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Tausend und Ein Gespenst

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Vierter Band

Das Testament des Herrn von Chauvelin. 4

I.
Das Haus der Straße Vaugirard

Wenn man von der Straße Cherche-Midi nach der Straße Notre-Dame-des-Champs geht, so findet man zur Linien, einem Brunnen gegenüber, der die Ecke der Straße du Regard und der Straße Vaugirard bildet, ein kleines Haus, das in den Munizipalregistern der Stadt Paris unter No. 84 eingeschrieben ist.

Und jetzt, bevor wir weiter gehen, ein Geständniß, das ich zu machen zögerte. Dieses Haus, in welchem mich die offenherzigste Freundschaft fast bei meiner Ankunft aus der Provinz aufgenommen hat, dieses Haus, das mir drei Jahre lang ein brüderliches war, dieses Haus, an welches ich in allen Glücks- oder Unglücksfällen meines Lebens damals mit geschlossenen Augen geklopft hätte, gewiß, daß es sich meinen Thränen oder meiner Freude öffnen würde; dieses Haus bin ich, um seine topographische Lage meinen Lesern genau anzudeuten, so eben selbst genöthigt gewesen auf einem Plane der Stadt Paris wieder erstehen zu lassen.

Mein Gott! wer hätte mir das vor zwanzig Jahren gesagt.

Das kömmt daher, weil auch seit zwanzig Jahren so viele Ereignisse gleich einer immer steigenden Fluth den Menschen unserer Generation die Erinnerungen ihrer Jugend geraubt haben, so daß man sich nicht mehr mit dem Gedächtnisse erinnern muß, – das Gedächtniß hat seine Dämmerung, in welcher sich die fernen Erinnerungen verlieren, – sondern mit dem Herzen.

Wenn ich daher mein Gedächtniß bei Seite lasse, um mich in mein Herz zu flüchten, so finde ich darin, wie in einem geheiligten Tabernakel, alle die geheimen Erinnerungen wieder, welche eine nach der andern meinem Leben entschlüpft sind, wie das Wasser durch die Spalten einer Vase Tropfen vor Tropfen dringt, in dem Herzen gibt es keine immer finsterer werdende Dämmerung, sondern eine Morgenröthe, welche immer glänzender wird, das Gedächtniß richtet sich nach der Dunkelheit, das heißt nach der Vergänglichkeit, das Herz richtet sich nach dem Lichte, das heißt, nach Gott.

Kurz, dieses kleine Haus ist da, durch eine graue Mauer eingeschlossen, hinter welcher es sich halb versteckt, zu verkaufen, wie man mir sagt, bereit, den gastfreundlichen Händen zu entgehen, welche mir seine Thüren geöffnet haben! Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie ich dasselbe betreten habe; das führt uns, ich weiß es wohl, auf einem Umwege zu der Geschichte, welche ich Ihnen erzähle; aber gleichviel; folgen Sie mir, wir werden unterwegs plaudern, und ich werde trachten, daß Ihnen der Weg weniger lang scheint, als er es in der Wirklichkeit ist.

Es war, wie ich glaube, gegen das Ende des Jahres 1826. Wie Sie sehen, gab ich Ihnen nur zwanzig Jahre an, und jetzt ist es zwei und zwanzig Jahre her. Ich war so eben drei und zwanzig alt geworden.

Bei Veranlassung des armen James Rousseau habe ich Ihnen meine literarischen Träume erzählt. Im Jahre 1826 waren sie bereits weit ehrgeiziger geworden. Es war nicht mehr die Jagd und die Liebe, welche ich unter Mitarbeitung Adolphs von Leuven verfaßte; es war nicht mehr die Hochzeit und das Begräbnis, welche ich mit Vulpian und Lassagne schrieb, es war Christine, über welche ich allein träumte. Ein schöner Traum! ein ganz glänzender Traum, der mir in meinen jugendlichen Hoffnungen diesen Garten der Hesperiden öffnen sollte, einen Garten mit goldenen Früchten, dessen Drache die Kritik ist.

