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LV
Wie Rétif de la Bretonne von einem Erstaunen zum andern übergeht

Der Vater Rétif, so wenig hellsehend er war, hatte am Ende doch bemerkt, die Haushaltung seiner Tochter sei nicht gerade eine gute Haushaltung.

Hierüber befragt, hatte Auger nichts geantwortet; gedrängt, zu sprechen, war er aus dem Hause entflohen, wo er nur selten mehr erschien, beschäftigt» wie er war, mit seinen Clubbs und seinen Geheimnissen.«

Die Mahle fanden, wie gesagt, bei Ingénue statt; Anfangs waren sie von einer Melancholie gewesen, welche bis zur Traurigkeit ging; dann waren sie allmälig heiterer geworden; .endlich hatten sie durch das fröhliche, kindische Gelächter seiner Tochter Rétif an seine guten Tage des vorhergehenden Jahres erinnert, als seine Tochter noch ein Mädchen war und ihrem Vater schmeichelte, um ihren Geliebten vor ihm zu verbergen.

Man erinnert sich dessen, was die zwei Kinder einander versprochen hatten: sich alle Tage schreiben, mit Hilfe eines Fadens ihre Briefe herunterlassen und hinaufziehen, sich in jedem von diesen Briefen sagen, sie lieben sich und sie werden sich immer lieben; das war das festgesetzte Programm» das war das befolgte Programm, und es genügte vierzehn Tage lang für ihr Glück.

Was aber kommen sollte, kam. Christian wurde so flehend, während er ehrerbietiger als je blieb, daß Ingénue einsah, es wäre Grausamkeit, einem Manne, der sein Wort so getreulich hielt, eine Stunde der süßen Plauderei zu verweigern, die sie ihm schon im Jardin du Roi bewilligt hatte.

Nur war das Rendez-vous diesmal im Luxembourg.

Christian hatte gebeten, es möge.dieses Rendezvous zwischen zwei und drei Uhr stattfinden. Er wußte wohl, was er, diese Stunde wählend, that: die Nacht würde bald kommen, und ein Liebhaber, so ehrfurchtsvoll er auch sein mag, gewinnt immer etwas bei der Dunkelheit.

Es vergingen aufs Neue acht Tage im Briefwechsel; nach Verlauf dieser acht Tage erhielt Christian abermals ein Rendez-vous, und diesmal war es beim Cours-la-Reine.

Doch bei keinem dieser Rendez-vous willigte Ingénue ein, Christian in das eine oder das andere von den kleinen Häusern zu folgen, die der Herr Graf von Artois zu seiner Verfügung gestellt hatte.

Endlich wurden diese Rendez-vous, während sie ihre Unschuld behielten, so häufig, daß Rétif die Abwesenheiten seiner Tochter zu bemerken anfing. Er befragte Ingénue, Ingénue wich jedoch seinen Fragen aus.

Er kam auf die Vermuthung, man habe ein Geheimniß vor ihm.

Als Vater, wandte er die List an, die den Ehemännern fast immer glückt; er gab sich eines Tags, um die Mittagsstunde, den Anschein, als ginge er aus, und sagte dabei seiner Tochter, er habe bei seinem Buchhändler zu thun und werde erst am Abend zurückkommen; dann legte er sich in einem Fiacre, am Eingange des Faubourg Saint-Antoine, in den Hinterhalt.

Einen Augenblick nachher sah er Ingénue von Hause weggehen.

Ingénue stieg selbst in einen Fiacre; Rétif folgte ihr und sah sie hinter dem Invalidenhause aussteigen.

Hier erwartete sie ein junger Mann.

In diesem jungen Manne erkannte Rétif de la Bretonne Christian.

Rétif kehrte nach Hause zurück; er versprach sich eine schöne Moralsitzung und liebkoste, zum Voraus in seinem Geiste alle Perioden der Rede, die er an seine Tochter zu halten gedachte.

Als die junge Frau zurückkam, fand sie in der That ihren Vater in seinen Schlafrock drapirt, und bemüht, ihr gegenüber das anzunehmen, was man aus dem Theater eine Effectstellung nennt.

Da begann er die vorbereitete Rede.

Eine halbe Stunde lang zählte Rétif die Handlungen des Unrechts seiner Tochter auf, rühmte er Auger, beklagte er ihn, verzieh er ihm, begriff und entschuldigte er seine Abwesenheiten, da ihm ohne Zweifel die unziemliche Ausführung seiner Frau bekannt sei, und er sich bei seinem sanften Charakter genöthigt gesehen habe, die Tyrannei eines Edelmanns zu ertragen.

