Tod auf der Finca

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Zwei

Nachdenklich strich Carmen mit der flachen Hand über ihren Schreibtisch.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass dich noch immer was bedrückt.“ Joan sah sie eindringlich an. „Komm, lass es raus. Viel Gelegenheit wirst du nicht mehr haben, mir dein Herz auszuschütten.“ Er nickte ihr aufmunternd zu.

Sie schluckte. Sollte sie Joan ausgerechnet jetzt, wo sie nur noch wenige Tage hier mit ihm zusammenarbeiten würde, von dem Angriff erzählen? Bisher hatte sie sich nicht wieder verfolgt gefühlt und bald wäre ihr Arbeitsfeld Inca und sie weg aus Palma. „Du wirst mir fehlen.“

„Du mir auch“, sagte Joan gepresst. „Aber das ist nicht alles, oder?“

Carmen überlegte kurz, wie sie ihre Gedanken am besten in Worte fassen konnte. „Weißt du, zuerst einmal gibt es da wohl einen Kollegen in Inca, der auch gut an der Reihe hätte sein können, und ich habe Angst, dass er sich übergangen fühlt und …“

„Stopp“, unterbrach Joan. „Du hast dich weder aktiv dorthin beworben noch irgendetwas getan, damit das passiert. Dein neuer Kollege wird das bestimmt ähnlich sehen oder hat er ein Bewerbungsschreiben eingereicht?“

„Soweit ich weiß nicht.“

„Na siehst du.“ Joan rollte mit seinem Bürostuhl vor ihren Tisch. „Was noch?“

„Die langen Dienstwege.“ Erneut strich Carmen mit der Handfläche über die Tischplatte. „Du weißt, wie eng wir hier mit dem jeweiligen Ermittlungsrichter zusammenarbeiten und wie unbürokratisch in den meisten Fällen unsere Anfragen an die Rechtsmedizin, die Ballistiker oder Informatiker bearbeitet werden. Wir haben mehr oder weniger freie Hand, es reicht ein Anruf, insbesondere wenn Julián die Koordination leitet. Da bekommen wir fast immer sofort das Okay und er kümmert sich, dass der Ermittlungsrichter alle erforderlichen Anordnungen unterschreibt, und …“ Carmen sah Joan fest an. Sie wollte nicht wie ein jammerndes Häufchen Elend wirken, wo sie gerade so einen Karrieresprung machte, doch mittlerweile überwogen die Bedenken ihre Freude.

„Du weißt aber schon, dass …“, setzte Joan an, als das Telefon klingelte und er abhob.

Carmen kannte fast jeden seiner Gesichtsausdrücke und das energisch vorgeschobene Kinn mit leicht gespitzten Lippen, während er zuhörte, deutete auf einen Einsatz hin. Sie stand auf und ging bereits an die Tür.

„Sind gleich da.“ Joan legte den Hörer auf.

Carmen hielt ihm die Tür auf. „Was gibt es?“

„Schreie aus einer Wohnung. Die Nachbarin hat angerufen. Kollegen der Eingreiftruppe sind auch schon unterwegs.“

Gemeinsam rannten sie die Treppen hinunter in die Tiefgarage zum Einsatzwagen und zogen die Schutz­westen an.

Joan setzte sich ans Steuer und während er aus der Garage fuhr, rief Carmen die Leitstelle an und bat um die Telefonnummer der Nachbarin, die angerufen hatte.

Auf Joans Fahrkünste konnte sie sich verlassen, weshalb Carmen sich auf das Telefonat konzentrierte.

Als die Nachbarin ans Telefon ging, stellte sich Carmen kurz vor und fragte: „Wie oft gab es bisher nebenan Streit?“

„In der letzten Zeit wurde es schon häufiger mal laut, aber nicht so wie heute.“

„Was ist anders?“

„Immer wieder Schreie, aber dann einer, so schrill, das habe ich noch nie gehört.“

Carmens Kopf wurde gegen die Scheibe gedrückt, als Joan rasant um eine Kurve fuhr. Sie konzentrierte sich erneut. „Und dann?“

„Ja, danach war alles leiser.“

„Noch eine Frage: Leben Kinder in der Wohnung?“

„Nein.“

„Danke“, sagte Carmen hastig, als Joan abrupt bremste und auf dem Bürgersteig vor einem sechsstöckigen Haus parkte. Vor ihnen standen bereits zwei Einsatzwagen der uniformierten Kollegen, die sich gerade am Hauseingang besprachen.

