Tod auf der Finca

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„Traust du mir nicht?“

Zärtlich streichelte Antonio über Eduardos Rücken. „Du könntest ja was in die Äpfel gespritzt haben.“

Miquel ließ die Tüte sinken. „Glaubst du ernsthaft, ich würde Eduardo etwas antun?“ Er nahm einen Apfel aus der Tüte und biss demonstrativ hinein. „Siehst du, alles in Ordnung damit.“ Mit dem Handrücken wischte er sich den Saft vom Kinn.

„Lass es einfach.“ Antonio zog eine Bürste aus der Hosen­tasche und striegelte Eduardo, der wohlig grunzte.

Miquel trat näher an das Gatter. „Ich habe einmal einen Fehler gemacht und weiß heute, dass du recht hast, auf die Reinrassigkeit zu bestehen. Ich habe mir sogar eine neue Zuchtsau zugelegt und …“

„Das ändert nichts“, unterbrach Antonio. „Ich traue dir einfach nicht mehr. Weiß ich, ob du Eduardos Sperma nicht auch für andere Sauen verwendest?“ Er steckte die Bürste wieder in Tasche, was Eduardo mit einem leichten Schubs gegen sein Bein quittierte.

Miquel hielt sich beinahe krampfhaft am Holzgatter fest. „Ich zahle auch wirklich gut.“

Antonio lachte verächtlich auf. „Du weißt, dass mir das egal ist.“

Eduardo lugte an Antonio vorbei und schien Miquel mit seinen Augen zu fixieren. „Sch“, sagte Antonio sanft und drehte Miquel den Rücken zu. Mit dem Zeigefinger strich er seinem Eber zart zwischen den Augen auf und ab.

„Du bist ein verdammter Dickschädel!“ Miquel fasste das Gatter und rüttelte daran.

Antonio drehte ihm den Kopf zu. „Hör auf damit! Eduardo kann das nicht leiden.“

Doch es war zu spät. Eduardo wandte sich grunzend von Antonio ab, streifte dabei sein Bein, er verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Hintern.

Antonio konnte Eduardo nur hinterhersehen, wie er auf Miquel zuraste und mit dem Kopf an das Gatter rammte. „Mach dich von meinem Grundstück! Sofort!“, schrie er und rappelte sich wieder auf.

Miquel war hastig einige Schritte vom Gatter getreten, als der Eber losgerannt war.

Sein Glück, dass das Holzgatter stabil gebaut war. Der Zaun wackelte, hielt aber stand. Schnaubend starrte Eduardo Miquel an und Antonio näherte sich, summte ein beruhigendes Lied dabei.

Miquel hob beide Hände und winkte ab. „Wir sprechen ein anderes Mal.“ Er ging zum Hoftor.

„Pass auf, dass ich dich nicht verklage, weil du meinen Eduardo in Stress bringst. Schweine sind sensibel, aber das ist dir ja egal!“ Antonio zog erneut die Bürste aus der Hosentasche und striegelte in sanften Bahnen Eduardos Rücken. „Ich weiß, du wolltest mich nur verteidigen und hast dabei nicht gemerkt, dass du mich umschubst.“

Vier

„Muchas gracias, Laura.“ Carmen verabschiedete sich mit zwei Wangenküssen. „Ab Dienstag bringe ich dann meine Sachen, wenn Isabel mir Bescheid gibt, dass sie alles rausgeräumt hat, was sie mitnehmen möchte.“ Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Eine wirklich schnuckelige Wohnung und sie hatte sogar ein Stückchen Garten und eine kleine überdachte Terrasse.

Dankbar nickte sie Peter zu und ging hinaus. Sie streckte den Rücken und atmete tief ein. Die Luft roch tatsächlich anders als mitten in Palma. Außerdem lagen hinter dem Nachbarhaus große unbebaute Grundstücke – eine ruhige Gegend. Kein Wunder, dass Laura keine Lust verspürte, einen Mieter zu haben, der Partys feierte. Bestimmt waren alle Nachbarn in der kleinen Straße ebenso ruhebedürftig.

