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LX
Aechte und falsche Thränen

Vielleicht hat unser Leser, der einen ganzen Horizont umfaßt, während wir genöthigt waren, unseren Hauptpersonen auf den Wegen und Umwegen ihrer Odyssee zu folgen, sich schon gefragt, wie es in dieser gräßlichen Nacht dem armen Rétif de la Bretonne ergangen sei.

Wir kommen hierzu, Leser; und indeß Christian, Besitzer des Schlüssels, den der Graf von Artois den Schlüssel des Glückes nennt, die sterbende Ingénue in eines von den kleinen Häusern trägt, die der Prinz seinem Pagen angeboten hatte, werden wir umkehren und natürlich auf unserem Wege den würdigen Romanendichter finden.

Während dieser fürchterlichen Verwüstung, welche den Faubourg Saint – Antoine völlig untereinander warf, Paris in Bewegung und Versailles in Schrecken setzte, machte es Rétif de la Bretonne wie es die Schiffbrüchigen in dem Augenblicke machen, wo der Kapitän der Mannschaft und den Passagieren ankündigt, in zehn Minuten werde das Schiff untersinken: er suchte seine Gedanken zu sammeln und zu retten, was er Kostbarstes hatte.

Vor Allem sein Leben! Rétif lag viel hieran; das war für ihn, den Philosophen, das Princip alles Glückes; und da er ein wenig Skeptiker hinsichtlich der andern Welt, so wünschte er so lange als möglich im Besitze von dieser zu bleiben.

Rétif rettete also vor Allem sein Leben.

Sodann, als sein Leben gerettet war, schaute er umher und fragte sich, welche Dinge er mit seinem Leben retten sollte.

Das Erste, was sich seinem Geiste, seinem Herzen bot, war seine Tochter, seine vielgeliebte Ingénue.

Ingénue war aber abwesend; folglich lief sie keine Gefahr.

Als dann dachte er an seine Manuscripte, das heißt an seine anderen Kinder, an die ihm nach Ingénue theuersten Kinder: das Beispiel von Camoens und mehreren anderen großen Dichtern war nicht zu vernachlässigen.

Rétif, der schleunigst hinabgegangen war, um die Gefahr von unten zu ermessen, versicherte sich, daß die Treppe noch solid, stieg wieder in seinen dritten Stock hinauf und raffte eine Quantität beschriebene Papiere von wenig angenehmem Aussehen zusammen, welche Papiere aber die Flamme sicherlich eben so wenig verschont hätte, als das Wasser des indischen Meeres die Lusiade.

Er rollte diese Papiere zusammen und nahm sie unter seinen Arm; dann leerte er in seine weiten Taschen, die sich rundeten und seinen Ueberrock aufhoben, eine Schachtel voll assortirte Druckschrift.

Als er sodann sah, daß das, was er zurückließ, gerettet zu werden nicht der Mühe werth war, daß er wie Bias Alles mit sich nahm, stieg er wieder die Treppe hinab, ging durch die Gartenthüre, und entfloh wie ein Dieb, der verhaftet zu werden befürchtet, weil er, da viele Leute das Haus von Réveillon zu plündern ansingen, streng genommen für einen Plünderer gelten konnte; und der Geist des redlichen Romanendichters empörte sich schon beim Gedanken allein, man könnte in Betreff seiner einen solchen Irrthum begehen.

Sobald er, athemlos, aber das Herz ruhig – denn errettete nicht nur seine Probebogen, sondern auch ein hinreichendes Quantum Schrift, um andere zu machen, – fern vom Ofen war, setzte er sich auf einen Weichstein und schenkte einen Malerblick dem Effecte des Brandes und dem Gemälde der Volkswuth; wonach er behende den benachbarten Straßen zuschritt, um sich völlig in Sicherheit zu bringen.

Er hatte die ersten Schüsse der Gardes francaises gehört, und er erinnerte sich mit einem gewissen Schrecken des Gewehrfeuers vom Pont-Neuf.

Was blieb ihm zu thun, dem guten Rétif?

Er hatte nur zu warten.

Welche Idee würde seine Tochter haben, wenn sie nach Hause käme oder wenn sie vielmehr nicht nach Hause kommen könnte?

Ihren Vater überall zu suchen, wo er wäre.

Wo wäre er?

Der Hase kehrt in sein Lager zurück. Rétif war in gewisser Hinsicht von der Natur der Hasen: in seinem alten Lager würde ihn also seine Tochter suchen.

Welches war dieses alte Lager?

Die kleine Wohnung der Rue des Bernardins.

Diese kleine Wohnung bot sich auch ganz natürlich dem Gedächtnisse von Rétif.