Inzwischen hatte mir armen Herkules die Göttin Necessitas eine Welt auf die Schultern gelegt. Was für eine boshafte Göttin Necessitas ist, welche nicht einmal, wie für Atlas, den Vorwand hatte, sich eine Stunde lang auszuruhen, indem sie mich erdrückte!

Nein, die Noth erdrückte mich, mich und so viele Andere, wie ich einen Ameisenhaufen zertrete. Warum? Wer weiß es? Weil ich mich unter ihrem Fuße befand, und weil, die Augen verbunden, die kalte Göttin mit eisernen Extremitäten mich nicht sah.

Diese Welt, welche sie mir auf die Schultern gelegt hatte, war mein Bureau.

Ich verdiente monatlich 125 Franken, und für 122 Franken monatlich war ich genöthigt, Folgendes zu thun:

Ich kam gegen zehn Uhr auf mein Bureau, ich verließ es um fünf Uhr; aber im Sommer kehrte ich um Sieben Uhr Abends dahin zurück, und verließ es um zehn.

Warum dieses Uebermaaß von Arbeit im Sommer, zu dieser Stunde, das heißt in dem Augenblicke, wo es so angenehm gewesen wäre, die reine Landluft oder die berauschende Atmosphäre der Theater einzuathmen?

Ich will es Ihnen sagen. Es war das Portefeuille des Herzogs von Orleans zu besorgen.

Dieser Adjutant von Dumouriez bei Jemappes und bei Valmy, dieser Geächtete von 1792, dieser Professor des Collegiums von Reichenau, dieser Reisende des Kap Horns, dieser Bürger Amerikas, dieser fürstliche Freund der Foys, der Manuels, der Laffittes und der Lafayettes, dieser König von 1830, dieser Geächtete von 1848, nannte sich zu jener Zeit noch, »Herzog von Orleans.«

Das war die glückliche Zeit seines Lebens; wie ich meinen Traum hatte, so hatte er den seinigen. Mein Traum war ein Erfolg; sein Traum war der Thron.

Mein Gott, sei dem Könige barmherzig! Mein Gott, gib dem Greise Frieden? mein Gott! gib dem Gatten und dem Vater alles das, was für ihn an väterlichem und ehelichem Glücke in den unendlichen Schätzen Deiner Güte noch aufbewahrt ist.

Ach! in Dreux habe ich diesen gekrönten Vater auf dem Grabe dieses Sohnes, der eine Krone tragen sollte, sehr bitterlich weinen sehen.

Nicht wahr, Sire, Ihre verlorene Krone hat Ihnen nicht so viel Thränen gekostet, als Ihr gestorbenes Kind?

Kommen wir auf den Herzog von Orleans und auf sein Portefeuille zurück.

Dieses Portefeuille enthielt die Briefe des Tages und die Zeitungen des Abends, welche nach Neuilly geschickt werden mußten.

Dann, wenn das Portefeuille durch einen Eilboten zu Pferde abgesandt war, so mußte man die Antwort abwarten.

Der zuletzt auf dem Bureau Angenommene war immer mit dieser Arbeit beauftragt, und da ich der Jüngste auf demselben war, so war sie mir zugefallen.

Mein Kamerad Ernst Bochet war mit dem Portefeuille des Morgens beauftragt.

Wir besorgten nach der Reihe das Sonntagsportefeuille.

Also, eines Abends, als ich zwischen dem Abgesandtenportefeuille und dem Portefeuille, das zurückkehren sollte, einige Verse von Christine schrieb, ging die Thür meines Bureaus auf, ein feiner Kopf mit blonden und gelockten Haaren streckte sich durch die Oeffnung, und eine Stimme mit etwas spöttischem Ausdrucke ließ in einem ein wenig schreienden Tone folgende drei Sylben hören:

– Bist Du da?

– Ja, antwortete ich rasch, tritt ein!

Ich hatte Cordellier Delanoue erkannt, der, wie ich, der Sohn eines alten Generals der Republik, wie ich, ein Dichter war. Warum ist es ihm in der Laufbahn, welche wir mit einander durchwandert haben, weniger gut geglückt, als mir? Ich weiß es nicht; er hat zuverlässig eben so viel Verstand, als ich, und er macht unbestreitbar bessere Verse, als ich.

