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LVIII
Das Portrait

Niemand hatte den jungen Mann durchschreiten sehen, so sehr war Jeder mit sich selbst beschäftigt, so sehr war Jeder auf das Plündern und Zerstören für seine eigene Rechnung erpicht.

In der That, die Einen schlugen sich, die Andern zertrümmerten, wieder Andere stahlen.

Der Wetteifer im Stehlen, in der Zerstörung oder im Kampfe herrschte ohne Gleichen in diesem unglücklichen Hause, das die Beute einer unglaublichen Orgie von Habgier, Rache und Wuth geworden war.

Indeß die Gardes francaises, außen streitend, allmälig von der Straße und von den Häusern Besitz ergriffen, von deren Fenstern aus man vortheilhaft auf das Haus von Réveillon Feuer geben konnte, bemächtigte sich das Raubgesindel, zurückgedrängt, der Keller und soff sich, ohne zu unterscheiden, voll mit Branntwein, Wein, Weingeist, Liqueur und Terpentin.

Die Meisten von diesen Elenden starben auch vergiftet, indem sie berauscht zu sterben suchten.

Während dieser Zeit zerriß Christian sein Sacktuch in Fetzen, tauchte es in das Bassin des Gartens, legte es eiskalt auf die Brust von Ingénue, und setzte dann seinen Lauf fort, denn er dachte, sie könne nie zu weit von dem unseligen Hause weggetragen werden.

Und indeß er lief, preßte er tausendmal an sein Herz diesen zuckenden Leib, er verzehrte mit Küssen diese schon vom Siegel des Todes bezeichneten Lippen, und in einem wüthenden Anfalle von Verzweiflung ging er ohne zu wissen wohin und verlangte von Gott nichts Anderes, als wenn er Ingénue von der Erde nehme, mit ihr sterben zu dürfen.

Christian lief also wie wahnsinnig, beladen mit seiner kostbaren Last, eine Hand auf dem Herzen der jungen Frau, um seine letzten Schläge zu befragen; zuweilen nur blieb er seufzend stehen, um Athem zu schöpfen und das Blut mit seinem gerötheten Taschentuche zu stillen.

Die Gedanken hatten ihn verlassen: als er Ingénue immer bleicher, immer kälter werden und mehr und mehr dem Tode zugehen sah, verlangte er nur den Tod.

Plötzlich hielt ihn sein guter Engel auf.

»Warum sollte man Ingénue nicht retten?« flüsterte er ihm ins Ohr.

Christian stieß einen Freudenschrei aus; er öffnete die Augen wieder einer ganz neuen Ideenordnung.

»Ja, sie retten!« murmelte er. »Ich werde sie retten! ich werde sie retten, und sie wird mir das Leben zu verdanken haben!«

Ein Fiacre fuhr vorüber, Christian rief ihn.

Zum Glücke war der Wagen leer: er kam gerade auf den jungen Mann zu.

»Guter Gott!« fragte der Kutscher, »was gibt es denn, mein junger Herr?«

»Mein Freund,« antwortete Christian, »ich befand mich mit meiner Schwester mitten unter dem Aufruhre des Faubourg Saint-Antoine, und sie wurde verwundet.« . .

»Ach! ja!« rief, der Kutscher von seinem Fiacre herabspringend, »und sogar sehr gefährlich, denn Ihre Kleider sind ganz roth von Blut.«

Und der brave Mann öffnete seinen Fiacre, in den sich Christian, Ingénue quer auf seinem Schooße haltend, setzte.

»Sie wollen einen Wundarzt, nicht wahr, mein junger Herr?« fragte der Kutscher.

»Ja, gewiß! Kennst Du einen?«

»Oh! ja, Herr, und zwar einen ganz vortrefflichen.«

»Wie heißt er?«

»Ich weiß seinen Namen nicht.«

»Du weißt seinen Namen nicht?«

»Man nennt ihn nur den Wundarzt der armen Leute.«

»Vorwärts! vorwärts!«

Der Kutscher peitschte seine Pferde auf eine so kräftige Art, daß er ihnen begreiflich machte, es sei dringende Noth; sie liefen auch, wie sie nie gelaufen waren.