„Und?“, fragte Joan, während sie beide zu den Kollegen liefen.

„Zum Glück keine Kinder.“ Carmen wandte sich an den Brigadeführer. „Die Nachbarin rief an, als es einen besonders schrillen Schrei gab, danach wurde zwar immer noch geschrien, aber leiser. Wir gehen vom Mann und seiner Frau aus. Von ihr stammte wahrscheinlich der Schrei.“

„Alle Szenarien sind denkbar“, ergänzte Joan.

Der Brigadeführer nickte und ging mit vier Männern voran ins Treppenhaus. Weitere Männer und Frauen aus dem zweiten Einsatzwagen liefen um das Haus, um mögliche Fluchtwege abzusperren.

Der vorsorglich gerufene Rettungswagen hielt auf der Straße.

Vor der Wohnungstür im dritten Stock blieben Carmen und Joan seitlich mit der Waffe im Anschlag stehen.

Neben dem Brigadeführer hatten zwei Kollegen mit einem Rammbock vor der Tür Stellung bezogen.

Der Brigadeführer hämmerte an die Tür. „Aufmachen, Polizei!“

Keine Reaktion.

Erneut forderte er auf, die Tür zu öffnen.

Die Geräusche, die aus der Wohnung drangen, konnte Carmen nicht wirklich zuordnen: Ein Möbelstück, was gezogen wurde, oder ein Körper, den jemand über den Boden schleifte?

Egal, sie konzentrierte sich auf das Angriffszeichen.

Die Tür sprang unter dem Stoß der Ramme sofort weit auf und Carmen stürmte mit Joan an der Seite den uniformierten Kollegen hinterher.

Eine frische Blutspur führte vom Eingangsbereich in das Wohnzimmer. Wahrscheinlich hatte das Opfer zuvor versucht, die Wohnung zu verlassen, war aber nur bis in den langen Flur gekommen.

Am Ende des Ganges stand ein großer Garderobenschrank zwischen den offen stehenden Türen von Wohnzimmer und Küche. Davor lag seitlich ein Badezimmer, in das einer der Kollegen nun vorsichtig ging.

Aus Wohnzimmer, Küche und Bad kam jeweils der Ruf: „Gesichert!“

Zwei weitere Zimmer gab es noch. Der Brigadeführer setzte gerade die ersten Handzeichen an seine Kollegen, als Carmen aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Blutbesudelt mit einem Messer in der Hand stürmte der Mann aus dem Schrank und rannte ins Wohnzimmer auf den Balkon zu.

„Stehen bleiben!“ Carmen hechtete dem Mann hinterher.

Noch bevor Joan oder die Kollegen bei ihr waren, hatte sie den Mann erreicht, stürzte sich in seinen Rücken, riss ihn zu Boden. Mit dem rechten Fuß trat sie ihm das Messer aus der Hand, das über den Fliesenboden schlitterte.

Joan zog ruckartig beide Arme des Mannes zu sich und legte ihm Handfesseln an.

„Opfer im Schlafzimmer!“, rief der Brigadeführer und funkte den unten wartenden Notarzt an.

***

Endlich ging die Schicht zu Ende und Roberto brachte die letzten Schlachtabfälle des Tages nach draußen.

Felipe lehnte an der Wand der Halle und rauchte. „Lust auf ein Feierabendbier?“

Warum eigentlich nicht? Während er Felipe zunickte, griff er in den Container. „Ah! Mist.“ Hastig zog Roberto seine Hand zurück. Blut lief aus dem Riss in seinem Handschuh. Einer der scharfkantigen Schneidezähne hatte ihm den Daumenballen aufgeschlitzt. Er drückte mit der anderen Hand dagegen.

„Soll ich den Arzt rufen?“ Felipe kam zu ihm. „Sieht übel aus.“

„Bis zum Betriebsarzt schaffe ich es noch selbst. Kannst du hier den Rest machen?“

„Geh schon.“ Felipe nickte. „Und danach brauchst du erst recht ein Bier. Ich warte auf dem Parkplatz.“

Mit vier Stichen hatte der Arzt die Wunde genäht. „Tetanus ist noch aktuell?“

„Ja. Die letzte Impfung war vor zwei Jahren.“

Der Arzt legte einen Verband an. „Ich gebe dir noch Schmerzmittel und Antibiotika mit.“ Er ging zum Schreibtisch und holte aus der Schublade zwei Medikamenten­packungen. „Krankschreiben werde ich dich auch für eine gute Woche.“

„Geht es nicht auch ohne?“ Schon am nächsten Wochenende fand die Hochzeit statt, zu der er nach Mallorca reisen wollte. Die entfernte Cousine war ihm vollkommen egal, aber er hoffte, in einem persönlichen Gespräch seinen Opa doch noch überzeugen zu können. Da kam es nicht gut beim Arbeitgeber, wenn er kurz vorher oder gar währenddessen krankgeschrieben war.