So sehr er seit einem Monat an den Luxus und den Comfort des Hauses Réveillon gewöhnt war, der Romanendichter hatte die Freuden und die Leiden des unabhängigen Mannes nicht vergessen; die einen und die andern waren unzertrennlich von der Erinnerung an diese arme kleine Wohnung; Rétif erinnerte sich derselben auch nicht sobald, als er sein Gedächtniß befragte.

Er schlug also maschinenmäßig, und als ob er es nie verlassen hätte, den Weg nach seinem alten Quartier ein.

Es war noch nicht ganz Nacht geworden, als er hier ankam. In Ermangelung eines Concierge, – die Concierges waren zu jener Zeit in den meisten Häusern von Paris noch unbekannt, – kam einer von den Miethsleuten auf seine Schläge mit dem Klopfer herab und öffnete ihm die Thüre; der im ersten Stocke wohnende Hauseigenthümer, bei welchem Rétif Halt machte, hörte nicht nur mit Neugierde, sondern mit Interesse die Erzählung der Ereignisse des Tages, und da Rétif immer so regelmäßig als möglich seine Zieler bezahlt, da er das Haus Verlassen hatte, ohne irgend einem Menschen einen Pfennig schuldig zu sein, so kam der Hauseigenthümer den Wünschen von Rétif entgegen und bot ihm an, er möge seine alte Wohnung, welche vacant geblieben, wieder beziehen, was Rétif annahm.

Mehr noch: da die Wohnung völlig von jedem Meuble entblößt war, so trieb der Hausherr das Vertrauen so weit, daß er Rétif zwei Stühle anbot, einen für ihn, einen für seine Tochter, bis sich Rétif mit Hilfe seines Buchhändlers wieder ein anderes Ameublement angeschafft hätte.

Rétif begab sich also in seinen vierten Stock, in einer Hand ein Licht, in der andern einen Stuhl tragend, und gefolgt vom Hauseigenthümer selbst, der den zweiten Stuhl trug.

Als sie in die Wohnung eingetreten waren, machte der Hausherr seinem alten Miethsmanne bemerkbar, er habe seine Abwesenheit benützt, um eine neue Tapete ankleben zu lassen, was er übrigens zur Zeit von Rétif nicht gethan, obgleich ihn Rétif, da die alte Tapete in Fetzen zerfallen war, oft darum gebeten hatte.

Das war eine von den abscheulichen grauen Tapeten, wie sie die Hauseigenthümer gewöhnlich in den Wohnungen der dritten und vierten Stockwerke anwenden.

Rétif lobte diese Tapete sehr, denn er wünschte, daß ihm der Hausherr, außer seinen zwei Stühlen, noch einen Tisch leihe.

Lassen wir dem Hausherrn die Gerechtigkeit widerfahren, daß er auf die erste Bitte, die an ihn gerichtet wurde, Rétif einlud, hinabzugehen und selbst den Tisch, der ihm anstünde, zu wählen.

Rétif ging hinab und nahm einen sehr einfachen, aber mit zwei Schubladen versehenen Tisch; alsdann brachte er, immer mit Hilfe des Eigenthümers, den Tisch in den vierten Stock.

Wonach sich der Hausherr, Rétif seine anderen Dienste anbietend, zurückzog.

Rétif geleitete den Hauseigenthümer bis an die Thüre, grüßte ihn, wartete, bis er einen Stock hinabgestiegen war, kehrte zurück, machte die Thüre hinter ihm zu, zog die beiden Schubladen aus dem Tische, und leerte die Schrift darein, mit der seine zwei Taschen vollgestopft waren.

Wieder aufgeheitert durch die Idee, nichts widersetze sich mehr dem, daß er arbeiten könnte, ging er sodann eine Zeit lang auf und ab, – seine Tochter erwartend und nicht bezweifelnd, so gut kannte er seine Ingénue, sie werde jeden Augenblick kommen.

Und dennoch verstrich die Zeit.

Doch, ein Mann von Einbildungskraft, supponirte Rétif Alles, um einen Verzug zu entschuldigen: den Schmerz der Demoiselles Réveillon, denen das zarte Herz von Ingénue Hilfe leisten würde; die Einsamkeit, in der sich die armen Mädchen befänden; die Sperrung der Straßen, die Entfernung der zwei Quartiere; Rétif ging endlich so weit, daß er sogar Gefahren annahm.

Was ihn aber hauptsächlich beruhigte, das war die Gegenwart von Auger im Hause: der Mann wachte über die Frau, und es werde, Dank sei es diesem Schutze, ohne Zweifel Ingénue jeden Augenblick frisch und gesund zurückkommen.