„Hast du gesehen?“, Peter deutete nach Westen, „vom Garten aus hast du sogar einen Blick auf die Tramuntana.“

Carmen konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Du musst mir die Wohnung nicht mehr schmackhaft machen, sie ist perfekt. Und dann der Preis. Dafür kriegst du in Palma noch nicht einmal ein Studio, in dem sich dein Bett tagsüber in der Wand versteckt, und du ein Bad hast, das so schmal ist, dass du dir beide Ellenbogen gleich­zeitig an den Wänden anstoßen kannst.“

„Das mit dem Anstoßen ist doch ein passendes Stichwort. Wir sollten das auf alle Fälle begießen. Heute Abend?“ Peter öffnete ihr die Beifahrertür.

Carmen sah auf die Uhr. „Es ist schon halb sechs. Da lohnt es sich nicht, nach Palma zu fahren und wieder hierher.“

„Dann eben kein richtiges Abendessen, sondern jetzt ein paar Tapas. Steig ein.“

Neugierig sah sich Carmen während der Fahrt durch Inca um. Auf dem Weg zur Wohnung hatte sie keinen Blick dafür gehabt. Linker Hand entdeckte sie ein Hinweisschild zum Gericht. Dunkel erinnerte sie sich, einmal dort gewesen zu sein, um bei einer Verhandlung auszu­sagen. Wurden eigentlich alle Fälle, die hier in der Gegend passierten, in Inca verhandelt?

„So schweigsam?“, fragte Peter, während er am Parkhaus links abbog, um anschließend an der Einfahrt vorbei in eine enge Einbahnstraße zu fahren.

„Ich schaue mir die Gegend an und habe das Gefühl, dass Inca die Verkehrsplanung nach der Anzahl der Einbahnstraßenschilder, die sie übrig hatten, ausgerichtet hat.“ Die würde sie sich alle merken müssen.

„Habe ich noch nie drüber nachgedacht. Aber manchmal ändern sie es auch wieder.“ Peter bremste und bog nach rechts ab. „Da sind wir.“ Er parkte ein, stieg aus und zeigte wenige Meter nach vorne. „Da gibt es nicht nur leckere Tapas, sondern die haben auch einige Biersorten zum Verkosten.“

Kopfschüttelnd sah Carmen ihn an. „Du weißt schon noch, dass ich Polizistin bin und nicht trinke, wenn ich fahren muss.“

„Musst du nicht.“

Oh nein. Sie hatte es geahnt. Immer wieder versuchte er es. Sie presste ihre Lippen aufeinander.

Abwehrend hob Peter beide Hände und streckte sie ihr entgegen. „Nicht was du denkst.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ein Bekannter hat eine Finca fußläufig von hier und jederzeit ein Zimmer frei. Wenn wir manchmal abends bei ihm einen Männerabend machen und ich nicht mehr fahren will, dann übernachte ich dort.“

„Danke für das Angebot, aber das werde ich wohl trotzdem nicht brauchen. Wenn ich am Dienstag schon einige Sachen herbringen will, muss ich den morgigen Sonntag nutzen, um zumindest die ersten Kisten zu packen.“

Peter hielt ihr die Tür der Tapasbar auf. „Passt das denn in dein Auto? Auf meinem Geländewagen ist ohne die Pritschenabdeckung eine Menge Platz.“

Tatsächlich würde es Carmen einiges erleichtern, wenn sie das Angebot annähme. „Danke, aber lass mich erst einmal sehen, wie viel es ist. Und jetzt habe ich wirklich Hunger.“

Die Bar war gut besucht und der Kellner brachte sie an den vorletzten freien Tisch.

„Ist hier immer so viel los?“, fragte Carmen und setzte sich.

„Es ist Samstag und einige schaffen sich wahrscheinlich schon jetzt eine Grundlage für eine lange alkohol­reiche Nacht.“ Peter deutete zur Glasfront. „Oder hättest du draußen sitzen wollen?“

Carmen schüttelte den Kopf. „Nein, da ist es vom Regen heute noch immer feucht.“

Bei der Bedienung bestellte Carmen ein alkoholfreies Bier und tatsächlich schloss sich Peter an.

„Was kannst du empfehlen? Ein Pa amb oli?“

„Obwohl das hier auch sehr gut ist, solltest du mal in das Restaurant an der Landstraße von hier nach Llubí gehen. Liegt auf der rechten Seite und kann man nicht verfehlen. Dort gibt es ausschließlich Brot mit Olivenöl in verschiedenen Varianten von Schinken über Käse und sogar mit Schweinelende. Außerdem …“

„Halt, stopp.“ Carmen lachte. „Ich habe verstanden. Ich werde mir das andere Lokal bei Gelegenheit ansehen. Dann probiere ich hier die gemischte Platte aus Spießchen.“

Die Kellnerin servierte die Biere und Peter bestellte Pintxos für Carmen und für sich eine gegrillte Sepia.