Ingénue hörte mit ihrer gewöhnlichen Ruhe, als aber ihre Geduld ihr Ende erreicht hatte, nahm sie auch das Wort, und ohne Haß, fast ohne Belebung, wie ein höheres Wesen, das solche Schändlichkeiten nicht hatten berühren können, erzählte sie Alles, stellte Auger an seinen wahren Platz und schmierte ihn mit seinen wahren Farben an.

Wir sagen anschmieren, weil wir erkennen, daß das Wort malen zu schwach für das Bild ist, das wir zu produzieren haben.

Wer war erstaunt, wer war entrüstet, wer äußerte sich hierüber, wer versprach, Klage zu führen, wer schwor, sich eine Feder zu schneiden und Auger damit zu ermorden? Rétif.

Ingénue hielt ihn zurück. Es kannte eine bessere Philosophie, das sanfte, reizende Geschöpf.

Doch so sehr die Erzählung von Ingénue Rétif gegen Auger erbittert hatte, eben so sehr hatte sie ihn für Christian eingenommen; ein Mann der Einbildungskraft hatte Rétif auf der Stelle aus dem Pagen einen Romanhelden gemacht.

»Was ihn betrifft,« rief Rétif, nachdem er gegen Auger losgezogen, »was Christian betrifft, das ist etwas Anderes, er ist ein reizender junger Mann; er muß mit uns leben . . . Durch fortwährenden Verrath an den Gesetzen der Gesellschaft stoßen uns die Bösen zurück und werfen uns allmälig den Gesetzen der Natur zu. Christian muß Dein wahrer Mann sein! Du mußt Dich, da sich das Gesetz schändlich zeigt und Dich zu einem ewigen Witwenstande, zu einer grausamen Qual verurtheilt, Du mußt Dich in den Schooß Deines Vaters flüchten und vom alten Beschützer Deiner Jugend einen neuen Beistand, etwas Seltsames, Unerhörtes, um Dich zu retten, fordern.« .

Ingénue schaute ihren Vater mit ganz erstaunten Augen an.

»Höre,« sprach Rétif, »für die großen Uebel die großen Mittel, meine Tochter! Ich will nicht, daß Du die schändlichen Liebkosungen dieses Menschen, länger erduldest. Es ist genug, daß die zarte Blüthe Deiner ersten Liebe ihm geopfert worden ist; Du würdest Dich prostituieren durch eine Gefälligkeit, die das Gesetz gebietet und die Moral, meiner Ansicht nach, verwirft. Dem zu Folge befehle ich, Dein Vater, Dir, Deinen Mann wegzujagen, will er fortan bei Dir seinen Gattentitel geltend machen. Verstehst Du, meine Tochter? Du mußt ihn wegjagen!«

»Das ist ja geschehen, mein Vater,« antwortete Ingénue ruhig.

»Ah! das ist geschehen?«

»Du hast ihm verweigert . . . «

»Sicherlich.«

»Gute Erlösung! Nur,« fügte Rétif, seine väterlichen Augen zum Plafond aufschlagend, bei, »nur vergieße ich blutige Thränen, denke ich an diese Jungfrau dem Elenden preisgegeben und, einer andern Andromeda ähnlich, an den Felsen der Tugend und der Ehrlichkeit gefesselt.«

»Ich glaube, Sie täuschen sich abermals, mein Vater,« entgegnete Ingénue, die Augen niederschlagend, denn seit ihrer Versöhnung mit Christian hatte das arme Kind gelernt, es gebe Geheimnisse, über die eine Frau erröthen könne, ohne schlimme Gedanken zu veranlassen.

»Wie, ich täusche mich?« rief Rétif. »Habe ich das Gedächtniß verloren? bin ich kindisch geworden? Habe ich, – ich unglücklicher Blinder, der ich bin! – nicht darauf bestanden, daß Du diesem Elenden Deine Hand geben sollst? Hast Du sie ihm nicht vor dem Altar gegeben, und ist dieser Erzschurke nicht Dein Gatte?«

»Ja, allerdings.«

»Haben wir nicht das Hochzeitmahl gehalten?«

»Leider!«

»Ein Mahl, nach welchem ich, der Familienvater, die Mutter vertretend, die nicht mehr ist, meine Tochter nach dem alten Brauche in das Hochzeitgemach geführt habe . . .«

»Mein Vater . . .»

