Verbrechen und Wahrheit (eBook)

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2

New Jersey, 1983

Neun Jahre, bevor Ricky Langley Jeremy Guillory töten wird, als er noch achtzehn Jahre alt ist und ich fünf bin, kaufen meine Eltern ein graues viktorianisches Haus, das auf einem Hügel in dem Städtchen Tenafly in New Jersey liegt. In der Umgebung sind die Rasenflächen überall sorgfältig gepflegt, aber um das viktorianische Haus herum wächst hohes, dürres Gras, und das Holz auf einer Seite der Veranda hat zu faulen begonnen. Das Haus ist seit sechs Jahren unbewohnt. An dem Nachmittag, an dem wir einziehen, steht der Nachbarsjunge im Gras neben unserer Veranda und beobachtet uns. Blonder Topfhaarschnitt und zerrissene, ausgeblichene Jeans, wie meine Mutter sie mich nicht tragen lässt. Hinter dem Jungen erhebt sich ein Haus aus grauem Stein mit dunklen Fenstern. Manchmal schleicht eine Katze zu ihm hinüber, überquert die Straße von seinem Vorgarten zu unserem, und dann beugt er sich hinab und krault der Katze die Ohren, ehe sie wieder davonstolziert. Es scheint hier viele Katzen zu geben. Der Junge schaut zu, wie wir eine Kiste nach der anderen ins Haus schleppen. Meine zwei Schwestern, mein Bruder und ich tragen Kartons mit unseren Kuscheltieren und wankende Stapel großer Bausteine aus Pappe, mit denen wir Burgen bauen. In diesem Haus, hat mein Vater uns versprochen, werden wir unser eigenes Spielzimmer haben.

Schließlich ruft mich der Nachbarsjunge zu sich. Ich gehe zum Geländer und hocke mich hin. Die weißen Pfosten an der Terrasse umrahmen sein Gesicht wie Gitterstäbe eines Gefängnisses in einem Cartoon.

»Wie heißt du?«, will er wissen.

Ich sage ihm meinen Namen.

»Zieht ihr hier ein?«

Er sieht aus, als ob er eine Klasse über mir sein müsste, vielleicht zwei. Ich will etwas Schlaues sagen, aber es kommt nur ein »Ja« heraus.

Er kaut auf irgendetwas herum, während er mich mustert. Ich erhasche einen Blick auf etwas Pinkes. Kaugummi. »Der Vater, der hier vorher gelebt hat, hat die Mutter gewürgt. In der Küche«, fügt er hinzu.

»Ist sie gestorben?« Ich habe das Wort erst vor Kurzem gelernt.

»Nein.«

Er steckt die Hände in die Taschen, kaut und sieht mich an. Wir schweigen einen Moment lang. Dann ruft meine Mutter nach mir.

»Ich komme schon«, sage ich.

Später, als ich einen Umzugskarton mit Pfannenwendern und Schüsseln in die Küche trage, habe ich genau diese Szene vor Augen: der Vater, der seine Frau gegen die fleckigen, orangefarbenen Fronten der Küchenmöbel drängt, die Hände um ihren Hals, und versucht, das Leben aus ihr herauszupressen, als ob sie nichts als ein schmutziger Wischlappen wäre. In meiner neuen Schule wird sich herausstellen, dass ihre kleine Tochter in meiner Vorschulgruppe ist. Sie hat hellbraunes Haar und einen Pagenschnitt und will Zahnärztin werden, und ich werde niemals ihrem Blick begegnen können, ohne mich zu fragen, ob sie wohl dabei zugesehen hat.

Aber die Schule ist gut hier, eine der besten im ganzen Bundesstaat. Und das Haus, gebrandmarkt durch seine Vergangenheit, ist günstig. Das ist für meine Eltern mit den vier Kindern und dem vom Staat gezahlten Anwaltsgehalt meines Vaters als einzigem Einkommen das entscheidende Kriterium. Eine Wiese breitet sich wie ein grüner Teppich hinter dem Haus aus, und im Obergeschoss gibt es genügend Schlafzimmer für uns alle: Meine Eltern werden das große Zimmer am Kopf der Treppe nehmen, mein Zwillingsbruder Andy und meine jüngste Schwester Elize bekommen je ein kleineres dahinter. Meine mittlere Schwester Nicola und ich werden uns das Schlafzimmer ganz am Ende des Flurs teilen, das am weitesten von der Vorderfront entfernt ist. Die langen Korridore sind perfekt, um Fangen zu spielen, und lassen das Haus fast herrschaftlich wirken. Und das war es einst sogar: herrschaftlich – ein Quartier für die Offiziere im Unabhängigkeitskrieg, wie mein Vater mir erzählt. Damals, als das Haus des Nachbarsjungen lediglich ein Stall war. Ich liebe es, mir vorzustellen, wie die Pferde ihre Köpfe aus den kleinen Fenstern strecken und mit ihren Kiefern das Heu bearbeiten wie der Junge vorhin seinen Kaugummi.