„Na, scheinst Hunger zu haben.“ Carmen hob ihr Glas.

„Schon der Vormittag war anstrengend und seit einer Stunde habe ich Bereitschaft bis Sonntagnacht. Da weiß ich nie, wann ich zum Essen komme.“ Er prostete ihr zu. „Auf die neue Stelle und die Wohnung.“

„Ob hier auch die Kollegen manchmal herkommen?“ Carmen blickte sich im Lokal um.

„Keine Ahnung, ich kenne die nicht. Aber da es fast um die Ecke liegt … schon möglich.“

Die Bedienung servierte das Essen und die kleinen Fleischspieße sahen nicht nur lecker aus, sie schmeckten Carmen ausgezeichnet.

Peter legte sein Besteck auf den leeren Teller. „Da du nach meinen Eltern gefragt hast, wie geht es deinen? Dein Vater platzt doch sicher vor Stolz wegen deiner Beförderung.“

„Ihnen geht es gut, und seit meine Mutter ihr neues Kniegelenk hat, fahren sie oft am Wochenende in den Naturpark Montcabrer zum Wandern. Ist ja nur eine Stunde Autofahrt von Valencia weg.“ Carmen faltete die Serviette zusammen und legte sie neben dem Teller ab.

Peter sah sie durchdringend an. „Kann es sein, dass du es ihnen noch nicht erzählt hast?“

Sie fühlte sich ertappt, denn tatsächlich hatte sie ihren Eltern bisher noch nichts von der Beförderung gesagt. Wann auch? Schließlich stand die Wohnungssuche an erster Stelle. Hoffentlich interpretierte Peter nicht mehr hinein als nur die dringende Wohnungssuche, weil sie ihm vor ihren Eltern davon erzählt hatte. Bevor sie seine Frage beantworten konnte, klingelte sein Telefon.

„Voy, ich komme sofort.“ Peter sprang auf. „Tut mir leid, ein Notfall. Ein Pferd scheint eine Kolik zu haben.“ Noch während er zur Theke eilte, nahm er sein Portemonnaie aus der Hosentasche.

Carmen war hinter ihm hergegangen. „Das kann ich doch übernehmen.“

„Ist schon erledigt. Und jetzt komm, ich muss sowieso am Parkplatz mit deinem Auto vorbei. Außerdem habe ich noch etwas für dich.“

Zwei Minuten später hielt er auf dem Parkplatz neben ihrem Auto, stieg aus und öffnete die hintere Klappe der Ladefläche. „Hier“, er deutete hinein, „da ich wusste, dass dir die Wohnung gefällt, habe ich einige leere Umzugs­kartons für dich organisiert.“

 

So weit hatte sie noch gar nicht gedacht. Damit könnte sie sofort beginnen, wichtige Dinge einzupacken. „Danke, das ist toll.“ Während sie ihren Kofferraum öffnete, hatte Peter bereits den Stapel der zusammengelegten Kartons in der Hand und legte ihn in ihrem Wagen ab.

„Ich melde mich bei dir, wenn ich weiß, was alles mit umziehen muss.“ Sie küsste ihn rechts und links auf die Wange, und nachdem er eingestiegen war, sah sie, wie er im Losfahren noch einmal die Hand zum Gruß erhob, und winkte zurück.

Zu Hause angekommen gönnte sie sich ein Glas Rotwein und griff zum Telefon.

„Samstagabend und du rufst uns an? Was ist passiert?“

Typisch ihre Mutter, ging immer gleich vom Schlimmsten aus. „Ich dachte, ihr habt zu Abend gegessen und um die Zeit störe ich nicht.“

„Du störst nie. Wie geht es dir?“

„Wunderbar und ich habe tolle Neuigkeiten.“

„Kommst du zu uns zurück?“

„Mama, bitte.“ Carmen lachte. „Ich freue mich, dass ihr euch in Valencia heimisch fühlt, aber du weißt, dass ich immer nach Mallorca zurückwollte.“

„Schade.“

Carmen nippte am Wein. „Ich bin ab nächsten Ersten Sargento und werde die Ermittlungseinheit der Kriminalpolizei in Inca leiten.“

„Das ist ja fantastisch. Jaume, komm mal schnell.“

Carmen hörte, wie ihre Mutter ihrem Vater die Neuigkeit mitteilte.