»Aus welchem ich wegging . . .«

»Mein Vater . . .«

»Und wo der Gatte eintrat?«

»Erinnern Sie sich denn nicht mehr dessen, was ich Ihnen gesagt habe, mein Vater?«

»Was hast Du mir gesagt? Laß hören! denn, wahrhaftig, ich verwirre mich ganz.«

»Ich habe Ihnen gesagt, statt des Gatten sei der Herr Graf von Artois in mein Zimmer eingeführt worden.«

»Ah! mein Gott, ja! . . . Also der Prinz! Und, in der That, meine schöne, meine keusche Ingénue war wohl würdig eines Prinzen, würdig eines Königs, würdig eines Kaisers!«

»Mein Vater, Sie täuschen sich abermals.«

»Wie, ich täusche mich abermals?«

»Mein Vater, ich habe Ihnen gesagt, und ich wiederhole Ihnen: beim Scheine der Nachtlampe, welche angezündet zu lassen ich besorgt gewesen, erkannte ich den Prinzen . . .«

»Nun?«

»Als ich ihn erkannte, bat ich ihn, meine Schwäche und meine Ehre zu schonen, und, edelmüthig wie ein loyaler Ritter, zog sich der Prinz als Biedermann zurück.«

»Ah! ah! er zog sich zurück?«

»Ja, mein Vater, und ich muß sagen, der Herr Graf von Artois war sehr gut gegen mich.«

»Vollende doch, mein armes Kind.«

»Aber, mein Vater, ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon gesagt habe.«

»Wiederhole also!«

»Nun wohl, ich habe Ihnen erzählt, nach dem Abgange des Herrn Grafen von Artois, der mich rein und respectirt ließ, sei es Herr Christian, derjenige, den Sie so eben bewunderten, gewesen, welcher in mein Zimmer eingetreten.«

Diesmal schlug Ingénue ihre Augen wieder erröthend nieder.

»Ah!« rief Rétif, »das ist es! ich begreife sehr gut: was weder der Gatte, der seine heiligen Rechte verkauft, noch der Prinz, der redlich gewesen, erlangen konnten, es ist der Liebhaber, es ist dieser Liebhaber geführt durch die ewige Liebe, durch den kleinen Gott, der hier hell sieht, trotz der Binde, die er auf den Augen trägt; es ist dieser dem Tode entwischte Schelm von einem Pagen; es ist Herr Christian, der es davon getragen, Dank sei es seinen Bitten, Dank sei es seiner Blässe und dem günstigen Augenblicke seines Besuches. Nun wohl, wenn ich es Dir sagen soll, das ist mir nicht ärgerlich: im Gegentheile . . . Ah! ah! es ist also Herr Christian! O Natur! o Natur!«

Ingénue antwortete durch eine reizende kleine Grimasse und durch eine Serie von Geberden, welche dazu dienten, mit Gewalt die zwei Arme, die Rétif beharrlich zum Himmel aufgehoben hielt, niedersinken zu machen.

 

»Es ist eben so wenig Herr Christian, als es die Anderen sind,« sagte sie, sobald es ihr gestattet war, ein Wort anzubringen; »Herr Christian, derjenige, welchen ich liebte, derjenige, welcher mich liebte. . .«

»Nun?« fragte Rétif. »Er ist derjenige von Allen, welcher mich am meisten respectirt hat.«

»Bah!« rief Rétif mit einem Erstaunen, das bei dem Greise einen sehr entschiedenen Skepticismus hinsichtlich der Unschuld der Liebe offenbarte. »Dann ist seitdem . . . ja, ich begreife, es ist seitdem das Opfer vollbracht worden?«

»Sie täuschen sich immer, mein Vater! weder damals, noch seitdem.«

»Also,« rief Rétif mit einer Bewunderung, welche nicht ganz von Zweifel frei war, »also Du bist immer noch meine Tochter? Du bist immer Ingénue? also Ihr habt Beide in Eurer muthigen Keuschheit ausgeharrt? Beide jung, Beide blühend, Beide verliebt!«

Sodann, mit einer Rückkehr zum Zweifel, und seiner Tochter scharf in die Augen schauend:

»Ist es wirklich wahr, Alles, was Du mir da erzählst?«

;,Mein Vater,« antwortete Ingénue, »ich erkläre Ihnen beim Andenken meiner Mutter, daß ich nicht aufgehört habe, Ihre Tochter und die ehrlichste Frau zu sein, die Sie kennen.«

Rétif las die Wahrheit in diesen Augen von einem tiefen, wie das Wasser der helvetischen Seen durchsichtigen Azur.