Es schlug halb zehn Uhr Abends, ohne daß Rétif ernstlich in Unruhe gerathen war.

Uebrigens hatte Rétif, um keine Zeit zu verlieren, ein paar Seiten über den Brand und die Plünderung zu setzen angefangen; da er aber keine geschichtliche Erzählungen machen konnte, denn die Preßfreiheit war entfernt noch nicht vollkommen, da er überdies mit den glühenden Leidenschaften des Augenblicks den schmerzlichen und nur zu reellen Brand des Aufruhrs wieder zu schüren befürchtete, so suchte und fand Rétif ein sinnreiches Mittel, das, was vorgefallen, zu erzählen, darin, daß er den Brand eines Schlosses auf dem Lande beschrieb. Er ersetzte die Aufrührer durch Dorfbewohner in Schlarren und die Kasse durch einen Futterboden; er nannte Scheunen die Werkstätten und machte eine sehr rührende Erzählung vom Einsturze der in Flammen stehenden Schafställe und dem kläglichen Blöken der Herden; Réveillon endlich verwandelte er in einen schlechten Gutsherrn, was seiner Novelle ein wenig Körper gab.

Rétif schrieb, wie man weiß, nicht, sondern er setzte sogleich; er war schon ganz erhitzt durch seine Arbeit, er sing an den wahren Brand über dem falschen zu vergessen, selbst Ingénue zu vergessen, als die Thüre des Zimmers sich öffnete und ein Mann, ganz keuchend, ganz athemlos, wie eine Lawine hereinstürzte.

Bei dem Geräusche, das dieser Mann eintre tend machte, schaute Rétif empor, und er erkannte Auger.

Auger war bleich; er hatte hohle Augen mit blauen Ringen, einen kurzen Athem und schlotterige Beine; seine Haare waren in Unordnung; man sah, daß er viel hatte laufen müssen, und er schien noch laufen zu wollen, als ob dieses Zimmer, statt ihm das Hinderniß seiner vier Wände zu bieten, eine gränzenlose Ebene gewesen wäre.

»Sie! Sie!« rief Auger, indem er sich auf Rétif warf, um ihn zu umarmen.

 

»Allerdings ich,« erwiederte der gute Mann; »suchten Sie mich denn nicht?«

»Doch . . .«

»Und Sie haben errathen, ich sei nach meiner alten Wohnung zurückgekehrt?«

»Ich habe das errathen . . . ja,« stammelte Auger.

»Sie sind aber nicht allein?« fragte Rétif besorgt.

»Wie, nicht allein?«

»Nein . . . Ingénue? . . .«

»Ach!«

»Wo ist sie?«

»Ah!« rief Auger, Niedergeschlagenheit heuchelnd.

Und er setzte sich oder sank vielmehr auf den zweiten Stuhl.

»Ingénue! Ingénue! wo ist Ingénue?« wiederholte der arme Vater mit zunehmender Dringlichkeit.

Bei dieser Frage stieß Auger nicht einen Seufzer, sondern ein Geheul aus.

Rétif reckte die Ohren aus.

»Nun?« fragte er.

»Ah! armer Vater!« seufzte Auger.

»Sprechen Sie doch!«

»Ingénue . . .« »Was?«

»Wenn Sie wüßten!«

Rétif verließ seinen Winkelhaken und stand von seinem Stuhle auf.

Er fühlte um sich her den Wind eines Mißgeschickes, den Flügel des Unglücksvogels.

Auger seufzte und wehklagte fortwährend. »Reden Sie!« sagte Rétif mit jener ganz spartanischen Festigkeit, die in ihrer Seele beim Herannahen großer Mißgeschicke diejenigen, welche die Fähigkeiten ihres Geistes, das heißt, ihrer Seele geübt, gefunden haben, finden und immer finden werden.

»Was soll ich Ihnen sagen?«

»Aber wo ist sie denn?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie! Sie wissen nicht, was aus meiner Tochter geworden ist?« rief der erschrockene Vater.

»Nein.«

Rétif schaute seinen Schwiegersohn starr an.

»Sie wissen es!« sprach nach einem Stillschweigen der Greis, der die Verlegenheit in den Zügen des Elenden gelesen hatte.

»Aber . . .«

»Sie wissen es!« wiederholte er mit noch mehr Nachdruck, »und Sie müssen es mir auf der Stelle sagen, was auch die Kunde sein mag, die Sie mir mitzutheilen haben.«

Auger erhob sich wie ein Mensch, der alle seine Kräfte zu Hilfe ruft.

»Sie wollen es also?« fragte er.

»Ich will es,« antwortete Rétif.