Über den Brillenrand sah ihn der Arzt an. „Machen wir es folgendermaßen. Da heute Freitag ist, kommst du am Montagmorgen vor Schichtbeginn zu mir und ich sehe mir die Wunde an. Verheilt sie gut und zeigt keine Entzündung, kannst du arbeiten.“

„Prima.“ Erleichtert nahm Roberto die Medikamente entgegen und verabschiedete sich.

Während er sich umzog, dachte er über den Besuch bei seinem Großvater nach. Nur persönlich würde er ihn überzeugen können, auch wenn er dafür die Reisekosten einsetzen musste. Ein Einsatz, der sich hoffentlich mehr lohnte als seine sonstigen. Zurzeit gab es glücklicherweise günstige Flugangebote und er hoffte, die Ausgabe würde kein zu großes Loch in seine so schon knappe Kasse reißen. Vielleicht könnte ein kleines Spielchen mit geringem Einsatz wenigstens diese Lücke füllen. Am Samstag war ein solcher Abend angesetzt mit Einsätzen von maximal hundert Euro. Eigentlich ein Witz, aber eine Maßnahme, um neue Spielerkunden zu gewinnen. Doch bei nicht zu erfahrenen Spielern, die an so einem Abend kamen, lagen die Chancen gut, mit geringem Einsatz Gewinn einzufahren. Hätte Roberto erst einmal die Reisekosten erspielt, würde er sich die Strategie für das Gespräch mit seinem Großvater überlegen.

Er schloss seinen Spind und ging hinaus.

„Na endlich. Ich verdurste bald“, begrüßte ihn Felipe auf dem Parkplatz.

„Musste halt genäht werden.“ Roberto hob die verbundene Hand. „Ich würde gerne erst mein Auto zu Hause abstellen.“

„Geht klar. Dann in einer halben Stunde in unserer Bar?“

„Spielt da heute wer?“

Felipe schloss sein Auto auf. „Keine Ahnung. Letztes Wochenende gab es eine Party mit Songs der Achtziger.“

„Da war ich ja noch nicht mal auf der Welt.“ Roberto schüttelte den Kopf. „Bis nachher.“

 

Auf der Terrasse vor der Bar waren alle Tische besetzt, als Roberto ankam. Von Felipe war noch nichts zu sehen. Im Augenwinkel nahm Roberto wahr, wie ein Pärchen aufstand, ging rasch hin und setzte sich an den nun frei gewordenen Tisch.

Kurz danach kam die Bedienung, stellte die leeren Gläser auf ein Tablett und wischte den Tisch ab.

Roberto bestellte ein Bier.

Während er den ersten tiefen Zug trank, schlenderte Felipe heran und setzte sich. „Sorry, hat ein bisschen länger gedauert, weil ich Ana erst noch wo abgesetzt habe. Mädelsabend.“

„Siehst du, immer muss man etwas für die Frauen tun.“ Roberto grinste schief.

„Du kannst mir meine Ana nicht ausreden, nur weil du gerade so eine frauenlose Phase hast.“ Er winkte der Bedienung und bestellte ebenfalls ein Bier. „Hast du eigentlich noch Schmerzen?“

„Geht so. Habe ja Tabletten bekommen.“

„Und kannst du am Montag arbeiten?“

Roberto nickte. „Wird schon gehen. Ich will ja Ende der Woche nach Mallorca. Den Urlaubstag habe ich auch beantragt. Da käme es nicht besonders gut, wenn ich vorher krank bin.“

Felipe drehte sein Feuerzeug in den Händen. „Die Zähne sind wirklich spitz. Letzt habe ich in der Zeitung gelesen, dass ein Schwein seinen Besitzer attackiert und sogar gebissen hat.“

„Und dann?“

„Keine Ahnung, erinnere mich nicht mehr. War aber bestimmt nicht lustig.“

„Übel.“ Roberto betrachtete seine verletzte Hand. „Und ich weiß noch, wie ich als Kind mal nur knapp einem Schwein bei meinem Onkel entkommen bin. Gerade so habe ich es noch über den Zaun geschafft. Und dann ist das Vieh doch glatt durch den Zaun gebrochen. Mann, was bin ich gerannt.“ Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel. „Dafür räche ich mich heute an den Biestern, indem ich sie zu Schinken verarbeite.“

***

Aufgeregt las Miquel die E-Mail der chinesischen Interessenten. Sie boten ihm eine Partnerschaft an, wenn es ihm gelänge, Schweinesperma von Eduardo zu bekommen. Sie schrieben weiterhin, dass Miquel im Fall einer Einigung bei jedem Ferkel aus der Zucht einen Anteil erhalten würde.