Unser großes Haus ist in einem schlechten Zustand. Am besten in Schuss ist die hölzerne Treppe, die sich steil aus dem Eingangs­bereich emporhebt. Nachdem die Offiziere das Haus verlassen hatten, so erzählt uns mein Vater, zog eine Familie ein, und danach zwei weitere Generationen von Familien. Einer dieser früheren Familienväter baute die Treppe mit einem Bausatz aus dem Sears-­Roebuck-Katalog. Sie ist immer noch gut erhalten, lackiert, mit akkurat eingesetzten Pfosten, die nicht einmal angeschlagen sind. In ein paar Jahren, wenn wir endlich eine schwarze Promenaden­mischung mit kecken Ohren bekommen – unter der Bedingung, dass mein Vater ihn »Cowboy« nennen darf –, wird der Hund seine Zähne an den Pfosten der Treppe wetzen. Dann wird mein Vater jedes Mal einen Mann in der Stadt, der eine Schleifmaschine hat, dafür bezahlen, eine genaue Kopie des jeweiligen Pfostens anzufertigen. Und viele Jahre später, wenn wir erwachsen sind, werden meine Schwester und ich unsere eigenen Hunde haben, und immer, wenn wir meine älter werdenden Eltern in diesem Haus besuchen, wird jeder dieser Hunde im Welpenalter die Pfosten annagen. Und jedes Mal wird mein Vater sich wieder an den Mann mit der Schleifmaschine wenden, der mittlerweile ebenfalls in vorgerücktem Alter ist, und jeden einzelnen Pfosten sorgfältig austauschen, als wäre es seine Pflicht, diese Treppe zu erhalten, die er von den Familienvätern vor ihm geerbt hat.

Aber der Rest des Hauses ist heruntergekommen und schäbig. Das Dach hat kahle Stellen, ihm sind Ziegel ausgefallen wie Haare im Fell eines räudigen Hundes. Einige der Innenwände haben Löcher – dort werden die Balken sichtbar, die das Skelett des Hauses bilden. Das grüne Linoleum auf dem Küchenboden wirft große Blasen. Sie knistern, wenn ich drauftrete, aber selbst wenn ich draufspringe, kann ich sie nicht zum Platzen bringen.

Mein Vater treibt drei Jungs vom nahe gelegenen Architektencollege auf, die Geld brauchen und keine Angst vor etwas Sägemehl haben. Einer davon, Greg, macht sich bei meinem Vater beliebt, indem er herausfindet, wie man eine Zierleiste unter dem Hausdach anbringt, zwei Zentimeter dickes, geschwungenes Holz, das er in Form schneiden und entlang des Dachfirsts befestigen wird, bis es aussieht wie Zuckerguss. Greg verfolgt eine Idee. Er wird das Haus in einem Stil renovieren, den man Carpenter Gothic nennt, mit handgeschnitzten Akzenten überall.

Mein Vater hat hochfliegende Träume schon immer geliebt, und plötzlich ist Greg der Anführer der Truppe. Greg ist schlaksig und braun gebrannt, und während die Sommerwochen verstreichen, werden seine lockigen blonden Haare immer heller. Mein Zwillingsbruder hatte als Kleinkind solche Locken. Inzwischen ist Andys Haar dunkel geworden, er zieht einen Bürstenschnitt vor, und wenn er am Strand sein Hemd auszieht, wird eine Narbe sichtbar, die sich über seinen ganzen Bauch zieht und die ich irgendwie verstehe, irgendwie aber auch nicht. Er war krank, als wir zur Welt kamen; manchmal ist er immer noch krank. Obwohl wir noch nicht einmal ausgepackt haben, haben meine Eltern oben im Schrank schon eine blaue Reise­tasche bereitgestellt für den Fall, dass sie ihn ins Krankenhaus fahren müssen – aus Gründen, die ich nicht kenne, aber ich weiß, dass ich besser nicht danach frage. Mit dem Bürstenhaarschnitt, der die feinen Konturen seines Gesichts betont, den Rippen, die über der Narbe hervorstehen, und den weißen Turnschuhen sieht er aus wie ein adoptiertes Flüchtlingskind aus einem vergessenen Krieg.