Nach einer Viertelstunde hielt der Fiacre vor einer kleinen Thüre, in einer schmalen, finsteren, Christian völlig unbekannten Straße.

Der Kutscher stieg ab, läutete oder riß vielmehr an der an der kleinen Thüre angebrachten Schelle, und diese Thüre öffnete sich; dann half er Christian Ingénue aus dem Wagen herausheben.

»So!« sagte der Kutscher, »nun ist sie in guten Händen, gehen Sie!«

»Und wohin soll ich gehen?«

»In den zweiten Stock . . . Ei! ich höre schon, daß man die Thüre öffnet.«

Der Gang war in der That kaum geöffnet, als ein Licht durch die Stangen des eisernen Geländers erschien.

Und eine Stimme ertönte von oben, eine scharfe, durchdringende Stimme.

»Was gibt es denn,« fragte die Stimme, »und wer läutet so gewaltig?«

»Ein Kunde,« sagte der Kutscher.

Sodann zu Christian:

»Gehen Sie hinauf! gehen Sie hinauf, mein junger Herr; es ist die Haushälterin des fraglichen Wundarztes. . Soll ich Ihnen helfen?«

»Ich danke,« erwiederte Christian, indem er den Fuß auf die erste Stufe setzte.

»Oh! bei meiner Treue, ja, Sie scheinen mir stark genug; und dann ist die junge Dame federleicht. Aber, wie viel Blut, mein Gott! wie viel Blut! Ich will Sie hier unten erwarten, für den Fall, daß Sie meiner bedürfen sollten.«

Christian stieg langsam die Stufen hinauf, nicht als ob die junge Frau schwer auf seinen Armen gelastet hätte, sondern bei jedem Schritte, den er machte, kam das Blut frisch und roth an die Lefzen der Wunde.

In dem Augenblicke, wo er über den Ruheplatz des ersten Stockes ging, that sich eine Thüre auf, und es zeigten sich einen Moment Köpfe von neugierigen alten Weibern; als sie diesen jungen Mann voll Blut und diese sterbende junge Frau sahen, stießen sie einen Schrei aus und zogen sich hastig zurück.

Hinter ihnen schloß sich die Thüre wieder.

Das erwähnte Licht schien immer vom zweiten Stocke herab. Ein flackerndes Leuchtfeuer, bezeichnete es Christian, wo er seine Füße auf den zugleich kothigen, schmalen, feuchten und holperigen Stufen aufsetzen sollte.

Der Geruch dieses Hauses war ekelhaft und ungesund.

Die Luft darin war kalt; man sah an den Mauern herab Rinnen von Wasser laufen, das durch die schlecht beworfenen Wände sickerte.

Christian kam endlich vor die Frau, welche so leuchtete, und deren Kopf tief in einer fettigen Haube stak.

Es war einer von jenen Typen von Haushälterinnen, wie man sie nur in Paris, der Stadt des elenden Luxus, findet.

Sich von solchen Personen bedienen lassen heißt offenbar weniger Sorge für sich, als für sie tragen.

Christian war aber nicht da, um Physiologie zu treiben. Er warf kaum einen Blick auf die häßliche Duenna und suchte mit den Augen einen Platz, wo er seine Bürde niederlegen könnte.

Kein Teppich, kein Canape; nur im Hintergrunde einer Stube ein Bett.

Christian lief auf dieses Bett zu; doch die Frau rief:

»Nun! was machen Sie denn? . . . Auf das Bett vom Herrn? Gut! das würde nur noch fehlen.«

Christian blieb, im Herzen verwundet, stehen.

»Aber wo soll ich denn diese arme Verwundete niederlegen?« fragte er.

»Wo Sie wollen, doch nicht auf das Bett!« erwiederte die alte Frau.

»Und warum nicht?« fragte Christian.

»Weil all dieses Blut das Bett vom Herrn verderben würde.«

Der Ekel erfaßte Christian.

In der That, das Bett vom Herrn schien ihm nicht würdig, dieses jungfräuliche, kostbare Blut zu empfangen, dessen Befleckung die häßliche Haushälterin befürchtete.