Eine Laune des Zufalles, Alles ist auf dieser Welt Glück und Unglück; erst in dem Augenblicks unseres Todes werden wir wissen, wer von uns beiden, er oder ich, Glück oder Unglück gehabt hat.

Der Besuch Cordellier Delanoues war etwas Angenehmes. Wie alle Leute, welche ich geliebt habe, liebte ich ihn damals, liebe ich ihn noch jetzt; nur liebe ich ihn mehr, und ich bin überzeugt, daß es von seiner Seite eben so ist.

Er kam, mich zu fragen, ob ich nach dem Athenäum gehen wollte, um, ich weiß nicht welche gelehrte Abhandlung über, ich weiß nicht was zu hören.

Der Sprecher war Herr von Villenave.

Ich kannte Herrn von Villenave nur dem Namen nach; ich wußte, daß er eine geschätzte Uebersetzung des Ovid geliefert hatte, daß er ehedem Sekretär des Herrn von Malesherbes und Lehrer der Kinder des Herrn Marquis von Chauvelin gewesen war.

Zu jener Zeit waren das Schauspiel und die Zerstreuung etwas Seltenes für mich. Alle Thüren der Theater oder der Salons, welche sich seitdem vor dem Verfasser Heinrichs III. und der Christine geöffnet haben, waren damals noch dem mit dem Abendportefeuille des Herrn Herzogs von Orleans beauftragten Commis mit 1500 Franken Gehalt verschlossen. Ich nahm es an, bat aber Delanoue, mit mir die Rückkehr des Eilboten zu erwarten.

Inzwischen las er mir eine Ode vor, die er so eben gemacht hatte. Das war eine Vorbereitung für die Sitzung des Athenäums.

Der Eilbote kehrte zurück, ich war frei und wir gingen nach der Straße Valois.

Ihnen zu sagen, an welchem Orte der Straße Valois das Athenäum seine Sitzungen hielt, wäre mir unmöglich, wie ich glaube, war dieses Mal das Einzige, daß ich hin ging. Ich bin niemals ein sehr großer Freund von diesen Versammlungen gewesen, in denen eine einzige Person spricht, und in denen Jedermann zuhört.

Die Sache, über welche man spricht, muß sehr interessant oder sehr unbekannt sein; der, welcher über diese Sache spricht, muß sehr beredt oder sehr pittoresk sein, damit ich an dieser Rede ohne Einrede, bei welcher der Widerspruch eine Unschicklichkeit, die Kritik eine Unhöflichkeit ist, einen Reiz finde.

Ich habe niemals einen Redner, welcher spricht, oder einen Prediger, welcher Predigt, bis ans Ende anhören können. Es gibt immer einen Punkt seiner Rede, an welchem ich mich anklammere, und der mich einen Halt in meinen eigenen Gedanken machen läßt, während er seinen Weg fortsetzt. Einmal angehalten, fasse ich die Sache natürlicher Weise aus meinem Gesichtspunkte auf, so daß ich meine Rede oder meine Predigt im Stillen halte, während er sie laut hält. Beide an das Ziel gelangt, befinden wir uns beide oft Hundert Meilen weit auseinander, obgleich wir von demselben Punkte ausgegangen sind.

 

Dem ist eben so mit Theaterstücken. Es sei denn, daß ich einer ersten Vorstellung eines für Arnal, für Grassot oder für Ravel geschriebenen Stückes beiwohne, das heißt, eines Werkes, das gänzlich außer meinen Gewohnheiten liegt, und zu dessen Anfertigung ich offenherzig mein Unvermögen anerkenne, bin ich der schlechteste Zuschauer einer ersten Vorstellung den es auf der Welt gibt. Wenn das Stück eine Erfindung ist, so sind die Personen kaum aufgetreten, als sie nicht mehr die des Verfassers, sondern die Meinigen sind. In dem ersten Zwischenakte nehme ich sie, eigne ich sie mir an. Statt dem Unbekannten, das mir in den vier andern Akten kennen zu lernen übrig bleibt, führe ich sie in vier Akte von meiner Composition ein; ich verwende ihren Charakter, ich benutze ihre Orginalität; wenn der Zwischenakt nur zehn Minuten dauert, so ist das mehr, als ich bedarf, um Ihnen das Kartenschloß zu bauen, in welches ich Sie führe, und es geht mit meinem dramatischen Kartenschlosse wie mit der Rede oder mit der Predigt, von denen ich so eben sprach. – Mein Kartenschloß ist fast niemals das des Verfassers; so daß, da ich aus meinem Traume eine Wirklichkeit gemacht habe, die Wirklichkeit mir wie ein Traum erscheint; ein Traum, den ich ganz bereit bin zu bekämpfen, – indem ich sage: »So ist es nicht, Herr Arthur; – so ist es nicht, Fräulein Honorine. – Sie gehen zu rasch oder zu langsam; – Sie wenden sich zur Rechten, statt zur Linken, – Sie sagen ja, wo Sie nein sagen müßten. – O! o! o! das ist ja unerträglich.«

