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XLIV
Der Hochzeitabend

Christian, der von Marat weggegangen war, ohne daß er sich die Scene, die hier vorgefallen, recht hatte erklären können, kam zu seiner Mutter zurück.

Hier hatte er einen glaubwürdigen Grund, um allein auszugehen: das war ein Besuch, den er dem Herrn Grafen von Artois machen müsse.

Der Prinz hatte den Unfall erfahren, der seinem Pagen zugestoßen, und da der Herr Graf von Artois ein vortreffliches Herz war, so hatte er sich mehrere Male auf eine sehr liebreiche Art nach ihm erkundigen lassen.

Ueberdies hatte der Prinz Christian persönlich bemerkt, und er liebte ihn ungemein wegen seiner vornehmen Miene.

Um fünf Uhr entfernte sich der junge Mann von Hause, um sich zum Prinzen zu begeben, entschlossen, vom Prinzen weggehend Alles zu thun, was ihm möglich wäre, um Ingénue zu sehen; denn, wie gesagt, und wir wiederholen es, er hatte in seinen Fieberträumen nicht aufgehört, das Bild des Mädchens anzubeten; diese sanfte Fee hatte tausendmal den Balsam auf seine Wunde gegossen, und neben der Qual der Abwesenheit hatte er die Träume der Zukunft gehabt.

Der Prinz schien erfreut zu sein; er wünschte Christian Glück zu seiner Wiedergenesung und versprach von selbst, ein Wort des Dankes Marat über die schöne Cur, die er gemacht, zu sagen.

Ehe er beim Grafen von Artois eingetreten, hatte Christian seinen Wagen weggeschickt und dem Kutscher befohlen, seiner Mutter zu sagen, der Prinz behalte ihn einen Theil des Abends bei sich; auf diese Art wäre die Gräfin nicht besorgt und Christian frei.

Gegen sieben Uhr ging Christian vom Prinzen weg, nahm einen Fiacre und ließ sich bis zum Quai Saint-Bernard fahren.

Dies war nach der Berechnung von Christian die Stunde, wo Rétif, der alle Abende mit seiner Tochter ausging, mit ihr zurückkommen mußte; wären sie nicht zurückgekommen, so würde er sie im Vorübergehen sehen und ihr ein Zeichen machen; wäre sie

zurückgekommen, so würde er es wagen, hinaufzugehen und an die Thüre von Ingénue zu klopfen.

Das war viel Keckheit; doch wenn sie Alles, was er gelitten, erführe, würde ihm Ingénue verzeihen.

Christian fühlte sein Herz immer stärker schlagen, so wie er in der Straße fortschritt; er heftete von fern die Augen auf das Fenster, das er durch den sanften, zitternden Schein der Lampe erleuchtet zu finden erwartete.

Das Fenster war dunkel.

»Gut!« sagte Christian, »sie sind noch nicht nach Hause gekommen; denn es ist nicht möglich, daß sie zu dieser Stunde schon zu Bette gegangen; überdies schläft Ingénue nicht ohne Nachtlampe, und ist die Nachtlampe einmal angezündet, so nimmt der Vorhang ihres Zimmers eine rosenfarbige Tinte an, durch die sie bemerkbar wird.«

Christian begann auf und ab zu gehen.

Er ging so ungefähr eine Stunde,

Nach einer Stunde fühlte er in seinem verwundeten Beine eine unerträgliche Müdigkeit, während zugleich ein Anfang von Unruhe sich seiner bemächtigte.

Er kehrte zum Quai zurück, winkte seinem Kutscher, zu ihm zu fahren, stieg wieder in den Fiacre ein und befahl dem Kutscher, drei bis vier Thüren von der von Ingénue Halt zu machen.

In diesem stillstehenden Fiacre hörte Christian acht Uhr, halb neun Uhr und neun Uhr schlagen.

Er sah die Straße immer mehr veröden, bis fit am Ende beinahe einsam und verlassen war. i

Da ward ihm im Ernste bange: es war sehr spät, – halb zehn Uhr vorüber, – für Rétif und seine Tochter, um erst nach Hause zu kommen.

Endlich entschloß er sich, auszusteigen und einen Nachbar zu fragen; – von Portier war damals in bürgerlichen Häusern noch nicht die Rede.

Dieser Nachbar war ein Gewürzkrämer, der eben seinen Laden schloß, als Christian ihn befragte.