Aber die Architektenjungs sind schön anzusehen. Greg klettert bis auf den Dachgiebel hinauf. Seine Freunde erklimmen lange Leitern hoch über die Fenster hinaus. Sie durchschneiden die Luft wie Delfine das Wasser, und die Zollstöcke und Schraubenschlüssel, die von den Gürteln ihrer abgeschnittenen Hosen baumeln, bremsen sie nicht in ihren Bewegungen. Die Werkzeuge hängen an ihnen, als könnten sie, ebenso wie ich, nicht anders, als den Jungs zu folgen. An den Abenden sehe ich ihnen, umgeben vom Zirpen der Grillen, vom Rasen aus zu. Manchmal, wenn sie länger bleiben, bohrt Greg Löcher in den Deckel einer Flasche, und wenn ich ihm die Glühwürmchen bringe, die ich gefangen habe, lobt er mich. »Das ist ein Hübscher«, sagt er. »Ist sein Licht nicht wunderbar?« Ich liebe das Leuchten der Glühwürmchen so sehr, dass ich die Flasche einmal auf meinem Nachttisch behalte, anstatt meine Beute wieder freizulassen. Aber am Morgen sind die Glühwürmchen nichts als Käfer; sie leuchten nicht.

Eines Tages überreicht mein Vater Greg einen Schlüsselbund und klopft ihm auf die Schulter. Sie überprüfen Listen auf den Klemmbrettern, die die Jungs plötzlich dabeihaben, und dann nicken sie alle und schütteln sich in der geschotterten Einfahrt die Hände. Meine Eltern packen uns Kinder für einen Besuch bei den Verwandten meiner Mutter in Frankreich ein. Wenn wir zurückkommen, werden wir ein neues Zuhause haben. Das Haus wird von seiner Vergangenheit befreit sein.

Es gibt nur eine größere Straße, die nach Tenafly führt. Sie beginnt auf der anderen Seite der Stadt und schlängelt sich in gemächlichen Windungen einen großen Hügel hinab. Dort sind die Straßenränder begrünt und lassen den Bäumen daneben Platz, sich gähnend auszustrecken. Jenseits der Baumkronen breiten sich große Anwesen mit sorgfältig gepflegten Gärten, säulenbestückten weißen Häusern und schmiedeeisernen Toren aus. Winzige Steinbrücken führen über künstlich angelegte Bäche.

Die Straße verengt sich. Das Gebäude der ehemaligen High School beherbergt jetzt ein Bestattungsunternehmen, die Klassenzimmer sind zu Schauräumen geworden. Daneben ist die katholische Kirche. Direkt dahinter liegt eine alte Bahntrasse. Die Züge sind schon Jahrzehnte, bevor wir hierhergezogen sind, nicht mehr durch die Stadt gefahren; zu dem Zeitpunkt, als ich meinen Collegeabschluss mache, werde ich die Metamorphose des einstigen Bahnhofs zu einem Zeitungsladen, dann zu einem Frisör, dann zu einem Café, in dem Sandwiches für zehn und Kaffee für vier Dollar serviert werden, miterlebt haben. Aber jetzt als Kind kann ich nur den Atem anhalten, als die Auto­reifen kurz an den Schienen hängen bleiben. Dann berühre ich mit dem Finger das feste Glas der Fensterscheibe, damit die Geister keine Lücke finden in meiner Verbindung zur Welt, keinen Weg, um in sie einzudringen.

 

Die Schienen lassen das Auto los, und von hier ab verändert sich das Gesicht der Stadt, wird enger. Ein einsames Apartmenthaus mit winzigen Wohnungen, unpassend für einen Ort, der so offensichtlich für Familien gedacht ist. Ein einzelner Magnolienbaum steht dort auf dem Rasen, und seine blassen, hängenden Blüten wirken im Kontrast zu den Eichen und Ulmen des Nordostens exotisch und wundervoll. Dann werden die Grundstücke kleiner, und zwischen die Häuser passt nur noch eine Auffahrt. Ein zweiter Hügel kommt in Sicht, nicht einmal halb so hoch wie der erste. Auf seinem Kamm liegt unser großes viktorianisches Haus. Jenseits davon senkt sich die Straße hinab in eine andere Stadt – eine Stadt, in der Verbrechen verübt werden, die es bei uns nicht gibt, und mit Schulstatistiken, die wir einander wie Warnungen zuflüstern.