Bei historischen Stücken ist es noch schlimmer. – Ich mache mein Stück natürlicher Weise ganz nach dem Titel, – und, da es natürlicher Weise mit meinen Mängeln gemacht ist, das heißt mit Ueberfluß der einzelnen Umstände, gänzlicher Strenge des Charakters, doppelter, dreifacher, vierfacher Intrigue, – so ist es sehr selten, daß mein Stück im Mindesten dem gleicht, welches man vorstellt. – Was mir ganz natürlicher Weise eine Marter aus dem macht, was für die andern eine Belustigung ist.

Da sind meine Collegen jetzt benachrichtigt; wenn sie mich zu ihren ersten Vorstellungen einladen, so wissen sie jetzt unter welcher Bedingung.

Ich that an jenem Abende mit Herrn von Villenave das, was ich bei Jedermann thue; da ich indessen in dem letzten Viertel seiner Rede ankam, so begann ich damit, ihn zu betrachten, statt ihn anzuhören.

Er war groß, damals ein Greis von vier bis fünfundsechzig Jahren, mit schönen silberweißen Haaren, mit bleicher Gesichtsfarbe, mit schwarzen und feurigen Augen, er hatte in seinem Anzuge jene Art zerstreuter Sorgfalt der arbeitsamen Männer, welche sich wöchentlich nur ein oder zwei Mal ankleiden, nicht mehr, und die während der übrigen Zeit in einem alten Beinkleide, einem alten Schlafrocke und alten Pantoffeln in dem Staube ihres Arbeitszimmers bleiben. Diese Toilette der wichtigen Tage mit dem fein gefältelten Hemde, mit dem Busenstreif, mit der gebügelten Halsbinde, bereitet die Frau oder die Tochter, kurz die Haushälterin des Hauses zu. Daher rührt diese Art von Protestation, welche diese wohl ausgeklopfte, wohl ausgebürstete Toilette gegen die tägliche Toilette ausspricht, die einen Abscheu gegen den Rohrstock und gegen die Bürste hat.

Herr von Villenave trug einen blauen Frack mit vergoldeten Knöpfen, ein schwarzes Beinkleid, eine weiße Weste und eine weiße Halsbinde.

Welche seltsame Maschine der Gedanke, das geistige Räderwerk ist, die wider unsern Willen geht oder stehen bleibt, weil es die Hand Gottes ist, welche sie aufzieht, eine Uhr, welche nach seiner Laune die Stunden der Vergangenheit und zuweilen die der Zukunft schlägt.

Bei was war mein Gedanke stehen geblieben, als ich Herrn von Villenave sah? war es, wie ich so eben sagte, an einer Stelle seiner Rede? nein, es war bei einem Punkte seines Lebens.

Ich hatte ehedem, – wo? ich wußte es nicht, – eine im Jahre 1794 von Herrn von Villenave herausgegebene Brochüre gelesen unter dem Titel: Erzählung der Reise von Hundert zwei und dreißig Nantesen.

An diese Episode aus dem Leben des Herrn von Villenave hatte sich mein Geist gefesselt, als ich Herrn von Villenave zum ersten Male sah.

In der That, Herr von Villenave hatte im Jahre 1793 Nantes bewohnt, das heißt, zu gleicher Zeit mit Johann Baptist Carrièr blumigen Andenkens.