»Mein Herr,« fragte Christian, »könnte ich wohl von Ihnen erfahren, ob nicht ein Unglück Herrn Rétif de la Bretonne begegnet ist, der im vierten Stocke des Ihnen benachbarten Hauses wohnt?«

»Ah!« erwiederte der Gewürzkrämer, »war das nicht ein Drucker, der Bücher machte und setzte?«

»Ganz richtig.«

»Der eine Tochter hatte?«

»Ja.«

»Mein Herr, es ist ihm kein anderes Unglück begegnet, als daß er ausgezogen.«

»Wie, daß er ausgezogen?«

»Vorgestern.«

»Wissen Sie, wohin er gezogen ist?«

»Nach dem Faubourg Saint-Antoine.«

»Kennen Sie seine Adresse?«

»Nein, ich weiß nur, daß er bei einem Tapetenhändler wohnt.«

»Wäre es nicht bei seinem Freunde Herrn Réveillon?«

»Herr Réveillon, so ist es! ja, bei Herrn Réveillon.«

Christian dankte dem Gewürzkrämer, stieg wieder in seinen Fiacre und gab ihm die Adresse von Herrn Réveillon, die er kannte, weil er sie zweimal von Ingénue hatte nennen hören.

Eine Viertelstunde nachher hielt der Fiacre auf der andern Seite der Straße, dem Hause des Tapetenhändlers gegenüber.

Eine Reihe von Fiacres stand vor der Thüre, auf Kunden wartend, indeß die glühend erleuchteten Fenster des ersten Stockes einen großen Schein bis auf die Straße warfen.

Christian hörte das Geräusch von Instrumenten und sah Schatten sich hinter den Vorhängen bewegen.

Der junge Mann begriff, daß ein Ball bei Réveillon stattfand; doch aus welchem Anlasse dieser Ball?

Er beauftragte seinen Kutscher, sich zu erkundigen.

Der Kutscher stieg von seinem Bocke, wechselte ein paar Worte mit einem Kameraden und kehrte zurück.

»Nun,« fragte Christian, »was gibt es?«

»Man heirathet im Hause, und das ist es.«

»Wer heirathet?«

»Ei! ein Mädchen.«

»Weißt Du den Namen?«

»Ich habe nicht danach gefragt.«

»Erkundige Dich und suche den Namen der Person, welche heirathet, zu erfahren.«

Der Kutscher ging wieder ab, um neue Erkundigungen einzuziehen.

Alles, was Christian bis dahin erfahren, war seltsam, doch nicht beunruhigend. Herr Réveillon hatte zwei Töchter; man tanzte im ersten Stocke, das heißt bei Herrn Réveillon; es war also aller Wahrscheinlichkeit nach die Eine oder die Andere von den Demoiselles Réveillon, welche heirathete.

Und dennoch ward sein Herz unwillkürlich ganz beklommen, während sein Kutscher von Fiacre zu Fiacre ging, um die anderen Kutscher zu befragen.

Endlich kam der brave Mann zurück.

»Ei! Herr,« sagte er, »sie behaupten, sie wissen den Namen der Braut nicht: nur findet die Hochzeit, wie Sie sehen, bei Herrn Réveillon statt.«

»Ohne Zweifel ist es die Hochzeit von einer der Töchter. . .«

»Nein, Herr,« unterbrach der Kutscher; »ich habe mich erkundigt: die Person, welche heirathet, wohnt erst seit zwei Tagen bei Herrn Réveillon.«

»Was sagt dieser Mensch?« murmelte Christian, das, was ihm der Gewürzkrämer der Rue des Bernardins erzählt hatte, mit dem, was ihm sein Kutscher sagte, zusammenstellend.

Er schlug zu den Fenstern des ersten Stockes einen Blick voller Bangigkeit auf.

In diesem Momente öffnete sich eines der Fenster: Gesänge, freudiges Geschrei überströmten sogleich aus dem Hause auf die Straße; ein Mann stützte sich mit den Ellenbogen auf das Gesims dieses Fensters; Christian schien es unbestimmt, als kennete er diesen Mann.

Das hieß zu viel durch die Ungewißheit leiden: Christian öffnete den Schlag seines Fiacre, um auszusteigen und sich selbst zu erkundigen.

Doch in demselben Augenblicke, und als es Mitternacht schlug, kam ein anderer Fiacre an und stellte sich, statt sich der Reihe anzuschließen, meinem dunklen Winkel der Straße, ein paar Schritte vom Fiacre von Christian, auf.

Dieser Fiacre war bewohnt von einem Manne, der, wie Christian, hierher gekommen zu fein schien, um Jemand zu erwarten, und der auch, wie Christian, nicht gesehen zu werden wünschte, denn nach, dem er vorsichtig seinen Kopf aus dem Schlage vorgestreckt, warf er sich, da er ein paar Gäste sah, die aus dem Hause herauskamen und einen Wagen riefen, in den Fond des seinigen zurück.

Hinter diesen drei bis vier ermüdeten Tänzern kam ein Mann hastig heraus und suchte um sich her in der Dunkelheit.