»Ah! ah!« sagte der Greis, der sichtbar zu seiner ersten Idee zurückkehrte, »nun wohl, man muß Deine Hochzeit machen.«

»Wie, meine Hochzeit?«

»Ja, der indiscrete Cupido soll nicht insgeheim diesen so lange bewahrten Schatz von Unschuld und Tugend stehlen. Ich werde der Oberpriester sein, der Deine neue Verbindung einsegnet; ich werde Deinen Mann diesen jungen Christian nennen, der übrigens ein wackerer Junge, ein allerliebster Edelmann ist.«

Ingénue machte eine Bewegung des Erstaunens.

»Höre, höre meine Ideen, liebe Ingénue,« sprach Rétif, »und Du wirst sehen, was Alles an Jugend und Großmuth noch im Herzen Deines alten Vaters vorhanden ist.«

»Ich höre,« erwiederte Ingénue, halb freudig, halb besorgt.

»Nun wohl,« sagte der Greis, »wir werden Dir eine zugleich bescheidene und freundliche Wohnung wählen. Man wird dort eine kleine Wirthschaft voll Eleganz einrichten; ich führe Dich dahin und spreche die sacramentlichen Worte, die Dich mit diesem neuen Gatten verbinden werden; wonach Du wohl verheirathet durch meinen Willen, durch meine Wahl nur noch Deine Maßregeln in den Augen des Gesetzes, das barbarisch und blind ist, zunehmen brauchst; Du wirst aber wenigstens nicht mehr vor Deinem Vater zu erröthen haben! und ich werde, statt der Leere und der Verlassenheit, die mich bedrohen, zwei Kinder haben, die mich segnen werden für das süße Leben, das ihnen mein festes Dazwischentreten geschaffen hat. Ah! meine Ingénue, das ist eine abgemachte Sache. Du stellst mir den jungen Edelmann vor; ich frage ihn, ob seine Absichten rein seien, und will er Dich zur legitimen Gattin nehmen, in Erwartung der Gelegenheit, sich mit Dir durch unauflösliche Bande zu vereinigen, so wird, da ich nicht zweifle, daß er annimmt, die Ehe bald geschlossen sein. . . Nun, sprich, bist Du glücklich? habe ich meine Vaterrolle gut gespielt? und habe ich da nicht einen herrlichen, siegreichen Gedanken, einen Gedanken Rousseau's würdig, einen Gedanken, der die wahre und gesunde Philosophie wird lächeln machen, den Gedanken, meine Tochter nach ihrem Herzen und nach dem Willen Gottes, der Menschen ungeachtet und dem Gesetze zum Trotze zu verheirathen?«

Ingénue ließ träumerisch, – denn die Worte erstickten sie und die Ideen auch, – ihre beiden Hände, die der gute Mann genommen hatte und in den seinigen streichelte, wieder fallen. Ein Schleier breitete sich über ihren sanften Zügen aus, und etwas Entschlossenes, Starres, wieder Stahl, brach gleichsam aus ihren blauen Augen hervor.

»Mein Vater,« sprach sie, »ich danke Ihnen aufrichtig und aus tiefstem Herzen; Herr Christian und ich, wir haben uns aber in dieser Hinsicht verständigt.«

»Wie, Du schlägst es aus?« rief Rétif.

»Ich lasse Ihrer unerschöpflichen Güte alle Gerechtigkeit widerfahren, mein Vater. Doch so gut Sie sind, ich nehme Ihren Vorschlag nicht an. Ich weiß, was er Alles Muthiges und Verführerisches hat; das Unglück von so vielen Frauen wahrnehmend, habe ich mir aber geschworen, nie solchen Mißgeschicken durch eine Unklugheit zu trotzen. Nein, ich will nicht die Maitresse eines Mannes sein, und besonders nicht des Mannes, den ich lieben würde. Ich liebe, und ich fühle, daß es für immer ist: meine Seele ist nicht gemacht, um das Gefühl zu wechseln; diese Liebe bildet gegenwärtig mein Leben! Am Tage, wo ich die Kette bräche, die ich an die Seele von Herrn Christian lochen lasse, würde ich sterben! Vielleicht wird er mich eines Tages nicht mehr lieben, das ist möglich; doch ich gefalle mir in dem Gedanken, daß ich an diesem Tage vor Schmerz stürbe . . . Das ist mir lieber, als vor Scham zu sterben.«

Rétif riß die Augen wie bestürzt auf; er hatte nie, selbst nicht in seinen Büchern, die Frauen mit dieser Entschiedenheit und mit dieser Sicherheit der Theorie sprechen hören.