„Ich bin unendlich stolz auf dich“, sagte ihr Vater, der offensichtlich das Telefon an sich genommen hatte. „Bestimmt liegt das auch daran, dass da auf dem Land viele Deutsche leben. Hoffentlich hast du nicht alles verlernt, was Peter dir beigebracht hat.“

Carmen schüttelte den Kopf. Ihr Vater trauerte noch immer, weil sie und Peter sich getrennt hatten. Bevor sie etwas erwidern konnte, rief ihre Mutter aus dem Hintergrund: „In den Osterferien werden wir dich besuchen.“

Wie sollte das gehen? Es gab nur ein Schlafzimmer. Außerdem war das schon in drei Wochen. „Ich werde leider nur eine kleine Wohnung haben.“

„Keine Sorge, wir wollen dich besuchen und Urlaub in der Heimat machen. Dafür nehmen wir natürlich ein Hotel“, sagte ihr Vater.

Erleichtert verabschiedete sich Carmen und trat ans offene Fenster. Von unten schallten die Geräusche der Stadt nach oben. In Inca wäre es bestimmt leiser und sie könnte selbst am Wochenende bei frischer Luft und ohne Lärm schlafen.

Vorfreude überkam sie, die allerdings nur kurz währte. Die Wohnung in Inca lag im Erdgeschoss und damit nicht so sicher wie hier im vierten Stock.

Sie würde doch hoffentlich nicht in alte Muster verfallen? Carmen öffnete den Waffentresor und überprüfte das Magazin ihrer Waffe. Seit Jahren schon hatte sie die Pistole nachts weggeschlossen. Alte Erinnerungen blitzten vor ihr auf. Sie war gerade von der Militärakademie auf den ersten Posten berufen worden und hatte es gleich mit einem Familienclan zu tun gehabt, der sich auf Taschendiebstähle spezialisiert hatte. Als sie den Sohn auf frischer Tat erwischte, verfolgte sie anschließend der Bruder, dem sie damals nichts nachweisen konnten. Überall lauerte er hinter Häuserecken, an ihrem Auto, an ihrer Wohnung. Obwohl er nichts tat, außer sie zu beobachten – sodass sie es merken musste –, verzichtete Carmen damals keine Sekunde auf ihre Waffe und selbst im Bett lag sie griffbereit und geladen neben ihr. Eine absurde Situation, die ihr nächtliches Herzrasen, Atemnot und Anfälle von Panik beschert und sie am Ende zum Polizeipsychologen gebracht hatte. Ohne diese Sitzungen wäre sie vielleicht sogar in einer handfesten Paranoia gelandet. So konnte sie mit einem positiven Abschlussbericht des Psychologen unbeschadet weiter an ihrer Karriere arbeiten. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder zum Spielball der eigenen Angst zu werden. Was auch bis zur Festnahme des Drogen­bosses Sergio wunderbar funktioniert hatte, gestand sie sich ein. Damit andere davon verschont blieben, gab sie ehrenamtlich Selbstverteidigungskurse für Mädchen und junge Frauen. Kein Mädchen, keine Frau sollte sich von Angst einschränken lassen.

Die Altstadtgasse und der Angreifer mit der Kapuze schoben sich in ihre Erinnerung. „Ich bin wehrhaft … ich habe die Kontrolle und es gibt keine Bedrohung“, sagte sie sich mehrmals hintereinander, bis ihre Hände nicht mehr zitterten und sie die Waffe wieder im Tresor verschloss.

***

Endlich streifte ihn mal wieder das Glück. Zufrieden stand Roberto auf und steckte seinen Gewinn ein. Trotz des für ihn kleinen Einsatzes hatte es sich gelohnt. Knapp tausendfünfhundert Euro hatte er gewonnen. Damit konnte er die Miete für den nächsten und übernächsten Monat bezahlen und die Reisekosten nach Mallorca waren auch drin.

Zu Hause angekommen gönnte er sich trotz der Tabletten einen Gin Tonic. Außerdem pochte die Verletzung nicht mehr so stark wie noch am Tag zuvor. Er öffnete das Küchenfenster und setzte sich mit dem Drink vor den Laptop.