Er wischte seine schwitzigen Finger an der Hose ab. Selbst bei einem nur kleinen Betrag pro Nachkommen käme im Laufe der Zeit ein ansprechendes Sümmchen zustande. Möglicherweise könnte er mit Eduardos Sperma auch selbst einen präsentablen Zuchteber aufziehen und eine längere Geschäftsbeziehung mit den Chinesen anbahnen.

Anscheinend waren sie bei ihren Verhandlungen mit Antonio gescheitert und hatten sich deshalb an ihn gewandt. Da ging es ihnen nicht besser als ihm selbst. Schon bald wollte einer der Chinesen auf die Insel kommen. Bis dahin brauchte Miquel Ergebnisse. Leider hatte Antonio ihn an diesem Morgen mehr oder weniger von seinem Grundstück geworfen.

Unschlüssig hielt Miquel seine Finger über der Tastatur. Wenn Antonio krank würde oder verletzt wäre, könnte er anbieten, sich in der Zwischenzeit um die Schweine und auch Eduardo zu kümmern … die Chinesen würden gar nicht mitbekommen, dass Eduardo nur ausgeliehen war. Ein verknackster Knöchel reichte eigentlich schon.

Sollten sie erst einmal kommen und bis dahin … Miquel schrieb zurück, dass er sich darum kümmern würde und sich bereits auf das Treffen freute.

Drei

Carmen schloss die letzte Website. Es sah wirklich nicht prickelnd aus, was die Wohnungssuche anbelangte. Hoffentlich hatte Peter nachher gute Nachrichten. Sie blickte auf die Uhr. Schon halb zwölf. Zu spät, um noch zum Samstagsmarkt zu huschen.

Durch die Festnahme gestern war sie auch zu nichts mehr gekommen. Wie in Zeitlupe lief erneut in ihrem Kopf die Szene ab. Sie hatte instinktiv gehandelt und im Bewusstsein, sich auf Joan verlassen zu können, der ihr Vorpreschen hoffentlich genauso wertete. So ein tiefes Vertrauen auf den Partner während eines Einsatzes kam nicht von heute auf morgen. Das mussten sich beide zusammen aufbauen. Wenigstens hatte die Frau überlebt und lag im Krankenhaus. Am Montag hofften sie, das arme Opfer befragen zu können.

Carmen seufzte. In Inca hatte sie erst einmal nichts, worauf sie bauen konnte. Eine Beförderung gab es nicht umsonst und der Preis, den sie zahlen musste, hieß, sich alles neu zu erarbeiten.

Sie stellte die Tasse unter den Kaffeevollautomaten und drückte die Taste. Wassertank füllen. Sie goss Wasser nach und betätigte erneut den Knopf. Abtropfschale unter der Brüheinheit leeren. Wer das programmiert hatte, lebte schon in der ganz eigenen Hölle. Warum konnte die blöde Maschine nicht einfach alle ihre Wünsche gleichzeitig auflisten? Sie wollte doch nur eine weitere Tasse Kaffee. Seufzend leerte sie die Schale und auch gleich den Kaffeerestebehälter mit. Ein letzter prüfender Blick, ob noch genügend Bohnen drin waren. Knopf drücken. Zufrieden hörte Carmen dem Mahlwerk zu, als ihr Telefon klingelte.

Auf dem Display sah sie Peters Namen aufleuchten. So früh? Hoffentlich hatte er gute Nachrichten. „Buenos días.“

„Hola! Wie geht es der frisch Beförderten?“

„Ich mache mir gerade erst den dritten Kaffee, also noch nicht hundert Prozent.“ Carmen griff die Tasse, klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter fest und öffnete die Milchpackung. Der Drehverschluss hakte und das Handy rutschte dabei vom Ohr weg. Sie hörte nur Wortfetzen. Verdammt! Rasch nahm sie das Telefon wieder in die Hand und hielt es richtig, während sie mit der anderen die Milch eingoss. „Entschuldige, ich habe dich gerade nicht gehört. Was hast du gesagt?“

Peter lachte. „Klingt beinahe nach einer Ausrede, weil du dich nicht mit mir treffen willst.“

Carmen trat mit der Tasse auf den kleinen Balkon und pustete über den Rand. „Treffen?“

„Du hast mir wirklich nicht zugehört“, stellte Peter fest.