»Ja,« fuhr Ingénue fort, »und Sie werden meiner Ansicht sein, mein Vater, dessen bin ich sicher. Die Lage einer Maitresse ist falsch im Leben. Ich bekäme Kinder, wie mir Herr Christian gesagt hat. Nun, was würde ich mit diesen Kindern machen? Sie wären verachtet; ich selbst, ich würde zittern, wenn ich sie küßte! Nein, mein Vater, nein, ich habe einen Stolz, der meine Liebe noch, übersteigt. Nie wird mich Jemand auf dieser Welt verachten, und damit ich zu diesem Resultate gelange, darf ich nicht zuerst aufhören, mich zu achten.«

Rétif hörte Alles dies mit gekreuzten Armen an; als Ingénue schwieg, horchte er noch.

»Ah!« sagte er ganz niedergeschlagen, »die Vernunft, wenn sie zu stark ist, wird Unvernunft! Stellst Du Dir zufällig vor, Herr Christian werde sich lange in diese Paradoxen schicken?«

»Er hat es mir versprochen, mein Vater; er hat mehr gethan: er hat es mir geschworen!«

»Ei!« entgegnete Rétif, »was man in der Liebe verspricht, was man schwört, ist in dem Augenblicke, wo man es verspricht, wo man es schwört, etwas, was sich schwer halten läßt; ist es schwer, so ist es also schmerzlich, und wenn es schmerzlich ist, so kann es nicht dauerhaft sein.«

Ingénue schüttelte den Kopf.

»Er hat es mir versprochen, er hat es mir geschworen,« wiederholte sie; »er wird sein Versprechen erfüllen, er wird seinen Schwur halten.«

»Ach! mein armes Kind,« erwiederte Rétif, »Du rechnest ohne die Erfahrung. Es wird ein Tag kommen, wo Dein Liebhaber anspruchsvoller sein wird, und wo Du schwächer sein wirst.«

»Nein, mein Vater.«

»Dann liebst Du ihn nicht!« *

»Oh!« rief Ingénue, »ich liebe ihn nicht!«

Erstaunt über den Ausdruck, den Ingénue in ihre Worte gelegt hatte, schaute Rétif diese schöne Statue der jungfräulichen Reinheit tief an.

»Bemerke wohl, mein Kind, daß er, angenommen, er sei treu, wie Du das annimmst, vielleicht den Tod Deines Mannes wird abwarten müssen. Auger ist dreißig Jahre alt: er kann noch fünfzig Jahre leben; Ihr werdet jedes siebzig alt sein, und Christian sogar vierundsiebzig: das ist das Alter der Weisheit.«

»Mein Vater, es wird sich eine Gelegenheit bieten, meine Ehe zu lösen.«

»Ah! Du glaubst?«

»Ich bin dessen sicher.«

»Und dann?«

»Dann wird Christian mich heirathen.«

»Er hat es Dir auch versprochen?«

»Ja,.mein Vater.«

»Erhaben! erhaben Beide!« rief der Greis in Gegenwart dieser seltsamen Macht. »Wie stark ist die heutige Jugend! Ah! wir werden alt . . . Es sei! meine Tochter! mache es, wie Du willst!«

Und er küßte sie zärtlich.

»Gleichviel,« fügte er mit bewegter Stimme bei, »beschleunige immerhin die Gelegenheit; glaube mir, das ist sicherer als Alles.«

»Ich beschleunige sie,« erwiederte Ingénue.

»Wie dies? Ist das ein Geheimniß?«

»Nein, mein Vater. Ich bete!«

Der Philosoph Rétif schüttelte den Kopf.

»Oh!« sagte Ingénue, »Gott hat mir noch nie etwas verweigert.«

»Du hast Glück. Welchem Umstande schreibst Du das zu?«

»Dem, daß mein einziger und alleiniger Geliebter der Schutzengel ist, den er mir gesandt hat, um ihm meine Gebete zu übermitteln.«

LVI
Wo der Sturm wächst

Wir haben in einem der vorhergehenden Kapitel gesehen, auf welche Art Auger die Angelegenheiten von Réveillon geführt, und wie er seine Maßregeln getroffen, um eintretenden Falles eine gewisse Quantität Gold verfügbar zu finden. Kehren wir zu diesen Angelegenheiten zurück.

Wir haben auch gesagt, der Tapetenfabricant sei zum Wähler ernannt worden. Fügen wir bei, diese Würde habe ihm viele Feinde gemacht.