»Nun wohl, Sie wissen, daß mir insbesondere bei Herrn Réveillon, – außer den andern Functionen, mit denen mich sein Vertrauen bekleidet hatte, – die Bewachung der Kasse übertragen war?«

»Ja.«

»Sie wissen, daß Ingénue gegen Mittag oder um ein Uhr ausgegangen war?«

»Ja, wahrscheinlich mit den Demoiselles Réveillon.«

»Ich weiß nicht, mit wem.«

»Gleichviel, fahren Sie fort.«

»Nun wohl, es scheint, daß sie zurückgekommen ist, und daß sie in diesen Theil des Gebäudes eindringen wollte.«

»Warum sagen Sie, es scheint?« fragte Rétif.

»Ich sage, es scheint, weil man nicht ganz sicher ist . . .«

»Man ist nicht ganz sicher?«

»Man weiß nicht . . .«

»Ah! sagen Sie doch rasch, was man weiß oder was man nicht weiß?« rief Rétif mit einer Energie, welche Auger erbleichen machte.

»Nun,« fuhr Auger fort, »die Kasse ist verbrannt; ich wollte in dieselbe eindringen, um einige Werthe, sei es vor dem Brande, sei es vor der Plünderung zu retten; als ich aber an Ort und Stelle kam, sah ich die Plafonds einstürzen, und ich fand nichts als . . .«

»Was?« fragte Rétif keuchend.

»Nichts als den Leib!« stammelte Auger mit erstickter Stimme.

»Den Leib von wem?« rief der Greis mit einer Betonung, welche sich nicht beschreiben läßt, und die für den Bösewicht, so niederträchtig er auch war, der Vorgeschmack der Qualen, die ihm die Ewigkeit vorbehielt, sein mußte; »den Leib meiner Tochter?«

Auger neigte das Haupt und schwieg.

Rétif stieß einen dumpfen Fluch aus und fiel auf seinen Stuhl zurück.

Allmälig begriff er den ganzen Umfang seines Unglückes; er verfolgte Schritt für Schritt, mit dem unseligen Scharfsinne des Menschen von Einbildungskraft, das gräßliche Drama, von dem ihm sein Schwiegersohn nur einen Theil entrollt hatte.

Und da er rasch zur schmerzlichen Entwicklung kam, so wandte er sich gegen Auger um und fragte:

»Sie war todt?«

»Entstellt, unkennbar, vernichtet!, aber, ach! ich habe sie nur zu wohl erkannt!« fügte der Mörder bei, der sich beeilte, die Erzählung kurz abzuschneiden, als wollte er zugleich seine Gewissensbisse kurz abschneiden.

Rétif ließ sich sodann, mit der Beharrlichkeit und der Verzweiflung der gebrochenen Herzen, den Einsturz, den Brand, den Ruin des Hauses erzählen; und nachdem er Alles mit den Augen der Einbildungskraft wohl gesehen hatte, schaute er Auger an. als wollte er in seine Augen einen letzten Reflex des entsetzlichen Bildes, das er betrachtet, nehmen.

Gelähmt, gebrochen, ließ er sich sodann gehen und weinte.

Auger lief auf seinen Schwiegervater zu, drückte ihm die Hände, nahm ihn in seine Arme, vermengte seine Thränen mit denen des Greises; und als er diese Pantomime lange genug gespielt zu haben glaubte, sagte er:

»Lieber Herr Rétif! wir haben wirklich Beide dieses Unglück erlitten; wir müssen es mit einander zu ertragen suchen. Nachdem Sie Ihre Tochter verloren, betrachten Sie sich als einen Mann, der noch einen Sohn hat, welchem Sie, wenn nicht die Freundschaft, die Sie für Ingénue hegten, doch ein wenig Zuneigung gewähren werden.«

»Oh!« entgegnete Rétif, »nicht einmal eine zweite Tochter würde diese ersetzen, Auger!«

»Ich werde Sie so gut pflegen! ich werde für Sie so gut und ergeben sein, daß Sie wieder Muth fassen müssen,« sagte der Elende.

»Nie.«

»Sie werden sehen.«

Rétif schüttelte zum zweiten Male den Kopf, jedoch schmerzlicher als das erste Mal.

»Wie,« sprach Auger sichtbar beunruhigt, »Sie würden mich wegjagen? . . . Habe ich nicht auch Alles verloren, und mein Schmerz sollte Ihnen nicht eines kleinen Mitleids würdig scheinen?«

»Ach!« seufzte Rétif, unwillkürlich seinen Schmerz mit dem vergleichend, was der Schmerz von Auger sein mußte.