Wie konnte er seinen Großvater nur überzeugen? Und wenn nicht …

Roberto nippte am Glas. Unfälle passierten, und wie Felipe schon sagte, waren Schweine und insbesondere Zuchteber keine Kuscheltiere. Er steckte sich eine Zigarette an und sah dem Rauch nach, wie er zum Küchen­fenster zog. Ob er Eduardo dazu bringen konnte, seinen Opa anzugreifen? Könnte das seine Meinung über Schweine ändern?

Seine Verletzung meldete sich mit einem Stechen zurück und Roberto betrachtete den Verband. Wenn er unbemerkt Eduardo reizen könnte, der dann seinen Opa angriff und Roberto heldenhaft dazwischenging … Er nippte am Glas. Das dürfte der Schweineliebe einen gewaltigen Dämpfer geben, Roberto wäre der Retter, der den Krankenwagen ruft und sich um Opa kümmert. Alles würde gut und Eduardo wäre die längste Zeit Opas Liebling gewesen.

Auf der Website der Fähranbieter sah er sich die Preise an. Ab Valencia kostete es samt Auto nach Mallorca sogar um die fünfzig Euro weniger als der Flug ab Sevilla und einen Mietwagen brauchte er dann auch nicht. Einzig die sechshundertfünfzig Kilometer bis dahin würden Sprit und Zeit kosten. Urlaub hatte er ab Freitag eingereicht, und da die Fähre am Abend gegen elf Uhr ging, war das kein Problem. Leider fuhr die Rückfähre Sonntag kurz vor Mitternacht und erreichte Valencia um acht Uhr morgens. Also doch schon am Samstag zurück. Da ihm die Feier ziemlich egal war, dürfte es kein Problem sein, sich gegen halb elf abends zu verdrücken, falls die Hochzeitsfeier, die schon zum Mittagessen begann, sich überhaupt so lange hinziehen würde. So oder so konnte er mit der Nachtfähre am gleichen Tag zurückfahren und brauchte noch nicht einmal eine Hotelübernachtung.

Kurz überkamen ihn Skrupel beim Gedanken, Eduardo auf seinen Opa zu hetzen oder vielmehr, so zu tun …

Roberto setzte das Glas an und leerte es in einem Zug. Doch wenn Opa ihm nicht freiwillig helfen wollte … mit den Kredithaien war nicht zu spaßen und nur der Pflichtteil des Erbes käme einer Enterbung gleich. So gesehen hatte sein Opa ihn schon längst aus seinem Leben gestrichen und es wurde Zeit, dass er wieder eine Rolle spielte.

Mit einem Klick reservierte er die Fähre kostenlos, sodass er zwei Tage hatte, um sich zu entscheiden, und schenkte sich einen zweiten Gin Tonic ein. Er schüttelte den Kopf. Hoffentlich würde sein Opa nicht anschließend die Schuld bei sich selbst und nicht bei dem Zuchteber suchen. Er stellte die Schweine einfach über alles. Roberto presste die Lippen aufeinander. Seine letzte Hoffnung war, dass sein Opa doch noch eine gewisse Einsicht zeigte. Noch war das Testament nicht gemacht, hatte sein Opa gesagt. Er musste alles auf eine Karte setzen wie bei einem großen Spiel. Antäuschen und bluffen. Opas Held sein – der Retter in der Not, der unbedingt eine Belohnung verdient hatte. Eine hoffentlich großzügige Belohnung. Roberto nahm einen großen Schluck. Endlich hätte er Geld für seinen großen Traum: Einmal in Las Vegas spielen.

Er öffnete den Browser und suchte nach Reiseangeboten. Zwei Wochen wollte er mindestens bleiben. Täglich fanden in den Hotels Pokerturniere statt. Manche mit Startgebühr und andere offen, bei denen man so oft und so viel Chips tauschen konnte, wie man wollte oder konnte. Roberto sah es direkt vor sich: Er an einem Tisch mit Spielern aus aller Welt, eine hübsche Bardame, die während des Spiels die kostenlosen Getränke und Cocktails servierte. Eine vibrierende Atmosphäre.