Seit einigen Wochen veränderte sich Paris augenscheinlich man trat aus dem gräßlichen Winter von 1788 hervor, in dessen Mitte der Ofen der Wahlen sich entzündet hatte; ausgehungert, erfroren, daß man hätte glauben sollen, es ringe mit dem Tods, fing Paris doch plötzlich an Flammen auszuwerfen, zu tosen und auszubrechen wie ein Vulcan. Müde der Tage der Aufregung, die man durchgemacht, ruhten die Leute von Ordnung und Verstand; doch gerade weil sie ruhten, begannen diejenigen, welche ein Interesse bei der Unordnung hatten, ihre unterirdischen Wühlereien.

Es braucht Jahrhunderte, um ein Volk zum Zustande des Aufwallens zu bringen; ist es aber einmal zu diesem Zustande gelangt, so steigt es unablässig, bis es selbst den revolutionären Herd, der es sieden macht, mit seinen überströmten Wellen ausgelöscht hat.

Die Wahl von Réveillon, das heißt von einem Gemäßigten unter den Gemäßigten, hatte die entgegengesetzte Partei ungemein erbittert; man hörte nichts als Geschrei gegen den unglücklichen Handelsmann, diesen Verräther, der so unklug gewesen, zu erklären, der Tag eines Arbeiters sei mit fünfzehn Sous reichlich bezahlt.

Von jener Zeit an war, wie man sieht, die Frage, die sich 1843 erneuerte, hierbei; die Bürger, die Handelsleute, kurz diejenigen, welche den Proletarier beschäftigen, behaupteten, dieser widerspenstige Proletarier, voll schlimmer Absichten, wolle nicht mit fünfzehn Sous leben, während der Proletarier ganz einfach antwortete: »Nicht, daß ich nicht will, sondern ich kann nicht.«

Allmälig zählten sich die Proletarier: sie sahen, daß sie sehr zahlreich waren, und als sie sich ihrer Zahl wohl versichert hatten, gingen sie von der Verleugnung zur Drohung über.

Und da. am Ende Réveillon die erste Ursache von Allem dem war, so war er es auch, den wachsend dieser Lärm besonders bedrohte. In dem Augenblicke, von dem wir sprechen, erheischte es die Sicherheit, fast die Notwendigkeit, daß man seine Meinungen veröffentlichte oder sie auf irgend eine Art kund machte.

Wir sind weit davon entfernt, zu versichern, diese Manifestationswuth habe je in Frankreich gute Resultate herbeigeführt; da man aber übereingekommen, da es sogar erwiesen, daß der französische Charakter der offenste und demonstrativste der Charaktere ist, so muß man sich wohl zu den Demonstrationen entschließen, wenn sie stattfinden.

Die Leute vom Faubourg . . . Hier eröffnen wir eine Parenthese, denn es geziemt sich für uns Romanendichter, im Namen der Geschichte zu protestieren: die Geschichte hat gesagt: »Die Leute vom Faubourg;« wir wiederholen nach ihr: »Die Leute vom Faubourg;« doch wir fügen bei: es waren nicht die Leute vom Faubourg allein. Viele Leute, werden wir sagen, um wahrer zu sein, hatten sich von allen Winkeln von Paris versammelt, um es einstimmig schlecht zu finden, daß Réveillon zu einem so mäßigen Preise den Tag der Arbeiter taxiert hatte, und was in ihren Augen Réveillon noch viel strafbarer machte, war, daß er, nachdem er selbst als Arbeiter angefangen, vom Fleiße der Arbeiter gelebt und sich bereichert hatte.

Es gab aber zu jener Zeit eine Strafe, die man. um so leichter anwandte, als man bis dahin den Schuldigen nicht viel zu Leide gethan hatte: man verbrannte im Bildnisse.

Die Brenner, welche eine besondere Klasse der Gesellschaft zu bilden schienen, hatten schon einzeln oder mit einander Herrn von Calonne, Herrn von Brienne, Herrn von Meaupeou, Herrn von Lamoignon und sogar unsern Freund Dubois, den Ritter von der Wache, verbrannt. Sie beschäftigten sich also damit, da ihnen die Gelegenheit geboten war, ein wenig, und zwar auf eine ergötzliche Art, Réveillon den Aristokraten, Réveillon das schlechte Herz, Réveillon den schlechten Bürger zu verbrennen. Wie wäre er erstaunt gewesen, der naive Handelsmann, hätte er gehört, wie man ihm alle diese Titel gab und leise an ihn verschwendete!

Es war übrigens nicht schwierig, Herrn Réveillon auf die möglichst ergötzliche Art zu verbrennen, und man hatte jede Leichtigkeit hierfür.

 

Réveillon war kein Minister; er hatte keine Wachen, keine Schweizer, keine Gitter mit Regimentern dahinter aufgestellt.