»Nun wohl,« sagte Auger, »berauben Sie mich nicht des Trostes, den mir Ihre Gegenwart bringen soll, und da ich schwächer bin als Sie, so unterstützen Sie mich durch Ihr gutes Beispiel und Ihre Festigkeit.«

Es muß eine große Macht in der Schmeichelei liegen, daß sie oft die Empfindsamkeit überwiegt. Rétif schöpfte aus dieser wirklichen oder scheinbaren Superiorität eine Stärke, der er sich nicht fähig hielt: er reichte die Hand seinem Schwiegersohne und berührte, – ein armes durch den Anschein getäuschtes Herz, – diese Hand, die seine Tochter gemordet hatte.

»Sehen Sie,« sagte Auger, »ich, der ich nur mit meinen Armen oder mit meinem Instincte arbeite, ich werde in den Lebensverhältnissen nicht leiden, wie Sie, der Sie mit Ihrem Kopfe arbeiten; ich werde wohl immer einen Schlüssel in einem Schlosse drehen, und immer eine Addition oder eine Arbeiterrevue machen; ich werde wohl immer eine Tapete aufrollen; ich werde folglich leben, während Sie in Ihren Arbeiten unterbrochen werden können.«

»Guter Auger!«

»Also,« rief dieser mit einem so freudigen Ausdrucke, daß Rétif nicht umhin konnte, den Kopf aufzurichten, um ihn anzuschauen, »also, lieber Herr Rétif, wir werden mit einander wohnen?«

»Ja,« sprach Rétif.

Man begreift, welches Interesse Auger hatte, bei Rétif zu wohnen und auf das Beste mit ihm zu sein. Wie hätte man annehmen sollen, der Mörder der Tochter wäre der Freund des Vaters geblieben?

Und dennoch verschwand unter dem Blicke von

Rétif dieser Blitz der Freude alsbald vom Gesichte von Auger, um einer Affectation von düsterer Traurigkeit Platz zu machen.

Und da er nicht weinen konnte, als hätte Gott gewollt, daß die Thränen, diese heilige Gabe der Gottheit, nur für einen wahren Schmerz fließen können, so flüchtete er sich in die Seufzer und die Verzerrungen.

Rétif sah sich genöthigt, den schändlichen Bösewicht, der seine Tochter ermordet, zu trösten.

Dieser übertriebene Schmerz brachte indessen eine glückliche Wirkung auf den seinen hervor: er besänftigte ihn für einen Augenblick.

Und nach einigen Anordnungen, die darin bestanden, daß man zwei Gurtbetten vom benachbarten Trödler, den man zu diesem Ende aufweckte, heraufbringen ließ, quartierte Auger seinen Schwiegervater in ein Zimmer ein und legte sich in das andere.

Von hier aus konnte er, mit trockenem Auge und häßlich lächelndem Gesichte, die wahren Thränen hören, welche frei und stürmisch aus dem zerrissenen Herzen des ehrlichen Rétif hervordrangen.

Ohne Zweifel ärgerten ihn diese Thränen, weil sie zu lange dauerten und ihn zu schlafen verhinderten.

LXI
Der erste Probebogen von einem neuen Roman von Rétif de la Bretonne

Die gute Haushaltung des Vaters und des Schwiegersohnes machte großes Aufsehen im Quartier und verursachte hier, man muß es sagen, eine allgemeine Bewunderung.

Das beklagenswerthe Abenteuer von Ingénue verbreitete sich sehr rasch; Jeder hatte sie gekannt, und dieser so unglückliche und unerwartete Tod verdoppelte das Interesse, das schon die Katastrophe einflößte, dessen Opfer das Haus Réveillon gewesen war.

Es war für Rétif de la Bretonne eine Art von Thränentriumph, wenn er durch die Straße ging.

Es war für den Schwiegersohn ein Tugendtriumph, wenn man ihn, bei ihren seltenen Spaziergängen, den Arm seinem Schwiegervater geben und diesem gegenüber alle Sorgsamkeit des zärtlichsten Sohnes affectiren sah.

So vergingen acht Tage.

Während dieser acht Tage waren, wie man sich leicht denken kann, das Herz und der Geist des armen Vaters dem schmerzlichsten Grame preisgegeben.

Er hatte sich eine so süße Gewohnheit daraus gemacht, Ingénue zu lieben, und es war bei ihm diese Gewohnheit so mächtig, daß es ihm ein paar Tage schien, sein wahrer Leib sei mit dem seiner Tochter ins Grab gelegt worden, und seine Seele irre allein noch auf der Erde umher.