„Die Milchpackung und das Handy …, ach egal. Also: wann, wo, warum?“ Carmen nippte am Kaffee.

„Ich habe vielleicht eine Wohnung für dich und dachte, wir …“

„Echt? Das ist fast nicht zu glauben. Ich wollte vorhin schon den Computer an die Wand schmeißen, weil ich überhaupt nichts gefunden habe.“

Sie hörte, wie Peter schnaufte.

„Lo siento, es tut mir wirklich leid, dass ich dich unterbrochen habe.“

„Schon gut, eigentlich müsste ich ja daran gewöhnt sein, dass ich bei dir nicht ausreden darf. Um es kurz zu machen: Hast du nachher so gegen drei Zeit? Wir könnten uns in dem Lokal in Inca am dritten Kreisel treffen.“

„Das Ledergeschäft, das nebenan ein Restaurant hat?“

„Ja, genau. Dann erzähle ich dir, was ich habe, und wenn du willst, können wir es danach um vier ansehen.“

Carmen wusste, dass Peter ihr in diesem Moment nichts weiter über die Wohnung sagen würde, und es deshalb sinnlos war, nachzufragen. Doch es fiel ihr schwer, ihre Neugier im Zaum zu halten. Wäre die Wohnungs­frage geklärt, könnte sie sich voll und ganz auf die neue Aufgabe konzentrieren. Leicht würde das bestimmt nicht. Sie sah auf die Straße unten. Wie würde wohl demnächst ihr Ausblick sein, wenn es mit der Wohnung in Inca klappte?

„Bist du noch da?“

„Ja, ich habe nur …“

„Also um drei?“, unterbrach sie Peter. „Das nächste Lämmchen wartet schon sehnsüchtig auf seine Impfung.“

„Ich bin pünktlich.“

Der Wind blies Carmen die Haare ins Gesicht, während sie über den hauseigenen Parkplatz hinter dem Wohnhaus zu ihrem Auto ging. Sie fingerte einen Haargummi aus der Hosentasche und band ihre schulterlangen Haare zu einem Zopf. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben und es sah nach Regen aus.

Als sie die Autobahn nach Inca erreichte, klatschten die ersten Tropfen auf die Windschutzscheibe und der Scheibenwischer verschmierte lediglich den Staub. Carmen betätigte den Hebel für das Wischwasser, doch außer einem leichten Brummen tat sich nichts. „Mist“, fluchte sie. Das kam davon, wenn man immer zu Fuß zur Dienststelle ging und dort auf einen Dienstwagen zurückgreifen konnte. Sie fuhr direkt wieder in Son Fuster von der Autobahn ab und parkte bei der ersten Gelegenheit auf einem Seitenstreifen.

Irgendwo musste noch eine Wasserflasche sein. Im Kofferraum unter diversen leeren Einkaufstaschen wurde sie fündig. Der Regen hatte mittlerweile zugenommen, und bis sie mit der Flasche das Wischwasser aufgefüllt hatte, war ihr T-Shirt auf dem Rücken feucht.

Schnell stieg sie wieder ein, betätigte die Waschanlage und fuhr erneut zur Autobahn.

Kurz vor Inca entlud sich ein Platzregen und es ging nur noch im Schritttempo vorwärts. Na super! Pünktlich wäre sie schon mal nicht.

Fünfzehn Minuten nach drei bog sie auf den Parkplatz des Restaurants ein, dessen dazugehöriges Ladengeschäft bereits geschlossen hatte. Obwohl der heftige Schauer in Nieselregen übergegangen war, reichte es aus, dass Carmens ohnehin noch feuchtes Shirt wieder nasser wurde, während sie zum Restauranteingang rannte. Rechts von der Tür standen unter einem Dach einige Tische, die Hälfte von ihnen besetzt. Am äußersten Ende entdeckte sie Peter, der auf seinem Handy tippte.

„Hola.“ Carmen hatte Peters Tisch erreicht.

Er hob den Kopf und sein breites Lächeln erfasste selbst seine Augenfältchen mit.

Bevor er aufstehen konnte, beugte sich Carmen zu ihm hinab und begrüßte ihn mit zwei Wangenküssen.

„Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt bei dem Wetter.“

Energisch schüttelte Carmen den Kopf. „Und wenn es hageln und blitzen würde. Außerdem bist du doch eher der Wetterflüchtling. Wer hatte denn keine Lust, bis zur Rente bei deutschem Schmuddelwetter bis zu den Knien im Matsch auf irgendeiner Wiese eines Bauernhofs zu versinken?“

„He, hätte ich meinem Geburtsland nicht den Rücken gekehrt, wären wir uns vielleicht nie begegnet.“ Er zwinkerte ihr zu.

Kurz blitzte die Erinnerung ihres Kennenlernens auf, wie er vor über sieben Jahren und gerade frisch auf die Insel gezogen bei den Strandfeiern in der Johannisnacht neben ihr gestanden hatte, um zum rituellen nächtlichen Bad ins Meer zu gehen. Mit dem Fuß war er im nassen Sand hängen geblieben, gegen sie gestolpert und hatte sie umgerissen.

„Wo auch immer du gerade mit deinen Gedanken bist“, Peter stand auf, „lass dich auch noch einmal drücken zu deiner Beförderung.“ Er breitete seine Arme aus.

„Danke.“ Für einen Moment genoss Carmen es, seinen Körper an ihrem zu spüren. „Also“, sie löste sich von ihm und setzte sich, „was für eine Wohnung ist es?“

„Du änderst dich nie.“ Peter legte den Kopf schief. „Immer gleich zum Punkt, innehalten ist nicht.“

„Sagt genau der Richtige, der von Tier zu Tier hetzt und selbst in der Nacht aus dem Bett springt, wenn eine Kuh beim Kalben Probleme hat.“

„Ja, ja“, er hob lachend die Hände, „wir geben uns da beide nichts.“

Die Bedienung kam an den Tisch, unterbrach ihr Gespräch und Carmen bestellte einen Kaffee mit Milch.

„Dem schließe ich mich an“, sagte Peter, „bitte auch einen Café con leche.“

Mit beiden Händen zog Carmen ihren nassen Zopf nach. „Also, nun erzähl endlich.“

„Sie ist nicht sonderlich groß und …“

Die Kellnerin servierte die Getränke.

So schwer es Carmen fiel, wartete sie ab, bis die Tassen auf dem Tisch standen und die Bedienung gegangen war. „Egal. Wo und wie teuer?“

Betont bedächtig rührte Peter in seinem Kaffee. Damit hatte er sie schon immer reizen können: schweigen und abwesend tun. Auch wenn sie keine Lust hatte, sich auf das Spiel einzulassen, blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Langsam ließ sie den Zucker in ihre Tasse rieseln und vermied es, ihn anzusehen. Anschließend rollte sie das Zuckertütchen zusammen und klemmte es unter die Untertasse. Noch immer hielt sie den Blick gesenkt.

Peter räusperte sich.

Gewonnen, jubelte sie innerlich und sah auf.

„Meine Sprechstundenhilfe Isabel hat bei ihrer Tante gewohnt, die in ihrem Stadthaus eine kleine Einliegerwohnung hat. Und da Isabel jetzt mit ihrem Freund zusammenzieht, wird sie frei.“

„Hat sie eine eigene Küche und Bad?“

Peter schüttelte lächelnd den Kopf. „Was glaubst du denn? Es ist eine vollständige Wohnung. Meinst du, ich würde dich in einer WG unterbringen wollen?“

Carmen nippte an ihrem Kaffee. „Und die können wir uns heute ansehen?“

„Ja. Die Tante, sie heißt übrigens Laura, wollte eigentlich nicht an jemand Fremdes vermieten, aber ich habe ihr zugeredet und sie meinte dann, dass es vielleicht ganz gut sei, wenn eine Polizistin im Haus wäre.“

Carmen schluckte. „Ist es eine Gegend, in der eingebrochen wird oder ist ihr schon einmal etwas passiert?“ Sie hatte keine Lust, eine ängstliche Frau ständig beruhigen zu müssen. Und, wenn sie ehrlich zu sich selbst war, wollte auch sie nicht in so einem Viertel wohnen. Nicht nach dem letzten Vorfall. Sie sah Peter auffordernd an.