Er hätte die Qual der Wahl. Flug und Hotel würden um die zweitausendfünfhundert Euro kosten und natürlich sein Spielgeld. Gut, zum Essen brauchte er auch noch etwas. Es gab schon Abende mit nur einhundert Dollar Spieleinsatz für die Turnierteilnahme. Damit könnte er anfangen, um sich an die Atmosphäre zu gewöhnen und dann zu steigern. Wie lange benötigte man, um ein Visum zu bekommen? Das musste er auf alle Fälle schon mal anleiern.

***

Mit noch etwas müden Beinen stand Carmen am Morgen im Badezimmer. Zu viel war ihr in der Nacht durch den Kopf gegangen, doch innerlich fühlte sie sich wieder gestärkt. Sie hielt beide Hände unter den Wasserhahn, fing das kalte Wasser auf und wusch sich das Gesicht.

Langsam kehrten die Lebensgeister zurück und sie konzentrierte sich auf das, was vor ihr lag. Sie musste eine Liste machen, was sie noch für die neue Wohnung brauchte. In der Küche schaltete sie die Kaffeemaschine an und öffnete die Türen der Küchenschränke. Anschließend trat sie einige Schritte zurück, sodass sie die gesamte Front auf einmal in Augenschein nehmen konnte.

Meine Güte, was hatte sich da in den wenigen Jahren für ein Zeug angesammelt. Vieles davon hatte sie noch nie benutzt. Da die Küche in Inca nur halb so groß war, sollte sie entweder einen Teil verschenken oder in Kisten verpackt irgendwo einlagern. Aber zusätzlich Geld für Lagerraum ausgeben?

Das Display der Kaffeemaschine zeigte an, dass die Betriebstemperatur erreicht war. Carmen stellte die Tasse darunter und drückte den Knopf.

Die Küche in Inca bot keinen Platz für einen Esstisch für mehr als zwei Personen – das Wohnzimmer auch nicht –, also brauchte sie auch nicht so viel Geschirr, wenn sie keinen Raum hatte, um einen großen Tisch zu stellen, an dem sie Freunde bewirten konnte.

Carmen nahm die dampfende Tasse in die Hand und blies hinein. Dass gerade sie über einen großen Tisch und Essenseinladungen nachdachte … Seit der Trennung von Peter hatte sie überhaupt niemanden zu sich zum Essen gebeten. Warum auch? Schließlich konnte sie jederzeit jemanden in eins der Restaurants einladen. Aber auch das hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht. Sie nippte am Kaffee. Wie auch? Permanent in Bereitschaft musste man schon sein, wollte man Karriere machen. Und leider wählten die Verbrecher gerne die Dunkelheit als ihre Tageszeit aus und nichts war blöder, als jemanden zum Abendessen einzuladen und dann nach der Vorspeise aufspringen zu müssen und den anderen zurückzulassen.

Erneut besah sie sich den Inhalt der Küchenschränke und ging anschließend ins Wohnzimmer. Das Bücherregal musste mit. Sofa, Sessel, Tisch, Stehlampe und Fernseher auch. Das würde ohne Probleme in der neuen Wohnung Platz finden. Wie war es eigentlich mit Lampen? Laura hatte gesagt, die würden bleiben. Aber wo waren welche? Carmen nahm ihr Handy und scrollte durch die Fotos, die sie gemacht hatte. Tatsächlich, Wand- und Deckenlampen gab es in jedem Raum.

Sie ging ins Schlafzimmer. Bett und Nachttisch würde sie mitnehmen und die alte Kommode. Erneut betrachtete sie die Fotos. Der eingebaute Wandkleiderschrank schien in etwa gleich groß, also auch kein Problem und glücklicherweise genauso tief, sodass ihr kleiner Waffentresor ebenfalls dort hineinpasste.

Zurück in der Küche machte sie sich noch einen Kaffee. Gab es also nur das Problemchen Küchengeraffel und ein kleines Badezimmerschränkchen musste sie kaufen. Lösbar.

Wenn sie die Sachen, die sie nicht brauchte, in einige der Kisten packte, konnte sie die zur Not auch in dem Abstellschrank, der unter der überdachten Terrasse der neuen Wohnung stand, unterbringen. Damit wollte sie anfangen.

Drei Stunden später hatte sie die erst einmal unnötigen Sachen in den Kisten verstaut und beschloss, nach Inca zu fahren, um dort ein wenig spazieren zu gehen und sich die neue Umgebung anzuschauen. Bevor sie ging, schickte sie ihrem Vermieter noch eine Mail mit der Kündigung der Wohnung. Wahrscheinlich müsste sie noch einen Monat zahlen, doch bei dem, was sie in Inca sparte, war es egal.