Er zog mit dem Fuße einen Strohstuhl herbei, rückte einen andern an denselben und legte die junge Frau auf diese Art von Canape.

Die Alte ließ ihn brummend machen.

Als Ingénue auf diesem improvisirten Bette lag, schaute Christian empor und fragte:

»Der Wundarzt ist also nicht hier?«

Das Licht der Kerze, welche die Haushälterin hielt, fiel nun auf sein Gesicht.

»Sieh da, Herr Christian!« rief sie.

»Sie kennen mich?« fragte der junge Mann.

»Ich glaube wohl,« erwiederte die alte Frau, »und ich möchte beifügen, es sei nicht gut von Ihnen, daß Sie mich nicht wiedererkennen, Herr Christian, nachdem ich Sie gepflegt habe, wie ich dies gethan.«

Christian schaute sie nun ebenfalls an.

»Albertine!« rief er.

»Ei! ja, Albertine.«

»Ich bin also bei Herrn Marat?«

»Allerdings.«

»Wie! er hat den Marstall von Artois verlassen?«

»Der Herr hat seinen Abschied genommen: er will nicht mehr den Tyrannen dienen.

Ein Ausdruck des Ekels trat auf dem Gesichte von Christian hervor.

Er hatte einen Augenblick den Gedanken, Ingénue anderswohin zu bringen.

Doch wohin?

Ueberdies erinnerte er sich, welche Sorgfalt Marat bei ihm angewandt, und welche Geschicklichkeit er entwickelt hatte, als man ihn verwundet zu Marat gebracht, wie man heute Ingénue zu ihm brachte.

»Ah!« sagte er, »ich bin bei Herrn Marat . . . Aber wo ist er denn?«

»Weiß ich es!« versetzte Albertine; »er hat seine Angelegenheiten, und er sagt nicht, wohin er geht.«

»Ah! meine liebe Frau Albertine!« rief Christian, »laufen Sie geschwinde, ich bitte Sie inständig. Sehen Sie nicht, daß das arme Kind stirbt?«

»Geschwinde, geschwinde, das ist leicht zu sagen,« entgegnete die Alte, indem sie dieses anbetungswürdige Gesicht mit einem tiefen Haffe gegen die Schönheit, die Jugend und die Anmuth von der Seite anschaute. »Geschwinde! und ich versichere Ihnen doch, ich wisse nicht, wo der Herr ist.«

»Oh! suchen Sie ihn da, wohin er zu gehen 'Pflegt.«

Und der Habsucht von Albertine sich erinnernd, zog er ein paar Louis vor aus der Tasche, und sagte zu ihr:

»Hier, meine liebe Frau Albertine, nehmen Sie.«

Albertine nahm die Goldstücke gierig und schickte sich in der That an, wegzugehen, und war es auch nur, um sich den Anschein zu geben, als suchte sie Marat, als ein Seufzer im Zimmer hörbar wurde.

Christian erwiederte diesen Seufzer durch einen Freudenschrei: Ingénue war zum Leben zurückgekehrt.

Er stürzte bei, ihrem Stuhle auf die Kniee; Albertine neigte sich gegen sie, nicht aus Mitleid, sondern aus Neugierde.

Ingénue öffnete mit Anstrengung die Augen, und ihr erster Blick war für Christian.

Als sie den jungen Mann erkannt hatte, schien sich die Blöße ihrer Wangen ein wenig zu verlieren.

 

Eine Art von freudiger Flamme erleuchtete das Antlitz der armen Verwundeten.

Christian erwartete, bei ihr knieend, ihr erstes Wort: man hätte glauben sollen, sein Leben hänge davon ab.

Doch sie fragte nur mit einer kaum verständlichen Stimme:

»Wo bin ich?«

»Bei einem sehr geschickten Wundarzte, meine Freundin,« antwortete Christian, »bei dem, welcher mich gerettet hat, und der Sie auch retten wird.«

Etwas wie ein Lächeln verklärte- die Stirne der jungen Frau.

»Ja,« flüsterte sie, »ja, mich retten!«

Und als wollte sie erkennen, wo sie sich befand, schauten ihre Augen im Kreise umher.