 

„Du hast wirklich immer nur irgendwelche Verbrechen im Kopf.“ Peter trank seine Tasse aus. „Sie denkt, eine Polizistin macht keine laute Musik, denn der wäre es schließlich unangenehm, wenn dann Kollegen wegen einer Lärmbeschwerde kämen.“

Tatsächlich fühlte sich Carmen kurz ertappt. Sie streckte ihren Rücken. „Du schaust ja auch jedem Tier am Straßenrand hinterher und überlegst, ob es ihm gut geht. Oder nimmst einem Hundebesitzer das Leckerli aus der Hand, weil du glaubst, das Tier wäre zu dick.“

„Touché.“ Peter legte den Kopf schief. „Uns beiden ist wohl nicht mehr zu helfen.“

Carmen nickte. „Wir lieben eben, was wir tun.“

„Ich soll dich auch von meiner Mutter grüßen und sie schickt ebenfalls Glückwünsche an dich“, sagte Peter.

„Danke, wie geht es ihr?“

„Sie ist zufrieden, nur Papa schimpft täglich über das deutsche Wetter, selbst wenn die Sonne scheint. Und es vergeht keine Woche, in der er nicht auf sie einredet, dass doch beide in Vorruhestand gehen könnten und er mit ihr nach Barcelona zurück möchte.“

„Und wie stehen seine Chancen, sich durchzusetzen?“

Peter zuckte die Schultern. „Ich denke, es ist nicht vollkommen ausgeschlossen. Meine Tante hat vor einem Jahr das große Haus am Stadtrand von Barcelona renoviert, aber mein Cousin und die zwei Cousinen sind ja mittlerweile in alle Winde zerstreut, sodass sogar drei Wohnungen in dem Haus frei sind. Meine Tante hat meinem Vater die Dachgeschosswohnung für eine sagenhaft günstige Miete angeboten.“

„Was aber deine Mutter nicht beeindruckt hat, nehme ich an.“ Carmen sah ihre ehemalige Schwiegermutter vor sich, wie sie sich vor Peters Vater aufbaute und kopfschüttelnd die Hände in die Hüften stemmte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ihr Frankfurt verlassen würde.“

Peter lachte. „Vielleicht hast du recht, so viel Jahre wie Papa vergeblich versucht, sie zu überzeugen.“ Peter sah auf die Uhr. „Wir müssen los.“ Er winkte mit erhobener Hand die Kellnerin herbei und zahlte die Kaffees. „Willst du dein Auto hier stehen lassen und fährst bei mir mit?“

***

Obwohl es bereits Nachmittag war, fühlte sich Roberto noch immer müde. Die Verletzung pochte leicht. Er hatte doch nur drei Bier am Abend getrunken, aber sein ganzer Körper und der Kopf gaben Zeichen wie nach einem Vollrausch. Das musste an den Tabletten liegen. Eine Dusche würde vielleicht helfen.

Roberto schleppte sich ins Bad und drehte den Wasserhahn am Waschbecken auf, denn es dauerte immer eine Ewigkeit, bis warmes Wasser kam, und er hatte keine Lust auf eine Eisdusche. Mit dem Zeigefinger der unverletzten Hand fühlte er die Temperatur im Wasserstrahl.

Endlich!

Er stellte das Wasser ab, streifte sein T-Shirt und die Boxershorts ab und stieg in die Badewanne, die auch als Dusche diente. Mit der verletzten Hand hielt er den Brauskopf und drehte mit der anderen auf, bis auch hier warmes Wasser floss. Dann hakte er den Duschkopf ein und streckte dabei den Arm mit der verbundenen Hand nach oben, damit sie nicht nass wurde.

Einen Klecks Duschgel drückte er sich auf den Oberschenkel, stellte die Flasche wieder ab und rieb sich, so gut es ging, mit einer Hand ein.

Bevor Roberto die Seife abwaschen konnte, durchfuhr ihn eine Welle der Übelkeit und nur mühsam gelang es ihm, den Brechreiz zu unterdrücken. „Verdammte Antibiotika!“ So elend hatte er sich schon Jahre nicht mehr gefühlt.

Erst im zweiten Anlauf konnte er sich das Duschgel abspülen, drehte erleichtert den Wasserhahn zu und trocknete sich ab. So musste sich ein Marathonläufer fühlen. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb.

Roberto schlurfte in die Küche, füllte die kleine Kaffeeblechkanne mit Wasser und Pulver und stellte sie auf den Herd. Bevor er sich auf einen Stuhl am Tisch setzte, öffnete er das Fenster.

Kleine Wolken verzierten den ansonsten tiefblauen Himmel. Ob er sich am Abend fit genug fühlte, um zu einem Spiel zu gehen?