3

Louisiana, 1992

Die Telefonleitung im Haus ihres Bruders ist dauernd besetzt, es hört nicht auf mit dem ständigen Piep-Piep-Piep. Lorilei ist müde. Sie will nicht den ganzen Weg bis zu seinem Haus laufen. Richard hat einen weißen Zaun um sein Grundstück aufgestellt, als wolle er sich von den anderen abgrenzen, die nicht all das haben, was er besitzt. Von Häusern wie dem, das Lorilei gemietet hat und für das sie nicht einmal die Stromrechnung bezahlen kann. Der Zaun geht ihr gegen den Strich. Das Tor befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, und um zur Tür zu kommen, muss sie außen herumlaufen, vorbei an der schmucken Einfahrt und den glänzenden weißen Pfosten und dem Spielzeug und den Fahrrädern seiner Kinder. Aber es hilft nichts, Jeremy ist verschwunden, und so dankt sie dem Mann in dem weißen Haus dafür, dass sie sein Telefon benutzen durfte, zieht den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts zu und geht los. Ein kleiner Gehsteig führt zu Richards Haus, aber neben der Straße steht das Unkraut, und die Abflussrinne ist nichts als eine Furche im Schmutz. Lorilei, die neunundzwanzig und stämmig ist, auch wenn man ihr die Schwangerschaft noch nicht ansieht, vergräbt ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans, um sie warmzuhalten, und bewegt sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Ihre dünnen Halbschuhe, die im Februarmatsch stecken bleiben, sind nicht zum Laufen gedacht. Es hätte ein geruhsamer Abend werden sollen, nur mit Melissa und dem Baby.

Die Sonne gießt orangefarbene und rote Strahlen über dem Horizont aus. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, und die Straße wirkt gespenstisch ruhig. Haus um Haus zieht mit heruntergelassenen Rollläden an ihr vorbei, wie fest zusammengepresste Lippen sehen sie aus. Dahinter versammeln sich gerade Familien zum Abendessen. In einem Vorgarten liegt ein umgekipptes Kunststoffdreirad, dessen Pedale in die Luft ragen, als wollten sie jeden Moment ins Nirgendwo losstrampeln. Lorilei hat Jeremy das Dreiradfahren beigebracht, als er drei Jahre alt war. Die Stadtzeitung veröffentlichte damals ein Bild von ihnen beiden, wie sie in die Kamera grinsen, ihre Hand auf seinen kleinen Schultern. Lorilei Guillory und ihr Sohn Jeremy Guillory. Jeder in der Stadt wusste, dass das ihr Mädchenname war. Dass es da keinen Mann gab.

Sie erinnert sich auf einmal daran, wie sie und Richard als Kinder in die Pedale traten, auf die Straßenbiegung zufuhren, und die Stunden sich vor ihnen ausdehnten, so weit wie die Sonnenstrahlen.

Der Hügel, auf dem er wohnt, liegt im Westen. Sie sieht sein Ranchhaus in einiger Entfernung. Am Ast einer Eiche ist eine Reifenschaukel für seinen Sohn und seine Tochter aufgehängt. Daneben befindet sich Richards Werkzeugschuppen. Und ein Auto steht in der Einfahrt, ein rotes, das Mary gehört, Richards Frau. Als sie und Mary am Morgen miteinander sprachen, sagte Mary, sie werde am Abend zum Einkaufen fahren, und wenn Jeremy ihr Auto kommen sähe, sollte er schnell herüberlaufen, dann würde sie ihn mitnehmen. Jeremy war so aufgeregt gewesen, als er Lorilei mit ihr telefonieren hörte, dass Lorilei nicht Nein sagen konnte. Es ist schwer für sie, dass Mary diejenige mit dem Auto und dem Geld ist, diejenige, die ihn mit zum Einkaufen nehmen kann. Aber vielleicht bedeutet das ja immerhin, dass er jetzt hier ist.

Doch als Mary mit frisch aufgetragenem Lippenstift die Tür öffnet, sieht Lorilei es ihrem verblüfften Gesicht an, dass er nicht da ist. Sie fragt trotzdem.

