner Eltern liegen sehen. Er ist derjenige, der uns dann sagt, dass wir ihn nicht lieben, dass wir uns wünschen, er wäre gar nicht da. Dass es besser für uns wäre, er wäre tot.

Sie hält ihn dann fest – und hält uns alle zusammen. Aber jetzt schluchzt sie sich die Seele aus dem Leib.

Endlich blickt sie auf und bemerkt, wie wir dastehen und sie ansehen. Sie wischt sich über die Augen. »Mir geht es gut«, ruft sie uns zu. »Ich dachte bloß …«

Mein Vater unterbricht sie: »Es geht ihr gut.«

Er hat seinen Arm um ihre Schultern gelegt, sie ihren Arm um seine Taille. So gehen sie zusammen zum Haus zurück.

5

Louisiana, 1992

Als am Morgen des 8. Februar die Dämmerung hereinbricht, steht ein einzelner Streifenwagen vor dem heruntergekommenen weißen Haus in Iowa. Das Auto gehört Officer Calton Pitre. Er arbeitet schon fünfzehn Jahre in der Polizeidienststelle des Calcasieu Parish und wird noch weitere zehn Jahre dort bleiben; alles in allem wird seine Dienstzeit als Hilfssheriff in diesem Cluster von Kleinstädten im Südwesten des Bundesstaats ein Vierteljahrhundert umfassen. Pitre saß in seinem Büro in Lake Charles, als die Vermisstenmeldung für den Jungen einging. Selbst zehn Jahre später kann er nicht sagen, warum der Anruf ihm so viel Angst gemacht hat. Aber er hat selbst einen kleinen Sohn in Jeremys Alter. Und zehn Jahre später, als sein Junge bereits ein Teenager ist, werden die Anwälte ihn in den Zeugenstand rufen, damit er noch einmal aussagt, und er wird sich ohne Hilfe an Jeremys Namen erinnern. Als sie das Kind fanden, trug es ein kleines weißes T-Shirt von Fruit of the Loom, wird er den Anwälten sagen. Sie schnitten das Shirt in Streifen, um es auf Spermaspuren zu überprüfen. Auch sein Sohn trug T-Shirts von Fruit of the Loom.

Er nahm den Anruf an, obwohl seine Schicht fast zu Ende war; er erreichte Iowa, als eben die Sonne unterging. Dutzende von Leuten waren auf der Straße unterwegs, Eltern aus dem Ort, aber auch die Feuerwehr aus dem benachbarten LeBleu. Fünfzig oder sechzig Menschen, und Pitre erkannte auf einen Blick, dass niemand die Aktion leitete. Sie hatten nicht viel Zeit. Jede wie auch immer geartete Suche, die sie auf die Beine stellen konnten, würde ihr Ende finden müssen, sobald es ganz dunkel geworden war. Die Männer der Feuerwehr betraten das Wäldchen. Pitre betrat das weiße Haus, aus dem die Notrufe gekommen waren. Es waren zwei gewesen: von der Mutter des Jungen, die weinte, und dann, wenige Minuten später, von einem jungen Mann, einem Untermieter in dem Haus, der noch einmal anrief, um sicherzustellen, dass die Polizisten die richtige Straße fanden. Pitre fragte, ob er das Telefon benutzen dürfe.

Eine Frau ließ ihn hinein. Es sei ihr Haus, erklärte sie. Sie zeigte ihm, wo das Telefon war, und ging sofort wieder ins Wohnzimmer zurück, wo der Fernseher lief. Etliche Kinder saßen dort im Schneidersitz auf dem Boden, während ein junger Mann mit braunen Haaren und Brille im Sessel kurz den Kopf wandte und ihm zunickte. Sie schauten irgendeine Krimiserie; Pitre wusste nicht, welche. Er erklärte seinem Vorgesetzten, dass jemand die Suche koordinieren müsse, dass eine zentrale Meldestelle nötig sei und jemand, der die Verantwortung trug. Sie brauchten mehr Leute. Aber der Vorgesetzte wollte sich auf nichts dergleichen einlassen – überhaupt, war da draußen nicht LeBleu zuständig? Oder doch Iowa? Frustriert kehrte Pitre wieder auf die Straße zurück.

Wenig später kam er wieder, um einen zweiten Anruf zu tätigen. Das Wäldchen war ein schwieriges Terrain. In seinem nördlichen Teil gab es eine Schlucht und so etwas wie einen Kanal. Sie benötigten Geländefahrzeuge, vielleicht auch ein Boot.