Er wohnte meinem Hause, in seiner Fabrik hinter einem Fensterwerk, im Hintergrunde eines beständig offenen und kaum von einem Hunde beschützten Hofes.

Man mußte ein wenig sehen, was dieser Wehrwolf Réveillon machte, während man ihn im Bildnisse verbrennen würde.

Der Ritter von der Wache, der sich so eifrig in die Sache der Herren von Lamoignon und von Brienne gemischt hatte, würde sich sicherlich nicht in die von Herrn Réveillon mischen.

Wer war Herr Réveillon? wußte man nur bei Hofe, was bei Herrn Réveillon vorging?

Am 27. April fingen also die Barrieren von Paris, gegen neun Uhr Morgens, an den schäumenden Koth passiren zu lassen, den jede Gosse der Hauptstadt wie eine Schleuse ausspeit und als eine Lebensmaterie aufs Neue schafft, wenn der Tag der revolutionären Executionen gekommen ist.

Mit dieser Menge verbanden sich alle Ausgehungerten vom Winter, ihre bleichen Wangen und unter ihren Lippen, welche fast so bleich als ihre Wangen, eine doppelte Reihe von bedrohlichen Zähnen zeigend.

Anfangs schien diese ganze Masse keinen sehr bestimmten Plan zu haben, und da sich Niemand ihrem Marsche widersetzte, so war ihr Marsch langsam und zögernd. Diese Unglücklichen blieben in Gruppen stehen, und mitten unter diesen Gruppen, wie es fast immer geschieht, nahm ein Redner das Wort, um die Frage zu lösen, ob sie frei seien oder nicht, und ob sie nicht, sobald sie Wähler haben, in einer Republik seien.

Ueber diesen letzten Punkt blieb man im Zweifel, doch der erste, der der Freiheit, wurde bejahend entschieden.

Und aus dieser Freiheit schlossen sie natürlich auf das Recht, Réveillon im Bildnisse zu verbrennen, weil er die Vermessenheit gehabt, sich des Verbrechens der Volksbeleidigung schuldig zu machen.

Man verfertigte einen ungeheuren Strohmann, noch vier bis fünf Fuß größer als die der Herren Lamoignon und Brienne; was, wie man sieht, eine ungemeine Ehre für einen einfachen Tapetenhändler war. Man decorirte diesen Strohmann mit dem großen schwarzen Bande, das der Hof der Sage nach Herrn Réveillon schicken sollte; auf die Brust des Strohmanns schrieb man sodann das Urtheil mit dem Verbrechen; wonach man aus dem Faubourg Saint-Antoine gegen die Bastille, in deren Nähe das Haus des Fabricanten lag, den zugleich grotesken und drohenden Zug marschieren sah.

Vor dem Hause von Réveillon angelangt, machte die Menge Halt; man hob ein paar Pflastersteine auf und pflanzte in die Erde die Stange, welche den Gliedermann trug; man reclamirte von der Gefälligkeit der Leute vom Quartier Stroh und Reisbündel, brennbare Stoffe, welche diese halb aus Furcht, halb durch den Neid bewogen, den die reichen Nachbarn immer ihren armen Nachbarn einflößen zu liefern sich beeiferten; dann hielt man an das angehäufte Material eine Fackel, die Fackel ergriff einen Bund Stroh, und die Menge sing an zu brüllen wie ein Löwe, der sich, ehe er sein Frühstück mit einem Ochsen oder einem Pferde macht, an Hasen oder an Gazellen versucht.

Doch bekanntlich führt immer eine Idee eine andere herbei, nach der Idee, Réveillon im Bildnisse zu verbrennen, kam der Menge die noch viel sinnreichere und noch viel mehr moralische, aus dem Gesichtspunkte des Verbrechens, das er begangen, ihn in Wirklichkeit zu verbrennen.

Diese Strafe der Wiedervergeltung, bei der fast immer der Geist der Völker stehen bleibt, wenn nicht weil sie die gerechteste, sondern weil sie die logischste ist, bot sich übrigens auf eine natürliche Art dem Geiste der Menge. »Ein Mensch kann mit fünfzehn Sous täglich leben,« hatte Herr Réveillon gesagt. »Nun wohl, Herr Réveillon muß ein wenig erfahren, was fünfzehn Sous täglich sind,« sagte die Menge,

Da erschienen nun wirklich die seltsamen Gestalten, die sich nur an solchen Tagen zeigen; da Erblickten die in den ersten Stockwerken der Häuser des Faubourg befindlichen Personen von fern jene häßlichen Bettler, versehen mit dicken Stöcken, die ihnen als Stütze dienten, bis sie ihnen als Keulen dienen könnten.