»Hab ihn nicht gesehen«, sagt Mary. »Und ich bin gerade am Gehen.«

Das ist der Moment, in dem Lorilei klar wird, dass er sich verlaufen haben muss.

Zehn Minuten später hat sie sich Marys Auto ausgeliehen und ist damit zum Waldrand gefahren, die Scheinwerfer auf das Wäldchen gerichtet. Es ist mittlerweile fast dunkel. Jeremy weiß, dass er vorher heimkommen muss. Als sie stehen bleibt, bemerkt sie im Lichtkegel die angerostete Karosserie eines Fahrzeugs. Manchmal sitzen Jeremy und der Junge der Lawsons, Joey, dort drin und schießen mit ihren Luftgewehren stundenlang in die Bäume. Aber jetzt ist der alte Wagen verlassen, das Wäldchen ganz still. Sie steigt aus dem Auto und lehnt sich gegen die Karosserie. »Jeremy!«, ruft sie. »Jeremy, ich bin es, deine Mama! Hörst du mich? Jeremy!«

Nichts als Schweigen. Nicht einmal ein Vogel ist zu hören.

»Jeremy!«

Hinter sich hört sie ein Fahrzeug anhalten. »Alles in Ordnung, Lori?« Terry Lawson, Joeys Vater, sitzt am Steuer, zwei Nachbarn sind bei ihm.

»Jeremy ist weg«, hört Lorilei sich selbst sagen. Ihre Stimme klingt rau.

Die Männer holen Taschenlampen aus dem Kofferraum und verschwinden im Wald.

Das ist der Moment, in dem später Lorileis Erinnerung abbricht.

Aber die Aufzeichnung der Feuerwehr belegt, dass der erste Notruf um 18.44 Uhr eingeht. Die Anruferin weist sich als Lorilei Guillory aus, die Mutter des Jungen, den sie als vermisst meldet. Der Mann am Ende der Leitung notiert ihre Angaben und verspricht, eine Polizeistreife nach Iowa zu schicken.

»Io-way«, sagt Lorilei in den Hörer. »Bitte. Sie wissen, wo das ist?«

»Ja, Madam. Io-way«, erwidert der Koordinator.

Der zweite Anruf folgt um 18.57 Uhr. Der Anrufer ist ein junger Mann, der mitteilt, dass bislang noch niemand aufgetaucht sei, und fragt, wann die Polizei kommen werde. Die Mutter des Jungen hat gerade von diesem Anschluss aus angerufen, aber er weiß, dass die Gegend verwirrend ist, wenn man nicht von hier ist. »Es gibt zwei Straßen hier raus, die nebeneinander verlaufen«, sagt er. »Und die hier wird Watson Road genannt, aber eigentlich hat sie keinen Namen. Das ist die richtige Straße. Das Haus ist weiß und hat zwei Stockwerke.« Sie würden es an der Waschmaschine vor dem Haus und an der Treppe, die von der Rückseite des Hauses aus zum Wald führt, erkennen, sagt er. »Ich gebe Ihnen die Nummer von hier, falls Sie sich verfahren.«

»Ich brauche noch Ihren Namen, Sir«, sagt der Vermittler.

»Ricky Langley«, antwortet der Anrufer.

In dieser Nacht sitzt Lorilei auf der Treppe vor dem weißen Haus, und zumindest eine der Geschichten, die über die Suche nach ihrem Sohn erzählt werden, handelt von dem, was als Nächstes geschieht. Die Straße ist vollkommen dunkel – es gibt hier draußen keine Straßenlaternen –, aber als mehr und mehr Streifenwagen ankommen, wird es immer heller. Wie aus der Ferne vernimmt sie die Stimmen der Suchenden, die einander zurufen, hört sie das Tuckern eines Lastwagenmotors. Sie weiß, dass sie in der Nähe sind, aber dennoch scheinen die Geräusche weit fort zu sein, klingen seltsam gedämpft.