Als Calton Pitre zum dritten Mal das weiß gestrichene Haus betrat, um seinen Vorgesetzten anzurufen, sah er, dass der braunhaarige Mann immer noch auf der Couch saß und fernsah, und er hatte eine Idee. »Sie kennen die Gegend hier?«, fragte er.

»Ja, klar«, antwortete der Mann.

»Können Sie mir eine Karte zeichnen?«

Der Mann nahm den Spiralblock, den Pitre ihm reichte, und skizzierte sorgfältig die Umgebung um das Haus, zeichnete den Wald ein. Er ließ ein Netz kleiner Nebenstraßen entstehen und markierte die Route zum Highway 90. »Sagen Sie mir, wenn Sie damit nicht klarkommen«, meinte der Mann.

»Danke«, sagte Pitre.

Aus dem Verhandlungsprotokoll, 2003

Frage: Und wie wirkte der junge Mann auf Sie?

Antwort: Er war ruhig, er war sehr ruhig.

Frage: Sehen Sie ihn hier im Gerichtssaal?

Antwort: Ja.

Frage: Können Sie auf ihn zeigen und beschreiben, was er trägt?

Antwort: Er trägt eine Brille und ein hellblaues Hemd mit Krawatte.

Frage: Euer Ehren, bitte lassen Sie zu Protokoll nehmen, dass der Zeuge den Angeklagten identifiziert hat.

Die Suchmannschaften und die Polizisten in den Geländewagen und die Feuerwehrleute fanden nichts. Sie würden ein Bergungsboot für den Kanal brauchen, aber das musste bis zum Morgen warten. Die Eltern hatten ihre Kinder abgeholt und waren heimgegangen. Die Taschenlampen, die sie zuvor in den Wäldern benutzt hatten, waren jetzt auf die dunkle Straße vor ihren Füßen gerichtet. Und obwohl sie nicht mehr durch die Wildnis, sondern durch Vorgärten liefen, hielten sie einander fester als sonst.

Pitre blieb vor Ort. Er konnte nicht aufhören, an den kleinen Jungen zu denken. Er hatte ein Schulfoto des Kindes an sein Klemmbrett geheftet – blonde Haare, blaue Augen, ein zahnlückiges Grinsen. Der Onkel, ein Mann namens Richard, hatte es ihm gegeben. Pitre saß am Steuer seines Wagens und sandte Licht­signale zwischen die Baumstämme. Einmal, zweimal, dreimal. Dann hielt er inne und wartete. Einmal, zweimal, dreimal. Warten. Der Wald war finster, das Rauschen der schwarzen Blätter die einzige Bewegung. Er ließ die Lampe erneut aufleuchten. Und wieder. Immer wenn er dachte, es sei an der Zeit, nach Hause zu gehen und etwas zu schlafen, stellte er sich das blonde Haupt des Kindes von dem Foto auf einem Blätterhaufen vor. Der Junge wachte vielleicht gerade jetzt auf, öffnete langsam die Augen, so wie Pitres Sohn es immer tat. Dann, genau dann, würde er das blinkende Licht bemerken. Dann würde er wissen, dass er auf das Licht zulaufen musste. Wie konnte Pitre aufhören, ehe der Junge aufwachte?

Aber zu guter Letzt drohte er selbst einzunicken. Der nächste Tag würde lang werden. Pitre fuhr nach Hause, küsste seinen schlafenden Sohn, küsste seine schlafende Frau und ging selbst schlafen.

Jetzt, im Morgengrauen, ist er zurück. Er sitzt hinter dem Steuer des Geländewagens und nippt an seinem Kaffee, während die Mütter aus der Nachbarschaft wiederkommen, um bei der Suche zu helfen.

Die Mütter sehen erschöpft aus; einige sind noch im Morgenmantel. Eine Frau trägt einen zugeknöpften Wintermantel über Pyjama und Hausschuhen. Die Nachricht verbreitet sich schnell: Keine Neuigkeiten, der Guillory-Junge wird immer noch vermisst. So unmittelbar wie ein Echo folgt die Antwort: Er hat sich nur verlaufen. Ganz sicher hat er sich nur verlaufen. Sie werden ihn finden. Eine Frau steht an der Grenze zwischen Straße und Wiese – dort, wo in anderen Gegenden der Stadt, in denen die Straßen Namen haben, ein Gehsteig wäre – und gibt mit lauter Stimme Anweisungen, um die Mütter in Suchtrupps zu organisieren. Jemand anderes kommt auf die Idee, an die Tür des weiß gestrichenen Hauses zu klopfen, um herauszufinden, ob noch etwas von dem Kaffee da ist, den die Mitarbeiter der Tankstelle am Highway am vergangenen Abend gebracht haben.