Auf dem Weg zu ihrer neuen Wohnung fasste sie den Plan, sich auch nach Einkaufsmöglichkeiten umzusehen.

Überrascht bemerkte sie, wie belebt die Straßen an einem Sonntagnachmittag in Inca waren. Spaziergänger mit Kinderwagen oder Hunden bevölkerten die Cafés in der Fußgängerzone. Schade, dass die Wohnung fast eineinhalb Kilometer Fußweg vom Zentrum entfernt lag. Aber, wenn sie sich den Trubel anschaute, sollte sie froh sein, dass es in der Gegend der Wohnung ruhig war, gerade weil es keine großen Geschäfte oder Bars in der Nähe gab.

 

Sie setzte sich in eine Bar an einer Ecke in der Fußgängerzone, bestellte ein Wasser und ließ die Umgebung auf sich wirken. Aus dem Augenwinkel nahm sie an der Hausecke schräg hinter ihr eine Bewegung wahr. Langsam drehte sie den Kopf, bemüht, nicht direkt zur Hausecke zu starren. Tatsächlich: Ab und zu schien ein Mann um die Ecke zu spähen und sie zu beobachten. Die bereits tiefer stehende Nachmittagssonne blendete Carmen und sie erkannte kein Detail im Gesicht des Mannes – nur, dass er seine Haare kurz geschoren trug. Mist! Sie legte Geld für das Wasser auf den Tisch, sah bewusst in eine andere Richtung und ging mitten zu einer Gruppe Jugendlicher, die laut diskutierend auf sie zukam. Ihre Chance, sich dahinter zu verbergen und einen Kreis zu laufen, um zu sehen, wer sie da von der Ecke aus belauerte.

Kurz darauf hatte Carmen den Häuserblock umrundet … nichts. Der Mann war verschwunden. Sie schnupperte. Roch es hier möglicherweise nach den Resten eines Aftershaves? Das des nächtlichen Angreifers. Sie musste sich irren. Woher sollte jemand wissen, dass sie hier war? Alles Unsinn. Bestimmt hatte derjenige nur seine Freundin necken wollen und ein bisschen Verstecken gespielt. Schließlich kannte sie hier niemand und in Jeans und T-Shirt fiel sie auch kleidungsmäßig nicht aus dem Rahmen.

Carmen schüttelte die Bedenken ab, schlenderte den Rest der Fußgängerzone entlang und erreichte die Hauptstraße, an deren Ende hinter dem Kreisel das Restaurant lag, wo sie sich mit Peter getroffen hatte. Die Polizeistation war auch nicht mehr so weit weg. Nur einige wenige Male war sie mit den Kollegen hierher gefahren, hatte dabei jedoch nicht so sehr auf das Gebäude geachtet. Einen Blick zu riskieren, konnte nicht schaden.

Mit einem hohen Zaun umgeben sah die Comandancia nicht gerade einladend aus, doch das Tor stand offen und davor auf dem Bürgersteig unterhielten sich zwei Männer. Einer der beiden trug Uniform.

Während sie näher kam, vernahm sie laute Wortfetzen. „Ungerecht … wäre dran gewesen … aus Palma.“

Carmen verlangsamte ihre Schritte. Das musste ihr gelten. Bestimmt hatte der Familienvater erfahren, dass nicht er den freien Posten übernahm, sondern jemand anders: sie.

Die beiden Männer sahen sie an.

Carmen rang sich ein Lächeln ab und nickte ihnen zu, als sie an den beiden vorbeiging.

„Und dann auch noch eine Frau“, sagte der Mann in Zivil.

Es kostete Carmen alle Beherrschung, nicht umzu­drehen und sich den beiden vorzustellen. Sie hatte es geahnt, das würde alles andere als leicht werden.