Plötzlich erweiterten sich diese Augen und hefteten sich auf einen Winkel des Zimmers mit einem Schrecken, als ob sie den Tod selbst in der Dunkelheit gekauert gesehen hätte.

Christian folgte der Richtung dieses bangen Blickes und erschaute einen schlecht vergoldeten hölzernen Rahmen, in welchem ein Portrait von zugleich Unheil weissagendem und höhnischem Ausdrucke lebte, – das ist das richtige Wort.

Dieses Portrait, von einem kräftigen Pinselstriche und einer mehr trüben als glänzenden Färbung, meublirte die abgestutzte Ecke des Zimmers.

Wir sagten, es habe gelebt, und in Abwesenheit des Herrn schien es über jede Einzelheit des Hauses zu wachen.

Ingénue gab einen Schrei von sich.

Dann streckte sie Sie Finger gegen das Bild aus und fragte mit erstickter Stimme:

»Wer ist dieser Mann?«

»Nun, es ist mein Herr, Herr Marat,« antwortete die Alte, »und das Portrait ist sehr schön: einer von seinen Freunden, Herr David, hat es gemalt.«

»Dieser Mann! . . .« rief Ingénue, indem sie sich auf dem improvisirten Lager, das ihr Freund ihr bereitet hatte, aufrichtete.

Sie konnte nicht mehr sagen; Christian wartete mit Angst.

»Der Wundarzt? es ist der Wundarzt?« vollendete sie stammelnd.

»Nun,« fragte Christian, wie sie einem unbeschreiblichen Gefühle von Bangigkeit preisgegeben, »und wenn es der Wundarzt wäre?«

»Dieser Mann würde mich verbinden? dieser Mann würde mich anrühren?« rief Ingénue. »Oh! nie! nie!«

»Beruhigen Sie sich,« sprach Christian, »ich stehe für seine Geschicklichkeit.«

»Dieses Ungeheuer würde zum zweiten Male die Hand an mich legen?«

Und mit einem Ausdrucke des Ekels, der noch viel entschiedener als das erste Mal, wiederholte sie:

»Oh! nie! nie!«

»Was will sie damit sagen?« fragte sich leise Christian.

»Der Herr ist nicht schön,« sprach Albertine, ihr Gesicht zu einem Lächeln verzerrend; »der Herr ist aber kein Ungeheuer, und dieser junge Mann kann bezeugen, daß er eine leichte Hand hat.«

Und sie deutete auf Christian.

»Oh!« rief Ingénue zugleich voll Angst und Ekel, »bringen Sie mich von hier fort, ohne einen Augenblick zu verlieren! Christian, bringen Sie mich fort!«

»Gut!« sagte die Alte, »sie ist im Delirium. Wir kennen das, man muß nicht auf das, was sie sagt. Acht geben.«

»Liebe, liebste Ingénue,« flüsterte der junge Mann der Verwundeten ins Ohr, »bewältigen Sie sich! es ist das Fieber, was Sie so aufregt!«

»Oh! nein, nein!« erwiederte Ingénue.

»Sie kennen aber Herrn Marat nicht, es ist nicht möglich, daß Sie ihn kennen!«

»Doch, doch, ich kenne ihn! und meine Freundin Charlotte Corday kennt ihn auch!«

»Charlotte Corday?« wiederholten Christian und Albertine.»

»Er soll mich nicht anrühren; nein, nein, nein, ich will es nicht haben.«

»Ingénue! . .«

»Bringen Sie mich fort, Christian! ich sage Ihnen, bringen Sie mich fort!«

»Sie werden aber sterben, Ingénue!« «

»Eher den Tod, als die Pflege dieses Menschen!«

»Ingénue, meine Freundin, kehren Sie wieder zu Ihrer Vernunft zurück.«

»Ich habe sie so wenig verloren, ich besitze sie so vollkommen,« rief die junge Frau, indem sie sich mit einer schrecklichen Bewegung aufrichtete, »daß, wenn dieser Mensch sich mir nähert . . .«

»Meine Freundin . . .«

»Ah! man kommt herauf . . . Es ist der Herr,« sagte Albertine.

Ingénue eilte mit einer Kraft, der man sie nach einem so großen Blutverluste nicht fähig gehalten hätte, nach dem Finster.