Kaffeeduft zog durch die Küche. Roberto goss sich eine Tasse ein und öffnete seinen Laptop. Auf der Website der Fluggesellschaft suchte er nach den Angeboten für den Flug nach Mallorca. Nicht gerade preiswert. Dafür waren die Mietwagen geradezu spottbillig. Doch ohne einen kleinen Gewinn am Abend konnte er die Reise komplett vergessen.

Nachdenklich sah er auf sein Handy. Einen weiteren Versuch sollte er wagen. Die Uhrzeit war günstig, denn Eduardo hatte noch keine Fütterungszeit.

„Sí.“

„Hola, Opa.“

„Wir haben doch erst telefoniert.“

Deutlich nahm Roberto die Zurückhaltung in der Stimme seines Großvaters wahr. „Ich wollte fragen, da du doch bestimmt auch zur Hochzeit von Eva und Jordi einge­laden bist, ob ich dich abholen soll. Ich dachte, ein Auto zu mieten, das ist gar nicht so teuer.“

„Ja, eingeladen bin ich.“

„Nun, was hältst du davon? Dann könnte ich auch mal wieder Eduardo bewundern.“

„Woher der Sinneswandel?“

Roberto schluckte. „Wir könnten reden.“

„Tun wir doch gerade.“

Das lief nicht gut. „Ich dachte ja auch nur, dass …“

„Hör mir zu! Es ist nett, wenn du mich abholen willst, doch das Geld für einen Mietwagen solltest du sparen. Bist ja eh dauernd klamm. Außerdem ändere ich meine Meinung nicht. In zwei Wochen ist der Notar aus dem Urlaub zurück und dann mache ich mein Testament, ob es dir passt oder nicht. Wir können aber darüber reden, ob ich dir deinen Pflichtteil schon jetzt auszahle, damit du Ruhe gibst.“

Zahlen rasten in Robertos Kopf hin und her. Vor ungefähr einem Jahr hatte es einen Presseartikel über den Zuchtbetrieb seines Opas und den Zuchteber Eduardo gegeben. Der Artikel endete damit, dass es durchaus lukrativ sein konnte, jedoch das Prestige eines solchen Züchters über dem Gewinn stand, weshalb auch keine Zahlen genannt worden waren. Eigentlich aber zweitrangig, da sein Großvater drei Apotheken sein Eigen nannte, dazu kamen das Privathaus und diverse Wohnungen und Ladenlokale, die er vermietet hatte. Insgesamt schätzte Roberto das Vermögen seines Opas auf ungefähr dreieinhalb Millionen Euro. Davon stünde ihm als Pflichtteil etwas mehr als Fünfhunderttausend zu … also, wenn alles zu Bargeld gemacht würde.

„Bist du noch da?“, fragte Antonio.

„Ja, entschuldige, ich …“

„Falls du gerade das Kopfrechnen angefangen hast, einen Teil meines Besitzes habe ich bereits als Schenkung an den Verein übertragen.“

Verdammt! Dann würde ja noch weniger bleiben. Roberto zwang sich zur Ruhe. „Ist ja jetzt nicht so wichtig. Die Trauung ist um halb eins, also hole ich dich vorher an den Stallungen ab. Bis dann.“ Roberto wartete die Antwort nicht mehr ab und legte auf. „Mierda!“ So eine Scheiße, denn mit einem Pflichtanteil von welchem Rest auch immer, den sein Opa noch nicht verschenkt hatte, käme er nicht weit. Es war so ungerecht. Würde sein Vater noch leben, hätte der einen Anspruch auf zwei Drittel und das stünde dann Roberto zu hundert Prozent zu.

Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief. Blöder Schweineverein!

***

Kopfschüttelnd steckte Antonio das Handy in die Hosentasche. War er eigentlich nur von habgierigen Ignoranten umgeben? Würde sein Enkel sich wirklich für die Zucht interessieren, hätte er schon vor einigen Jahren einmal für längere Zeit kommen und mitarbeiten können. Doch Stall­arbeiten hatte Roberto rigoros abgelehnt, weshalb Antonio ihn als möglichen Nachfolger für sein Zuchtunter­nehmen nie wieder in Betracht gezogen hatte. Der feine Herr saß ja lieber an irgendwelchen Pokertischen und verspielte Geld, das er nicht hatte.

Antonio hörte Schritte und drehte sich um.

„Ich habe Äpfel für Eduardo.“ Miquel schwenkte eine Tüte in seiner Hand.

Der hatte ihm gerade noch gefehlt. „Ich will deine Äpfel nicht.“ Antonio wandte dem Nachbarn den Rücken zu und ging in den Pferch zu seinem Eber Eduardo.