Als sie außer Hörweite war und der Asphalt der Straße in einen Feldweg überging, setzte sie sich zum Nachdenken auf einen großen Stein, der am Wegrand lag. Die Sonne hatte ihn angenehm gewärmt. Sie ging ihren Plan durch. Zuerst einmal wollte sie am nächsten Morgen nach dem Schießtraining ihren Vorgesetzten in Palma aufsuchen und bitten, dass sie am Mittwoch freibekam, um in die neue Wohnung umzuziehen, sofern Peter Zeit hätte oder ihr zumindest seinen Pick-up leihen könnte. Man hatte ihr sogar angeboten, die ganze Woche Urlaub zu nehmen, aber mit dem aktuellen Fall und der anstehenden Befragung der armen verletzten Frau wollte sie Joan auf keinen Fall allein lassen. Das Gespräch am Montag würde sie nutzen und ihren Vorgesetzten bitten, nachzusehen, wann am Mittwoch der Kollege, der übergangen worden war, Dienst hatte, damit sie hingehen und sich vorstellen konnte. Bestimmt wäre das besser, als direkt am Monatsersten, dem Samstag, zu starten.

Sie sah zum kleinen Hausberg von Inca. Ideal für ein etwas stärkeres Lauftraining, befand sie. Beim Aufstehen streckte sie den Rücken. Ja, die Gegend gefiel ihr.

Es kostete sie Mühe, einen anderen Weg zurück zur Wohnung zu wählen, und darauf zu verzichten, erneut am Polizeigebäude vorbeizugehen. Stünden die Kollegen noch dort, sie würde nicht noch einmal schweigend entlangspazieren können.

Ihr Handy klingelte und sie sah auf das Display. Peter! Zögernd ging sie dran. „Hola.“

„Erkundest du die Umgebung?“

Erschrocken drehte Carmen den Kopf, doch es war niemand zu sehen. „Spionierst du mir nach?“

„Nein, wo denkst du hin. Ich musste bei Laura vorbeifahren auf dem Weg zum Notruf eines Pferdebesitzers. Da habe ich dein Auto parken gesehen.“

„Ja, ich wollte den ausnahmsweise freien Sonntag einmal nutzen, denn so viel kenne ich von Inca nicht.“

„Schade, dass du vorher nichts gesagt hast, wir hätten … warte mal, da kommt ein anderer Anruf rein.“

Carmen lauschte der Pausenmelodie.

„Ein Besitzer hat in der Auffahrt seinen Hund mit dem Auto erwischt“, sagte Peter. „Ich muss los. Melde dich, wenn du Unterstützung beim Umzug brauchst.“

Bevor Carmen etwas sagen konnte, hatte er bereits aufgelegt. Vielleicht sollte sie doch ein Umzugsunternehmen beauftragen, statt Peter mit seinem Pick-up um Hilfe zu bitten. Am Ende wartete sie auf gepackten Koffern, während er von einem Einsatz zum nächsten eilte. Außerdem hatte er schon so viel für sie getan. In Momenten wie diesen bedauerte sie die Trennung aus tiefstem Herzen. Sie hatten sich perfekt ergänzt … leider zu perfekt, was ihrer beider Arbeitsauffassung anbelangte. Jederzeit auf Abruf, immer sofort im Arbeitsmodus, wenn es nötig gewesen war. Auf Dauer hatte die gegenseitige Liebe die fehlende gemeinsame Zeit nicht auffangen können. Manchmal sehnte Carmen sich nach seiner starken Schulter, bei ihm hatte sie auch mal schwach sein dürfen. So, wie er sich jetzt um sie kümmerte, vermisste er sie wohl ebenfalls.

Mit gemischten Gefühlen ging Carmen zurück zu ihrem Auto. Als sie den Wagen aufschloss, klingelte ihr Handy. Sie sah auf das Display. Oh nein, Joan. „Sí, was gibt es?“

„Eben habe ich einen Anruf aus der Klinik bekommen. Sie hat es nicht geschafft.“

„Scheiße!“

„Jetzt ist es eine Mordermittlung. Bis wann hast du morgen früh Schießtraining?“, fragte Joan.

„Von halb acht bis neun.“

„Ich hole dich dann vom Training ab und wir fahren gemeinsam zur Einvernahme ins Gefängnis. Ist das okay?“

„Prima, passt.“

Die arme Frau! Trotz aufmerksamer Nachbarn waren sie zu spät gekommen. Was ging in solch eifersüchtigen Männern vor? Das, was ihnen am liebsten war, zu bedrohen, verletzen oder gar zu töten? Carmen biss sich auf die Lippe. Umso wichtiger waren die Selbstverteidigungskurse für Mädchen und junge Frauen. Auch gegen einen Mann mit Messer gab es Möglichkeiten, sich zu wehren, sodass man wenigstens die nötige Zeit für eine Flucht herausschlagen konnte.