Ohne Zweifel hatte der Fiacre an einem zum Voraus bezeichneten Platze angehalten, denn der Mann lief auf den andern Fiacre zu, ohne sich um den von Christian zu bekümmern,

Christian dachte, durch diesen Mann werde er wahrscheinlich mehr erfahren, als durch die Kutscher; er sprang daher zu Boden und ging an den Häusern anstreifend bis zu einem Thorwege, dessen Vertiefung ihm Schutz bot.

Der Mann, der aus dem Hause herausgekommen und auf den zweiten Fiacre zugegangen, war mit einer seltsamen Sorgfalt, nach Art eines Bürgers im Sonntagsstaate, gekleidet.

»Der Bräutigam ohne Zweifel,« sagte Christian zu sich selbst.

Er hatte in der That einen großen Strauß am Knopfloche seines Frackes.

Dieser Mann, als er zum Fiacre kam, nahm seinen Hut ab und fragte mit leiser Stimme:

»Sind Sie es, Monseigneur?«

Die leiseste Stimme trägt bei Nacht sehr weit, wenn alle Atome der Luft sich getheilt, geöffnet haben, um den Ton besser in ihren Zwischenräumen durchschlüpfen zu lassen.

»Ah! ah! Du bist es?« sagte eine Stimme, welche aus dem Wagen hervorkam.

»Ja, Monseigneur.«

Christian horchte, den Athem an sich haltend, bei dem Monseigneur noch aufmerksamer.

»Nun,« fragte derjenige, welcher vor dem Fiacre stand, »bin ich ein Mann von Wort und habe ich Ihnen eine falsche Nachricht gegeben?«

»Oh! bei meiner Treue, ich glaubte nicht daran.«

»Was glaubten Sie denn?«

»Ei! Du bereitest Dir eine kleine Rache. Du warst drohend weggegangen, ich hatte das nicht vergessen, und zum Beweise dient, daß ich auf meinen Bock, zur Schutzwache, einen Mann mit Pistolen genommen habe . . . und ich selbst bin auch mit Pistolen bewaffnet, wie Du sehen kannst.«

»Unnöthige Vorsicht, Monseigneur!« entgegnete mit Bitterkeit derjenige, welchem man mißtraute; »ich habe allerdings gesagt, ich werde mich für Ihre Ungerechtigkeiten rächen; doch meine Rache ist: was Sie gewünscht haben, biete ich Ihnen an, was ich Ihnen versprochen hatte, gebe ich Ihnen. Ein ehrlicher Mann hat nur sein Wort.«

 

»Die Kleine ist also da?«

»Das heißt, meine Frau ist da, ja, Monseigneur.«

»Ah! . . . und Du?«

»Ich, Monseigneur, ich werde gehen; Sie werden bleiben. Jedermann ist bereit, sich zu entfernen, wie Sie sehen können. Drei bis vier Buchende warten nur noch, um von mir Abschied zu nehmen; der gute Mann von einem Vater segnet seine Tochter; ist seine Tochter gesegnet, so wird er sich zurückziehen und zu Bette legen. Ich bringe Ihnen einen Schlüssel von meinem Zimmer; Sie nehmen meine Stelle ein, und Sie lernen durch das Opfer, das ich Ihnen bringe, in Zukunft den Treuesten Ihrer Diener besser behandeln.«

»Oh! was Du da thust, ist erhaben!«

»Scherzen Sie nicht, Monseigneur! das war eine ernstere Sache, als Sie glauben: es handelte sich ganz einfach um die Wiederherstellung meiner Ehre. Sie hatten vor mich in Ihrer Achtung die Bontems, die Lebel, Flausenmacher und Gaukler, gestellt: ich wollte Ihnen beweisen, daß ich thun konnte, was Keiner von diesen Leuten je gethan hat.«

»Wohin des Teufels verirrt sich die Eigenliebe!« murmelte derjenige, welchem man den Titel Monseigneur gab.

»Stille nun, wenn es beliebt! . . . Haben Sie die Familie Santerre herauskommen sehen, – drei Personen: eine Frau, ein Kind und einen Burschen von fünf Fuß zehn Zoll, den Bierlieferanten vom ganzen Quartier, – dann treten Sie kühn ein und steigen Sie in den dritten Stock hinauf; die Thüre, deren Schlüssel Sie haben, ist gerade der Treppe gegenüber.«

»Wohl! wohl! Du wirst von mir hören, und Du sollst sehen, wie ich mein Unrecht wieder gut mache.«

»Es zugestehen, Monseigneur,« sprach der Mann zu Fuße mit sententiösem Tone, »das ist schon viel!«

»Gleichviel, Du wurdest Dich nicht hiermit gegen Deine Hochzeitnacht begnügen, und Du hättest Recht. . . . Adieu, Auger!«

Christian hatte dieses ganze Gespräch gehört, und es schien ihm, als träumte er, denn er begriff nichts davon und konnte nicht glauben, er sei betheiligt bei dieser Komödie, welche zwischen dem Manne, den man Monseigneur nannte, dem Anderen, den man Auger nannte, und dieser jungen Frau, die ihr Mann so schamlos an irgend einen vornehmen Herrn in der Hochzeitnacht verkaufte, gespielt wurde.