 

Die Tür des weißen Hauses bleibt geschlossen. Ricky und seine Vermieterin Pearl Lawson sind bereits in Pearls Auto gestiegen. Er muss zu seiner Schicht in der Tankstelle, und an den Tagen, an denen sie morgens ebenfalls eingeteilt ist, nimmt sie ihn mit. Pearl hat einen verantwortungsvollen Posten dort, manchmal übernimmt sie die Kasse für die Truckfahrer. Man kann ihr in Geldsachen vertrauen. Ricky räumt auf und hält die Tankstelle in Ordnung. Normalerweise unterhalten sie sich miteinander, aber heute früh schweigen beide. Die Morgenluft ist kühl, ein leichter Nebel liegt über allem, und Ricky rieb sich die Hände, um sie warm zu halten, während er wartete, dass sie das Auto aufschloss. Er warf die Tasche mit Schmutzwäsche, die er dabeihatte, auf den Rücksitz, und jetzt starrt er auf seinen Schoß hinunter. Pearl sieht nicht zu ihm hinüber. An diesem Morgen verhalten sich die beiden, als wären sie ein streitendes Ehepaar.

Als sich am Abend zuvor die Nachricht von dem verschwundenen Kind in der Nachbarschaft verbreitete und die Mütter zum ersten Mal zusammenkamen, standen sie alle auf der Straße vor dem Haus der Lawsons. Sie beschlossen, dass Ricky, der Untermieter, sich um die Kinder kümmern sollte, zumal er ja oft auf die beiden Kleinen der Lawsons aufpasste. Die Kinder hatten mit Ricky zusammen im Wohnzimmer ferngesehen, und später waren sie in sein Schlafzimmer hinaufgegangen, um dort zu spielen.

Aber spät am Abend, nachdem das letzte Kind von seiner Mutter abgeholt worden war und sich sogar die Polizisten auf den Heimweg gemacht hatten, als nur noch ein Streifenwagen vor dem Haus parkte und den Himmel in regelmäßigen Abständen mit den Scheinwerfern erhellte, kam Ricky nach unten und fand Pearl am Küchentisch sitzend vor. Er trug einen Plastikkorb mit Schmutzwäsche in der Hand. Die Waschmaschine befand sich draußen im Vorgarten, war über einen Schlauch mit dem Haus verbunden. Aber Pearl schaute ihn so ernst an, dass er den Korb abstellte. Sie war schon im Nachthemd; vor ihr stand ein Becher mit Tee. Sie und Terry schliefen auf einer Matratze im Wohnzimmer, seit Ricky im Haus wohnte. Sie hatten ihm das Schlafzimmer vermietet.

»Weißt du, Ricky«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und studierte ihren Tee, anstatt Ricky anzusehen, als versuchte sie, ihre Worte nebensächlich klingen zu lassen. »Vielleicht solltest du die Stadt für ein paar Tage verlassen, bis sich wieder alles beruhigt hat.«

Pearl wusste – das wird Ricky später schwören –, sie wusste, dass er wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis gewesen war. Sie nahm ihn auf, als er nach seiner Haft in Georgia auf Bewährung frei war. Sie hatten sich kennengelernt, als sie beide noch in einem heruntergekommenen Motel in der Nähe der Tankstelle hausten, wo die Miete wöchentlich zu zahlen war. Pearl, Terry und ihre beiden Kinder schliefen dort alle zusammen in einem Raum. Ricky kannte damals niemanden und versuchte, alleine das Geld für sein Einzelzimmer aufzubringen. Pearl und Ricky sahen einander während ihrer Pausen an der Tankstelle, im Wäscheraum oder an der Eismaschine im Motel – und wenn sie beim Mann an der Rezeption bezahlten. Eines Abends, als Pearl und Ricky auf dem Parkplatz vor dem Motel he­rumstanden, hatte sie eine Idee. Sie und ihr Mann wollten ein Haus in Iowa mieten. Aber um sich das leisten zu können, würde sie mehr arbeiten müssen, und es wäre niemand da, der sich um June und Joey kümmern konnte. Vielleicht könnten sie sich zusammentun?