Dort hatte er den Proconsul, welcher die Urtheile zu lang und die Guillotine zu langsam fand, die außerdem nutzlosen Processe, da sie niemals den Schuldigen retteten, aufheben und an die Stelle der Guillotine, Schiffe mit Klappen einrichten sehen; vielleicht war er auf dem Kai der Loire, als Carrièr am 15. September 1793 als ersten Versuch seiner republikanischen Badereien und seiner vertikalen Deportationen (das war der Name, welchen er der neuen, von ihm erfundenen Hinrichtungsart gab), vierundneunzig Priester unter dem Vorwande einschiffen ließ, sie nach Belle-Isle zu bringen; vielleicht war er an dem Ufer des Flusses, als der entsetzte Fluß die vierundneunzig Leichen der Gottesmänner auf seine Ufer zurückwarf; vielleicht empörte er sich damals bei diesem Schauspiele, welches nach Verlauf von einiger Zeit, indem es sich jede Nacht erneuerte, das Wasser des Flusses in dem Grade verdorben hatte, daß man verbot, es zu trinken; vielleicht half er, noch weit unvorsichtiger Weise irgend einem dieser ersten Opfer, denen so viele Opfer folgen sollten, das Begräbnis zu geben, aber es halte sich zugetragen, daß Herr von Villenaue eines Morgens verhaftet, in das Gefängniß geworfen und gleichfalls wie seine Gefährten bestimmt worden war, seinen Beitrag zur Verderbung des Flusses zu geben, als Carrièr sich eines andern besonnen hatte; er hatte eine Auswahl von Hundert zwei und dreißig Gefangenen getroffen, die alle verurtheilt waren, und sie nach Paris als eine Huldigung der Schaffotte der Provinz für. die Guillotine der Hauptstadt gesandt; dann, als sie aufgebrochen waren, war Carrièr nochmals anderen Sinnes geworden, die Huldigung hatte ihm ohne Zweifel nicht genügend geschienen, und er hatte dem Kapitän Boussard, dem Commandanten der Bedeckung, den Befehl gesandt, seine Hundert und zwei und dreißig Gefangene bei seiner Ankunft in Ancenie erschießen zu lassen.

Boussard war ein wackerer Mann, der nicht darauf achtete, und der seinen Weg nach Paris fortsetzte.

Als Carrièr das erfuhr, sandte er dem Conventsmitgliede Hentz, welcher Proconsul in Angers war, den Befehl, Boussard bei seiner Durchkunft zu verhaften und die Hundert und zwei und dreißig Nantesen in's Wasser werfen zu lassen.

Hentz ließ Boussard verhaften; als es sich aber darum handelte, die Hundert und zwei und dreißig Gefangenen zu ersäufen, schmolz das Erz seines revolutionären Herzens, das, wie es scheint, nicht dreifach war, und er befahl den Opfern, ihren Weg nach Paris fortzusetzen.

Was Carrièr sagen ließ, indem er verächtlich den Kopf schüttelte: Ein armseliger Ersäufer, dieser Hentz, ein armseliger Ersäufer!

Die Gefangenen setzten daher ihre Reise fort. Von den Hundert zwei und dreißig kamen sechsunddreißig um, bevor sie nach Paris gelangten, und die sechsundneunzig, welche ankamen, kamen glücklicher Weise für sie gerade zur rechten Zeit an, um als Zeugen in dem Processe Carrièrs auszusagen, statt als Angeklagte in ihrem eigenen Processe zu antworten.

Das kam daher, weil der neunte Thermidor herbeigekommen war, weil der Tag der Repressalien angebrochen war, weil die Reihe, gerichtet zu werden, für die Richter kam, und weil der Convent nach einem Monate des Zögerns den großen Ersäufer in Anklagestand versetzt hatte.

Daraus ging hervor, daß ich bei der Erinnerung an die Brochüre, welche Herr von Villenave vor fünfunddreißig Jahren in seinem Gefängnisse herausgegeben halte, die Kette der Vergangenheit wieder hinaufgegangen war, und daß das, was ich sah, daß das, was ich hörte, nicht mehr eine literarische, von einem Professor des Athenäums ausgesprochene Rede war, sondern eine schreckliche, kräftige, tödtliche Anklage des Schwachen gegen den Starken, des Angeklagten gegen den Richter, des Opfers gegen den Henker war.