Der Schmerz stellte sich am Ende in ihm fest und ließ auf seinem hohlen Gesichte jene unvertilgbare Spur zurück, die das Meer an der steilen Küste eingräbt, welche es alle Tage bei seiner Flut besucht, und in die es sich am Ende incrustirt.

Was Auger betrifft – und das war begreiflich: Auger war nicht Vater und, wie man weiß, sehr wenig Gatte; – was Auger betrifft, er hatte seine gewöhnlichen Arbeiten wieder aufgenommen, er ging, kam, aß und schlief wie gewöhnlich.

Von Zeit zu Zeit nahm er indessen plötzlich und wie durch Erinnerung statt der schlimmen Miene, wie er sie sonst zu haben pflegte, eine schmachtend betrübte Miene an.

Das war besonders der Fall, wenn er in Gesellschaft seines Schwiegervaters durch die Straße ging. Da stellten sich die guten Seelen unter die Thüren und an die Fenster, um das erbauliche Paar vorüberziehen zu sehen.

Jeder sagte sich: »Welch ein unglücklicher Vater! doch wie glücklich ist er, daß er einen solchen Sohn gefunden!«

Und die stummen Glückwünsche, nur durch die Blicke übersetzt, drangen wie ein Balsam bis in die Tiefe der Seele von Rétif.

Auger hatte sein Zimmer, das früher Ingénue bewohnte, vollends meublirt.

Das Ameublement war höchst einfach.

Es bestand aus dem Bette, das wir haben hinausbringen sehen, und aus zwei Stühlen beim Tische.

Dieser Tisch war in den Stunden des Mahles ihm und seinem Schwiegervater gemeinschaftlich.

Auger war übrigens den größten Theil der Zeit auswärts und kam zuweilen sehr spät nach Hause, mochte nun das Geschäft größer gewesen sein, oder geschah es aus irgend einem anderen Motive.

Denn, wenn man wohl überlegt hätte, welches Geschäft hatte nun, da Réveillon keine Kasse mehr besaß, der Kassier Auger zu verrichten?

Folgendes: Auger war ein Mann von Einbildungskraft, Auger hatte sich ein Amt geschaffen, Auger hatte sich zum Inspector der Demolirungsmaterialien gemacht, und man sah ihn die Interessen des ruinierten Réveillon mit demselben Eifer überwachen, welchen er anwandte, um seinen Schwiegervater zu pflegen.

Hatten am Ende des Tages die Arbeiter unter seinen Befehlen ein paar Bretter zusammengebracht, deren Zustand eine neue Verwendung gestattete, so war Auger glücklich wie Titus: Auger hatte seinen Tag nicht verloren.

Und er kam entzückt zum Vater Rétif zurück und ging in alle Einzelheiten dieser täglichen Arbeit ein, ohne zu begreifen, wie sehr er den Greis dadurch betrübte, daß er sich jeden Tag wieder an den verfluchten Ort begab, wo Rétif seine Tochter verloren, und daß er ihm jeden Abend durch eine neue Erzählung den Dolch ins Herz stieß.

Auger bekümmerte sich aber, wie man leicht einsieht, sehr wenig darum, daß er Rétif betrübte.

Das Einzige, um was er sich bekümmerte, war, im Quartier seinen Ruf als redlicher Mann, als betrübter Witwer und als ehrfurchtsvoller Sohn festzustellen.

Das war ihm in acht Tagen gelungen.

Man weiß, daß, wenn Auger Etwas wollte, er es recht wollte, und daß es ihm weder an Gewandtheit, noch an Beharrlichkeit fehlte, um es zum Ziele zu führen.

 

Es waren also acht Tage verlaufen; man war am neunten seit dem Tode von Ingénue; es hatte zwei Uhr geschlagen, und das Mittagsmahl, bereitet von den Händen von Auger und verstärkt durch ein im Ofen des Bäckers gekochtes Gericht, war auf dem Tische erschienen.

Auger rief seinen Schwiegervater.

Dieser verließ seinen Winkelhaken, stieß einen Seufzer aus, stand auf und setzte sich maschinenmäßig an den Tisch.

Auger, der hinter ihm geblieben, rückte seinen Stuhl zurecht, und war besorgt, einige vom Greise gesetzte Zeilen ungemein zu bewundern, – Stanzen in Versen, Stanzen in Prosa an das Andenken von Sicadele und Zephyre gerichtet.

Der Elende gebrauchte alle Mittel, die ihm seine Einbildungskraft in den Sinn gab, um diesen tiefen väterlichen Schmerz einzuschläfern.

Er that das Gute durch den beharrlichen Willen, das Böse zu thun.

Auger hatte Appetit: das Mahl war gut und reizte ihn.