Das war vor zwei Monaten gewesen. Und Ricky vergriff sich nie an den Lawson-Kindern. Das Versprechen hatte er sich selbst gegeben. Ein Versprechen, das er hielt.

Jetzt hat sie ihn aufgefordert zu gehen.

Und deshalb hat Ricky an diesem Morgen eine Reisetasche mit sauberen Sachen dabei sowie einen Sack mit der Kleidung, die er am Vortag getragen hat und die er eigentlich in der Nacht hatte waschen wollen. Pearl lenkt das Auto auf die Straße hinaus und nickt Pitre zu, ehe sie an der Polizeiabsperrung vorbeifahren.

Pitre nickt zurück. Er erkennt Pearl wieder. Vergangene Nacht hat sie ihm das Telefon gezeigt und sich um die Verteilung des Kaffees gekümmert, den die Betreiber der Tankstelle gespendet hatten. Er erkennt in Ricky den jungen Mann, der ihm die Karte gezeichnet hat, die jetzt an seinem Klemmbrett befestigt ist. Die Sonne steigt über dem Horizont auf in den Himmel, und übermüdete Eltern kommen immer noch in kleinen Grüppchen vor Ort an. Wenn genügend von ihnen eingetroffen sind, wird Pitre die Karte nutzen, um die Teams zu koordinieren. Er wird die Sektoren der Karte abhaken, während die Suche läuft. Sie werden das Kind finden, da ist er sich sicher.

Als Ricky am Abend seine Schicht in der Tankstelle beendet hat, kehrt er zum ersten Mal, seit er dort eingezogen ist, nicht in das weiße Haus der Lawsons zurück, in dem zu wohnen ihn so stolz gemacht hat. Es war das erste Zimmer, das er jemals wirklich sein Eigen nennen konnte. Das Zimmer, in dem in diesem Moment die Leiche von Jeremy Guillory steif im Schrank steht, von allen Seiten eingekeilt, eingewickelt in die blaue Decke von Rickys Bett, mit einem Müllsack über Kopf und Schultern. Die Wanderschuhe, die ihm von den Füßen gefallen waren, als Ricky ihn würgte, stehen fein säuberlich daneben. Auch das Luftgewehr ist an seiner Seite. Ricky hatte ihn dort versteckt und die Schranktür geschlossen, bevor die anderen Kinder ins Zimmer kamen. Er hatte dem Jungen eine Socke in den Mund gestopft und um seinen Hals ein Stück Angelschnur festgezogen. Das Kind hatte die ganze Zeit gurgelnde Laute von sich gegeben.

Statt zu den Lawsons zurückzukehren, fährt Ricky also per Anhalter zu dem Wohnwagen seiner Eltern in einem anderen Stadtteil von Iowa. Die Wohnwagensiedlung ist ein weitläufiges, flaches Gelände mit niedergetrampeltem Gras zwischen den einzelnen Parzellen. Seine Eltern lebten früher in einem Haus in der nahe gelegenen Stadt Hecker, das sein Vater Alcide gebaut hatte, aber in den vergangenen Jahren machten es ihnen die Krankenhaus- und Arztkosten seiner Mutter Bessie unmöglich, das Stück Land weiterhin zu behalten. Sie zogen in diesen weißen Wohnwagen, als Ricky und sein jüngerer Bruder noch zu Hause lebten. Er klopft an die elfenbeinfarbene Tür.

Es dauert, bis Bessie ihm öffnet. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit die Ärzte ihr Bein amputiert haben, und noch immer läuft sie mithilfe einer einzelnen uralten Krücke. Es ist schwer, sich damit in dem engen Raum zu bewegen. Er nickt ihr zu, nicht mehr als ein kurzes, steifes Zur-Kenntnis-Nehmen ihrer Person, dann geht er direkt zu der Waschmaschine und dem Trockner, die ganz hinten im Wohnwagen übereinander stehen. Öffnet den Wäschesack. Schaltet die Maschine ein und stopft seine Khakihose hinein. Die Hose, die er gestern trug, als er Jeremy erwürgte. Schüttet das Waschmittel direkt darauf. Vielleicht befinden sich auf der Hose Spermaspuren, vielleicht auch nicht. Das Wasser wäscht die Wahrheit mit fort.