Und so groß ist die Gewalt der Einbildungskraft, daß Saal, Zuschauer, Rednerbühne, Alles sich umgestaltet hatte, daß der Saal des Athenäums der Saal des Convents geworden war, daß die friedlichen Zuhörer in erzürnte Rächer verwandelt waren, und daß der beredte Professor mit freundlichen Worten eine öffentliche Anklage donnerte, indem er den Tod Carrièrs verlangte und sich beklagte, daß er nur ein einziges, unzulängliches Leben hatte, um die fünfzehn Tausend Leben zu bezahlen, die er zerstört hatte.

Und ich sah Carrièrs mit seinem finsteren Blicke, wie er die Anklage mit seinem Blicke vernichtete, und ich hörte ihn, wie er mit seiner schneidenden Stimme seinen ehemaligen Collegen zurief:

– Warum mich heute über das tadeln, was Ihr mir gestern befahlet? Indem Ihr mich anklagt, klagt der Convent sich an; meine Verurtheilung ist die Verurtheilung von Euch Allen; bedenkt es, Ihr Alle werdet in der Achtserklärung begriffen sein, welche mich treffen wird. Wenn ich strafbar bin, so ist Alles hier strafbar; ja, Alles, Alles, Alles, bis auf die Glocke des Präsidenten!. . .«

Und trotz dem stimmte man ab; trotz dem wurde er verurtheilt. Derselbe Schrecken, der in der Schreckenszelt angetrieben hatte, trieb in der Zeit der Gegenwirkung an, und nachdem sie das Blut der Verurtheilten getrunken trank die Guillotine gleichgültig das Blut der Richter und der Henker!

Ich hatte den Kopf in meine Hände sinken lassen, wie als ob es mir widerstanden hatte, so entsetzlich mörderisch dieser Mann auch war, ihm den Tod geben zu sehen, den er so freigebiger Weise über die Menschheit verbreitet hatte.

Delanoue klopfte mir auf die Achsel.

– Es ist beendigt, sagte er.

– Ah! antwortete ich, er ist also hingerichtet?

– Wer?

– Dieser abscheuliche Carrièr.

– Ja, ja, ja, sagte Delanoue, und es ist jetzt bald vier und dreißig Jahre her, daß sich dieses kleine Unglück zugetragen hat.

– Ah! sagte ich zu ihm, Du hast sehr wohl gethan, mich zu wecken! ich hatte einen schweren Traum.

– Du schliefst also?

– Ich träumte zum Mindesten.

– Den Teufel? das werde ich Herrn von Villenave nicht sagen, zu dem ich Dich führe, um eine Tasse Thee zu trinken.

– Ah! Du kannst es ihm sagen, thue es! Ich werde ihm meinen Traum erzählen, und er wird nicht bös auf mich sein.

Hierauf führte mich Delanoue, der noch ungewiß war, ob ich wirklich oder nicht recht erwacht wäre, aus dem leeren Saale in ein kleines Wartezimmer, in welchem Herr von Villenave die Glückwünsche seiner Freunde empfing.

'Dort angelangt, wurde ich zuerst dem Herrn von Villenave, dann Frau Melanie Waldor, seiner Tochter, dann Herrn Theodor von Villenave, seinem Sohne vorgestellt.

Hierauf gingen Alle zu Fuß über den Pont-des-Arts nach der Faubourg Saint-Germain.

Nach einer halben Stunde Weges waren wir angekommen, und wir verschwanden einer nach dem andern in diesem Hause der Straße Vaugirard, von welchem ich im Anfange dieses Kapitels gesprochen habe, und von dessen Innern ich eine Beschreibung zu geben versuchen will, nachdem ich das Aeußere flüchtig geschildert habe.

4Wie wir bereits erwähnt, bestehen »Tausend und ein Gespenst« aus Erzählungen ohne nothwendigen Zusammenhang, so bildet das Testament des Herrn von Chauvelin, wiewohl unter dem gemeinsamen Titel erscheinend, einen unabhängigen Band.