Rétif dagegen saß bei Tische, doch seine trägen Arme fielen an beiden Seiten seines Lehnstuhles hinab, sein Kopf neigte sich auf seine Brust, und er schien durchaus nicht zum Essen gelaunt zu sein.

Er sah seinen Schwiegersohn sich zu Tische setzen, Auger legte die Suppe vor. Rétif berührte den Löffel kaum mit der Lippe, dann schob er seinen Teller zurück.

Auger leerte den seinigen dagegen mit großem Appetit, und erst als er den letzten Löffel verzehrt hatte, fiel es ihm ein, daß er schicklichkeitshalber den Seufzer seines Schwiegervaters durch einen gleichen erwiedern müsse.

Darauf griff er tapfer die erste Schüssel an, auf seine Ermunterung hatte sich Rétif eben entschlossen, trotz seines Widerwillens ein wenig von den Speisen zu kosten, als plötzlich vier vernehmliche Schläge mit dem Hausthürklopfer Beider Aufmerksamkeit erregte.

Rétif war, wie bereits gesagt worden ist, der eigentliche Inhaber des vierten Stocks; ihm also galten aller Wahrscheinlichkeit nach die vier Schläge und er stand daher ans, um aus dem Fenster zu sehen.

Allein Auger, der in sichtliche Unruhe gerieth, stand ebenfalls rasch auf und kam Rétif beim Oeffnen des Fensters noch zuvor, so daß Beide zugleich hinaussahen. . ,

Sie gewahrten einen Auvergnaten, der die Nase in die Luft reckte und zu harren schien, bis Jemand auf sein Klopfen antworten würde.

»Zu wem?" riefen Beide zugleich hinab.

»Zu dem Büchermacher Rétif!" schrie der Auvergnat.

»So komm herauf!" antwortete Rétif, einen Draht ziehend.

Jeder Miethsmann hatte einen solchen Drahtzug, mit dessen Hilfe er, ohne sich die Treppe hinab zu bemühen , den Hausthürdrücker öffnen und den Einlaßbegehrenden ins Haus lassen konnte.

Als der Auvergnat sah, daß man ihm geöffnet hatte, kam er herauf und übergab Rétif ein Packet Papiere, wie Probebogen aus der Druckerei zusammengerollt.

Deren erhielt Rétif sehr häufig von seinem Buchhändler zugesendet, da er sich zur Zeit noch keine eigene Drucker presse hatte anschaffen können, und es war demnach nichts besonders Auffälliges bei dieser Sache, was jedoch Anger nicht abhielt, einen Seitenblick auf das Packet zu werfen.

Da er sah, daß es Gedrucktes war, schwand jedoch jeder Argwohn und er setzte sich wieder an den Tisch.

Rétif dagegen konnte nun um so unbesorgter ans Fenster treten, als wolle er mehr Licht zum Durchsehen der eingegangenen Sendung haben, und diese demgemäß von seinem Schwiegersöhne abgewendet halten, ohne dessen Verdacht zu erregen.

Eine innere Stimme flüsterte ihm zu, daß der Inhalt des Packets nur für ihn allein bestimmt sei.

Anger machte sich mit verdoppeltem Appetit über das Essen her; ja, es war ihm sogar recht angenehm, daß Rétifs Aufmerksamkeit von ihm abgezogen ward; um so reichlicher konnte er zulangen.

Rétif stand, wie gesagt, am Fenster und hatte das Packet vollends eröffnet.

Plötzlich bedeckt Todesblässe sein Gesicht, ans welche eben so schnell eine dunkle Purpurröthe folgte.

In dem letzten Druckbogen lag ein geschriebenes Blatt folgenden Inhalts:

»Beunruhigen Sie sich nicht, und wenn Sie im Augenblicke, wo Sie dieses Blatt erhalten, nicht ohne Zeugen sein sollten, so lassen Sie sich ja nichts von dem Eindrucke, den sein Inhalt auf Sie machen dürfte, merken.

»Verbrennen Sie dies Blatt, sobald Sie es gelesen haben werden und kommen Sie so schnell als es Ihnen irgend möglich sein wird, nach der Straße Saint-Honoré in ein ganz von einem Garten umgebenes Haus, nahe an der Barriére, auf dessen Eingangsgitterthor zwei steinerne Löwen stehen.

»An der Thüre brauchen Sie blos Ihren Namen zu nennen, worauf man Sie in einen Salon führen wird, in welchem Sie Ihre Tochter Ingénue lebend und wohlbehalten antreffen werden.