»Christian,« sprach sie, »rührt mich dieser Mensch an, so stürze ich mich, ich schwöre es Ihnen bei meiner Ehre, zu diesem Fenster hinaus.«

»Oh! mein Gott!«

»Bringen Sie mich fort, sage ich Ihnen! sehen Sie denn nicht, daß Sie mich tödten?«

Sie hatte diese Worte nicht vollendet, als sich die Thüre öffnete und Marat auf der Schwelle erschien.

Er hielt einen Leuchter in einer Hand, einen Bund Papiere in der andern; er hatte seine schmutzige Kopfbedeckung, sein schmutziges Gesicht, seinen leuchtenden, schiefen Blick, und bewegte seinen verkrümmten Leib wie eine verwundete Spinne. »

Ingénue, als sie ihn hier, verblendend und lächelnd, stehen sah, als sie nicht mehr in der Copie, sondern im Original, den Mann der Rue Serpente erkannte, stieß einen Seufzer aus und fiel aufs Neue in Ohnmacht.

Christian, da er glaubte, sie werde sterben, nahm sie in seine Arme und stürzte nach der Treppe.

Vergebens fragte ihn Marat nach dem Grunde dieser Flucht, vergebens erschöpfte er, als er ihn erkannt hatte, oben von der Treppe herab alle Zärtlichkeiten und alle erschreckliche Prophezeiungen,– Christian stieg immer rascher hinab, gestachelt durch die Stimme, die ihn aufzuhalten suchte.

Er machte erst Halt vor dem Fiacre, in den er sich wieder warf.

»Wohin fahren wir, mein junger Herr?« fragte der Kutscher.

»Wohin Du willst,« antwortete Christian.

»Wie, wohin ich will?«

»Ja! rasch, rasch!«

»Aber . . .«

»Fahre ans Ende der Welt, wenn Du willst; aber fort! fort!«

Ganz erstaunt, peitschte der Kutscher seine Pferde und fuhr ab; Marat rief von seinem Fenster aus immer:

»Christian! Christian!«

Und der junge Mann hörte es und fragte sich, woher diese Vertraulichkeit komme, und warum ihn Marat schlechtweg Christian nenne.

Doch, ohne daß er wußte warum, flößte ihm diese Stimme ein Gefühl unbestimmten Schreckens ein.

»Vorwärts,« rief er dem Kutscher zu, der über den Weg, welchen er nehmen sollte, unschlüssig war; »vorwärts!«

Plötzlich erleuchtet durch eine Idee, fügte er bei:

»Nach dem Louvre! nach dem Louvre!«

Während dieser Zeit schloß Marat voll Zorn sein Fenster wieder und fragte:

»Was für eine einfältige Person ist denn das, die mir Christian da gebracht hatte?«

»Ich kenne sie nicht,« antwortete die Haushälterin; »nur weiß ich, daß sie, als sie Ihr Portrait gesehen, aufgeschrieen hat, Sie seien ein Ungeheuer.«

»Ah! ah!« sprach Marat mit einem bitteren Gelächter, »wenn mein Freund David hier wäre, das würde ihn sehr glücklich machen: es beweist, daß mein Portrait ähnlich ist.«

Sodann die Stirne faltend, fragte der Wundarzt i der Armen:

»Also Du weißt den Namen dieser jungen Frau nicht?«

»Mein Gott, nein; doch sie hat eine ihrer Freundinnen genannt.«

»Ah! eine ihrer Freundinnen. . . . Und diese Freundin, wie heißt sie?«

»Charlotte Corday.«

»Charlotte Corday ?« wiederholte Marat; »ich kenne das nicht.«

Und er kehrte in sein Cabinet zurück und wiederholte:

»Ah! ich bin ein Ungeheuer!

LIX
Der Schlüssel des Glückes

Niemand schlief in diesem großen Gebäude, das die Könige zu jener Zeit als ein Absteigequartier bewohnten, und dessen ungeheure Gemächer den Dienstleuten und den Officieren von der Garnison überlassen waren.