So wie das feuchte, verrottende Laub auf dem Boden der kleinen Schlucht, in der Jeremy immer spielt, alles dämpft. Dieses Laub macht ihn jedes Mal fürchterlich schmutzig, aber heute Nacht ist sie froh darüber, dass es so weich ist. Sie muss an ihn denken, wie er dort liegt – seine Wange gemustert von den kleinen Zweigen, wie sonst von den Falten in seinem Kopfkissen. Sie denkt daran, wie ihm seine Haare in die Stirn fallen, wenn er zu müde ist, um sie zurückzustreichen. Jeremy schläft auf der Seite wie ein junger Hund, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sein rosa Mund steht offen, und sein Atem geht in kleinen Stößen. Sie hat ihn so oft beim Atmen beobachtet, als er noch ein Baby war. Alle Mütter tun das, denkt sie, aber es fühlte sich trotzdem wie ein Wunder an, wie er einfach immer weiteratmete.

Sie schüttelt den Gedanken ab. Über den Baumkronen verbindet sich das Licht der Scheinwerfer zu bewegten Mustern, und sie sieht zu, wie sie sich verändern. Richard sagt, am Morgen werden sie Helikopter einsetzen, um die Suche fortzuführen. Warum setzen sie die nicht jetzt schon ein, wo ihr Junge alleine und frierend in der Dunkelheit da draußen ist, fragt sie sich.

»Wollen Sie was trinken?« Sie blickt auf, und der Mann vom Nachmittag steht am Rand der Veranda. Es dauert einen Moment, bis sie ihn erkennt; der Nachmittag liegt so weit zurück. Das war damals, vor alldem hier.

»Ricky, oder?«, fragt sie.

»Ja, Ma’am«, sagt er. Er hält eine Flasche in der Hand und streckt sie ihr einladend hin. Hinter ihm wabert die Dunkelheit des Waldes wie Nebel. Es ist, als wäre er aus dem Nichts an sie herangetreten.

Lorilei trinkt keinen Alkohol. Sie hat seit Jahren keinen getrunken. Früher hat sie öfter über die Stränge geschlagen, und die Verhaftungen brachten ihr eine Erwähnung in der Lokalzeitung ein. Ihr Name stand mit einem knappen »L. Guillory« im Polizeibericht. Aber als Jeremy geboren wurde, hörte sie auf. Sie wollte für ihn das Richtige tun. Jetzt hat sie ein neues Baby in ihrem Bauch, auf das sie achten sollte; sie ist im dritten Monat.

Doch sie hat so viel Angst um Jeremy, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Flasche glänzt so verlockend im Licht. Jeremys Vorschulklasse hat heute einen Ausflug ins Wissenschaftsmuseum in Lake Charles gemacht. Es war die gleiche Exkursion, an der sie in seinem Alter teilgenommen hat, und vielleicht lässt der warme Glanz des Getränks sie an die Fossilien denken, die sie damals gesehen hat. Es ist eine seltsame Nacht, Jeremy ist weg, alle Nachbarn suchen nach ihm, eine Nacht, die aus der Zeit gefallen ist. Eine Nacht, die für immer andauern könnte, aufgehoben wie ein Insekt im Bernstein. Jeremy für immer irgendwo da draußen, sie für immer auf der Veranda, wartend. Sie muss nur diese eine Nacht überstehen.

Sie nimmt die Flasche. Es stehen noch ein paar Zentimeter Flüssigkeit darin. »Danke«, sagt sie.

Der erste Schluck ist scharf und glatt wie Glas. Er rinnt durch ihre Kehle und rollt sich warm in ihrem Magen zusammen.

Der zweite Schluck ist süß. Sie nimmt einen dritten.

»Tut mir leid, dass sie Ihren Jungen nicht gefunden haben«, sagt Ricky. Im Licht auf der Terrasse sind seine Brillengläser trüb.

Sie sagt nichts.

»Es klingt, als ob die Leute richtig intensiv suchen«, sagt er.

Lorilei ist müde. Sie will nicht reden, also schweigt sie. Sie lehnt sich nur gegen die Brüstung, lange, mal mit geschlossenen Augen, wenn sie die Stille nicht ertragen kann, mal mit offenen, wenn sie die Schwärze nicht aushält. Der Schnaps ist ausgetrunken, ehe sie sich’s versieht. Der Mann bleibt am Rand der Wiese, die Hände in den Taschen seiner khakifarbenen Hose, und schweigt. Es ist ein gemeinsames Schweigen. Fast könnten sie Freunde sein.

Später kann sie nicht mehr sagen, wie viel Zeit vergangen ist, als er hüstelt, ein höflicher Laut, als wollte er vermeiden, sie aufzuschrecken. »Also«, sagt er dann, »ich geh besser wieder rein. Ich hoffe wirklich, sie finden ihn.«