Ueberdies hatte man, wie man sich ganz leise sagte, gewisse Personen heimlich Geld unter die Gruppen austheilen sehen; man hatte dies am vorhergehenden Abend gesehen, man hatte es am Morgen gesehen, und wenn man aufmerksam schaute, sah man es im Augenblicke noch.

Es waren endlich mehrere anonyme Briefe an die Adresse von Réveillon abgeschickt worden; doch seltsamer Weise war ihm keiner derselben zugekommen.

Im Momente des Angriffs befand sich der Fabricant mit seinen Töchtern in seinem Garten; der Frühling versuchte ein erstes Lächeln, wie es die Natur so heiter stimmt; der Schnee, der die Erde während des strengen Winters von 1788 überschüttet und befruchtet hatte, schmolz allmälig unter dem ersten Hauche des Zephyrs, wie Horaz gesagt hat, und wie es seitdem so viele Leute wiederholt haben, daß es von etwas Reizendem, Pittoresken etwas Gemeines, Triviales geworden ist.

Noch von ihrer Frühlingswolle umhüllt, singen die Knospen an mit Energie aus den röthlichen Zweigen hervorzuspringen, unter denen man schon den Saft kreisen fühlte.

Gedrängt, ihre Farben zur Schau zu stellen und ihre Wohlgerüche zu verbreiten, blähten die Violen ihre Köpfe auf und schaukelten ihre goldenen Büsche über den Schlüsselblumen und den Veilchen.

Die Mauern, die man zwischen den kahlen Aesten der Bäume durch erblickte, erschienen noch weißer und gewaschener, abgetrocknet durch die Sonne, die ihre Dünste anzog.

Es lag mit einem Worte in Allem dem, was in den Augen der Menschen diese glückliche Epoche des Jahres repräsentirte, in den Blumen, in den Pflanzen und sogar in den Steinen etwas, was der Natur ein langes Leben und eine lange Wohlfahrt versprach.

In diesem Augenblicke, und obgleich beschäftigt mit seinen Arbeiten und seinen ländlichen Ideen, glaubte Réveillon ein entferntes Gemurmel zu hören.

Er horchte; seine Töchter horchten mit ihm.

Man sing übrigens an sich an Gährungen zu gewöhnen; seit den Wahlen zogen in allen den großen Pulsadern von Paris, die man die Quais, die Boulevards, die Rue Saint-Jacques und den Faubourg Saint-Antoine nennt, – und zwar bald mit Gesängen, bald mit Drohungen, – die mit ihren Wahlen zufriedenen oder unzufriedenen Patrioten hin und her.

Einen Augenblick konnte Réveillon sich vorstellen, es sei einer von den Sturmwinden, wie er sie in den vorhergehenden Tagen hatte vorüberziehen sehen; er habe seinen geräuschvollen Weg durch den Faubourg genommen; doch nach Art der Wolken werde er passieren, ohne etwas Anderes zu verwüsten, als die Fensterscheiben und die Laternen.

Réveillon täuschte sich: der Sturmwind hörte nicht auf; er wuchs an Getöse und dumpfen Drohungen und concentrirte sich vor dem Hause des unglücklichen Wählers selbst; da er es nicht sah, so beurtheilte er es wenigstens so nach den Echos, welche das Geschrei um ihn her erweckte.

Er verließ den Garten, eilte nach der Seite der Höfe und sah, daß die Thore schon geschlossen waren; man war dem Befehle, den er geben wollte, zuvorgekommen.

Es erschollen indessen einige unheimliche, langsame Schläge an dem massiven Thore; sie waren nun das einzige Geräusch, das sich hörbar machte.

In der That, diese ganze Menge sprach kein Wort; das war wohl die Minute der schwer lastenden, bedrohlichen Stille, die den großen Krisen der Natur vorhergeht, wo der Vogel unter seiner Laube, das Rothwild in seinem Lager und sogar der Mensch, dieser ewige, die Erde oder den Himmel befragende Oedipus, schweigt.

Bei den Schlägen, die man an die Thüre that, näherte sich Réveillon ängstlich und öffnete einen in der Dicke des Eichenholzes angebrachten, solid mit kleinen Drahtmaschen vergitterten Schalter.

Ein gelbes, erdfarbiges Gesicht mit struppigen rochen Haaren; zwei Augen oder vielmehr zwei Löcher, in deren Tiefe zwei angezündete Kohlen brannten; das waren die beruhigenden Gegenstände, welche Réveillon auf der andern Seite des Gitters einen Zoll von seinem Gesichte erblickte.