Christian hatte hier einen Zufluchtsort; er hatte hier Freunde. Er schlich sich eine wohl bekannte Treppe hinauf, legte Ingénue in einem glänzend meublirten Zimmer auf ein Bett nieder, das weder Tücher, noch Decken hatte und majestätisch mitten im Gemache unter seinem Himmel von Tapetenwerk mit Seide und Gold gestickt thronte.

Er ließ die Kranke, die der Durst verzehrte, trinken; er stillte selbst das Blut der Wunde; dann küßte er auf die Stirne dieses theure Opfer und setzte sich zu ihm, mit pochendem Herzen, sich fragend, ob das nicht ein entsetzlicher Traum sei, und ob, trotz so vieler Mißgeschicke, das Erwachen nicht noch schrecklicher kommen und ihn auf immer von der einzig geliebten Frau trennen werde.

Der Brand, die Plünderung, das verworrene Geschrei , das Gewühl dieses Hauses von Réveillon, oder vielmehr dieser Hölle, Alles dies, ein kochendes Delirium, machte fast dem von Ingénue den Zustand ähnlich, in welchem sich der unglückliche Christian befand, als er sich in der Stille und im Schatten bei dieser Frau allein sah.

Bald aber zeigte sich die Wirklichkeit. Räuber dieser Frau, verfolgt von den Gerichten, vielleicht getadelt, zurückgestoßen von der Gräfin feiner Mutter, aufgesucht von Rétif, auch gemordet von Auger, der nur dieses Hilfsmittel hatte! – was thun?

In ein paar Stunden mußte er einen Entschluß fassen; – in ein paar Stunden das Wohl oder der Ruin seines ganzen Lebens!

Der Schlaf, ein wiederherstellender Balsam, hatte sich auf die Augen von Ingénue gesenkt. Ihre Brust zuckte sanfter: das Zittern ihrer Hände hatte einem unmerklichen Schauern der Muskeln Platz gemacht.

Christian hielt es nicht mehr aus: er erstickte. Er verließ das Zimmer, um einen Augenblick zu athmen und in der freien Luft die Gegenwart Gottes zu suchen, der sich vor seinen Blicken zu verbergen schien.

Er hatte nicht zwei Schritte in dem großen Hofe gemacht, als er Geräusch an einem der Eingangsthore hörte; Fackeln, Piqueurs, ein Gewieher von erhitzten Pferden, welche nach ihrer Streu und nach alten Kameraden riefen; sodann die Thore, die man öffnete, klirrende Waffen, und endlich eine mit dem Lärmen und der Geschwindigkeit des Donners auf dem Pflaster des großen Hofes hinrollende Carrosse!

Befremdet, schwankend, sah er, ohne zu begreifen, den Wagen im Galopp von sechs Pferden auf sich zukommen.

Und ohne den Piqueur, dessen Stiefel ihn im Vorübergehen streifte, hätte sich Christian, verdutzt und unbeweglich, zermalmen lassen.

Das Fenster der Carrosse war indessen niedergelassen: ein feiner, belebter junger Kopf erschien mitten, unter den Fackeln, und beim Scheine der Laternen des Wagens erkannte Christian seinen hohen Freund den Grafen von Artois.

Eine plötzliche Offenbarung: das Chaos verschwand in seinem Kopfe, die Ideen reihten sich an einander an, der Nebel zerstreute sich, der Wille Gottes brachte jedes Ding in Ordnung und führte die Vernunft mit der Hoffnung zurück.

»Der Prinz!« rief Christian, »der Prinz in Paris! Oh! Dank Dir, allmächtiger Gott!«

Und er folgte der Carrosse mit eben so viel Eifer, als er sie kurz zuvor mit träger Einfalt hatte an sich vorbeifahren sehen.

Der Prinz war in der That nach Paris von Versailles gekommen, wo er die Meldungen von Herrn von Bezenval bei seiner Rückkehr von der Jagd erhalten hatte.

Die Königin gab sich Mühe, diese Plünderung als Scherz zu behandeln; aber, weniger beruhigt, verlangte der Graf von Artois seine Pferde, und kam, seinem Systeme getreu, um zu sehen, wie weit die Pariser diesen bitteren Scherz treiben werden.