Rétif war nahe daran, einen lauten Freudenschrei auszustoßen; einen Augenblick flirrten ihm die Buchstaben vor den Augen; allein es gelang ihm, sich zu beherrschen und ruhig weiter zu lesen:

»Lassen Sie nichts sichtbar werden: man kennt Ihre Seelenstärke; lächeln Sie fortwährend gegen den Elenden, der bei Ihnen ist, erregen Sie keinen Verdacht bei ihm; er wäre sonst im Stande, Sie auch zu ermorden.

»Kommen Sie geschwinde! man erwartet Sie.«

Als sein durch diesen entsetzlichen Brief gepeitschtes Blut oft genug die Aufsteigung und die Absteigung, die den Schlag und die Lähmung Leben, gemacht hatte, stellte sich Rétif wieder gerade auf seine wankenden Beine und sagte mit sicherer Stimme:

»Diese Probebogen sind schlecht, und die Arbeiter sind ungeschickte Leute.«

Sodann zerknitterte er das Papier in seiner Hand und verschloß es in seiner Tasche, ohne daß Auger es bemerken konnte und im Geringsten darauf merkte.

Wonach er wieder seinen Platz bei Tische nahm und sein Gespräch mit dem Elenden fortsetzte.

Dieser hatte gegessen, er war zufrieden; die Verdauung klärte ihm die Ideen auf: er war geschwätzig und beinahe heiter.

In seinem Ergusse ging er vom Heitern zum Traurigen über, und Rétif machte sich das gräuliche Vergnügen, sich den Tod von Ingénue mit allen Umständen erzählen zu lassen, das heißt mit allen den Lügen, die der Elende aus seiner höllischen Schlauheit und aus dem schlechten Weine, den er getrunken, schöpfte.

Rétif betrübte sich ungemein und ließ sich ein wenig trösten.

»Mein lieber Schwiegervater,« sagte Auger, »sehen Sie, wie sich Alles auf der Welt ändert, da wir, nachdem wir ein so grausames Unglück erlitten, auf dem Punkte sind, sehr glücklich mit einander zu leben!«

»Das ist wahr,« erwiederte Rétif phlegmatisch, »denn Sie lieben mich. Auger.«

»Wie ich Ingénue liebte!«

»Meinen Dank!« sagte Rétif, indem er sich leicht verbeugte.

Heiterer, als er je gewesen, versiegte indessen Auger nicht; er machte seine Reichthums- und Glückseligkeitspläne, bei denen er den Vater Rétif mit so kläglichen Uebertreibungen zum Theilhaber nahm, daß es für den Greis bei kaltem Blute eben so viel Spöttereien waren.

Aller dieser Plattheiten müde, stand Rétif endlich dem schändlichen Mörder zulächelnd von Tische auf.

»Haben Sie genug gegessen, mein Freund?« fragte er ihn.

»Oh! ja, Schwiegervater; das ist da» erste Mal, daß wir so gut gespeist haben.«

»Sie haben Recht . . . und ein gutes Mahl befriedigt immer, nicht wahr?. . . selbst den Schmerz!«

»Ach!«

»Selbst die Tugend!«

Auger, der. gewohnt war, den Schwiegervater Sentenzen aussprechen zu hören, gab nicht Acht aus die Bedeutsamkeit von dieser.

Er stand ebenfalls von Tische auf und ging in sein Zimmer, um seine Schuhe und seinen Rock wieder anzuziehen, denn aus Sparsamkeit legte er diese Kleidungsstücke ab, wenn er nach Hause kam.

Rétif beeilte sich indessen, den Brief zu verbrennen, den er erhalten hatte, und der Rauch füllte noch das Zimmer, als Auger wieder eintrat.

»Ei! was haben Sie da verbrannt?« fragte Auger mit mehr Neugierde als Unruhe schauend.

»Ein Blatt von meinem letzten Satze,« antwortete Rétif.

»Warum dies?«

»Weil die Stelle ein wenig jovial war, und ich kein Herz mehr für die Freude habe, selbst nicht einmal in meinen Büchern, seit dem Tode meiner armen Tochter!«

Auger zog sein Taschentuch und weinte ein wenig zum Nachtische.

Der Vater Rétif beharrte nicht bei dem Gespräche; bald nahm Auger seinen Stock und ging aus, um sich zur Arbeit zu begeben.

Rétif sah ihn, hinter dem Fenster verborgen, weggehen; als sodann sein Schwiegersohn verschwunden war? ging er ebenfalls aus; um jedoch keinen Verdacht zu erregen, hielt er bei einigen Kaufleuten von der Nachbarschaft an, die ihn jeden Tag nach Neuigkeiten fragten, oder ihn zum zwanzigsten Male die Geschichte seines Unglücks erzählen ließen.