Christian gelangte zu gleicher Zeit mit der Carrosse an die große Treppe; so daß er Einer der Ersten Seine Königliche Hoheit begrüßte und ihre ersten Fragen hörte.

»Monseigneur,« sagte er, »Niemand kann besser als ich Eurer Königlichen Hoheit Kunde geben. Ich komme vom Faubourg Saint-Antoine, und das ist leicht an meinen verbrannten, von Koth und von Blut befleckten Kleidern zu sehen.

»Von Blut?« wiederholte der Prinz mit einer leichten Bewegung des Schreckens; »man schlägt sich also?«

»Monseigneur, man plündert und tödtet im Faubourg Saint-Antoine.«

»Geschwinde! geschwinde! erzählen Sie mir das!« sagte der Prinz, nachdem er, während er sich nach seinen Gemächern wandte, hastig ein paar Befehle gegeben hatte.

Christian folgte dem Prinzen und erzählte ihm, was er gesehen.

Eine schmerzliche Geschichte!

»Das sind wohl wieder Feinde für uns,« sagte der Prinz, »und ohne Nutzen! Es ist aber eine Meuterei? es ist ein vereinzelter Handstreich?«

In diesem Augenblicke trat Herr von Bezenval bei Seiner Hoheit ein. Er kam vom Faubourg zurück und stieg so eben vom Pferde.

»Eure Hoheit wird sogleich den Kanonendonner hören,« sagte er; »die Menge ist beträchtlich: auf tausend Streiter kommen immer zwanzig bis dreißigtausend Neugierige.«

»Man schlägt sich also im Ernste?«

»Man tödtet die Diebe, ja, Monseigneur, und zwar sehr im Ernste; man wirft sie zu den Fenstern hinaus, man röstet sie an dem Feuer, das sie angezündet haben, man hängt sie an die Thüren, man kartätscht sie nieder: das wird bald beendigt sein.«

 

»Wann denn?«

»Wenn Niemand mehr da sein wird,« antwortete Bezenval phlegmatisch.

Der Prinz wandte den Kopf ab.

»Meinen Dank, Herr Baron!« sagte er; »gehen Sie und ruhen Sie aus.«

Der Officier ging ab.

»Wenn ich bedenke,« murmelte der Prinz, »wenn ich bedenke, daß zwanzig Millionen Franzosen zu tödten sind, wie diese, ehe man dahin gelangt, daß man keine Feinde mehr in Frankreich trifft!«

Und er versank einige Augenblicke in ein tiefes Stillschweigen.

Sodann Christian wahrnehmend, bei dem alle Bewegungen eine fieberhafte Ungeduld verriethen, sagte er

»Wie bleich sind Sie, Graf Obinsky! wie aufgeregt sind Sie!«

»Oh! Monseigneur, ich müßte todt sein!«

»Du! mein armer Christian?«

»Monseigneur, können Sie mir eine Minute bewilligen?«

»Sprich! sprich!«

»Nun wohl, Monseigneur, Ingénue ist vielleicht zu dieser Stunde todt.«

Und er erzählte lebhaft, leidenschaftlich das ganze entsetzliche Drama.

Der Prinz gab mehr als einmal Zeichen der Theilnahme und der Besorgniß von sich.

»Nun,« sagte Christian, als er geendigt hatte, »bin ich unglücklich genug? Stirbt sie, so werde ich sie nicht überleben; entkommt sie, so muß ich sie ihrem Vater, einem schändlichen Gatten zurückgeben, der, nachdem er sie einmal gemordet, sagen wird, sie sei sein Eigenthum . . . Oh! der Elende! Monseigneur, werden Sie mir nicht ihn vor ein Gericht schleppen und die Ehe lösen helfen?«

Der Prinz überlegte; er lächelte sodann, und, sich in einer liebreichen, heiteren Inspiration erhebend, öffnete er ein Kistchen von Boule, das sein Kammerdiener neben ihn gestellt hatte.

Er nahm daraus einen kleinen ciselirten Schlüssel und gab ihn immer lächelnd Christian.

»Was ist das?« fragte der junge Mann.

»Höre mich wohl an,« erwiederte der Prinz, »und verliere kein Wort und keine Secunde . . . »Dieser Schlüssel ist der Deines Glückes.«