Indessen durchzogen, mitten unter Alle dem, Schauer seinen ganzen Leib; die Stimme des Mannes, der sich im Fiacre verbarg, war ihm nicht unbekannt; den Namen Auger hatte er schon aussprechen hören.

Er horchte noch, doch das Gespräch war beendigt; der Mann, den man Auger genannt, war in das Haus hinaufgegangen, aus welchem er kurz darauf hinter drei Personen, die er bezeichnet, hinter Santerre, seiner Frau und seinem Sohne, wieder herauskam.

»Gute Nacht, Herr Santerre,« sagte er laut, den Schlag des Fiacre schließend, in welchen dieser eingestiegen war; »gute Nacht, Madame Santerre! morgen!«

Ein Ausbruch mehrerer Stimmen, gefolgt von einem schallenden Gelächter, schloß die Conversation.

Der Fiacre ging ab.

Auger winkte nun: der Schlag des zweiten Fiacre öffnete sich, ein Mann in einen Mantel gehüllt stieg aus; er ging behutsam auf die Thüre zu, wo Auger wartete; dieser steckte ihm in die Hand etwas, was, wie Christian begriff, der versprochene Schlüssel sein mußte, und als hätte er befürchtet, es hege der Mann, den er Monseigneur nannte, noch einiges Mißtrauen, wandte sich der Neuvermählte um die Straßenecke und verschwand.

Christian blieb unbeweglich und erschrocken: je weniger er begriff, desto mehr hatte er bange.

Sobald sich Auger entfernt hatte, trat der Unbekannte ins Haus ein, schloß die Thüre hinter sich, und das war Alles.

Da erscholl durch das offen gebliebene Fenster eine Christian wohlbekannte Stimme bis auf die Straße und traf ihn, viel tödtlicher, als die Kugel, die ihn in den Schenkel getroffen, mitten ins Herz.

Das war die Stimme von Rétif, welcher rief:

»Ho! mein Schwiegersohn, schließen Sie wohl Ihre Thüren, und gute Nacht! . . . Hymen, ich empfehle Dir meine Ingénue!«

Und das Fenster schloß sich wieder.

Christian fiel niedergedonnert auf einen Weichstein.

»Oh! es ist kein Zweifel mehr,« murmelte er, »Ingénue ist verheirathet! Aber,« sprach er plötzlich, »wer ist dieser Auger, der meine Frau sagt und aus dem Hause flieht, in welches er einen Anderen statt seiner eintreten läßt? . . . Wer ist derjenige, welchen man Monseigneur nennt? Welchem von Beiden empfiehlt Rétif Ingénue? . . . Oh! verfluchtes Haus!« rief er, »warum öffnest du nicht deine Seiten, um meinen Blick in deine dunkelsten Winkel eindringen zu lassen?«

Und er streckte gegen das Haus seine krampfhaft zusammengezogenen Hände aus, als hätte er es mit seinen Nägeln aufbrechen wollen.

Bald aber ließ er seine erschöpften Arme fallen, und trunken vor Zorn, gab er sich der allmächtigen Woge seines Unglückes hin.

»Ich werde morgen dieses Geheimniß erfahren,« sagte er; »morgen wird dieser Mensch, der eingetreten ist, herauskommen, und ich werde da sein, um sein Gesicht zu erkennen.«

Er lehnte sich an die Mauer an, um nicht zu fallen.

Als er sodann die Lichter des Salon im ersten Stocke erlöschen und im dritten Stocke allein die Nachtlampe, – den unseligen Zeugen des Glückes von einem Andern, – glänzen sah, stieg er in seinen Fiacre, den er etwas weiter fahren und dann quer vor der Thüre selbst halten ließ , und hier, auf seinen Polstern, schnatternd und weinend, zählte er die langen Stunden dieser entsetzlichen Nacht in Erwartung des Abganges von diesem Manne, der ihm sein Glück stahl.

XLV
Das Brautgemach

Es verging so mehr als eine Stunde, eine Stunde unaussprechlicher Bangigkeiten und namenloser Qualen für Christian.

Während dieser Stunde stieg er zwanzigmal aus seinem Fiacre und zwanzigmal wieder ein.

Zwanzigmal hefteten sich seine Augen auf die Nachtlampe, deren unbewegliche Helle durch die Vorhänge des Fensters durchschien.

Endlich glaubte sein gespanntes Ohr ein Geräusch in dem Gange zu hören, dessen Thüre, nachdem man lange vergebens daran gerüttelt, sich endlich unter den Anstrengungen einer unerfahrenen Hand wieder öffnete.

Durch diese halb geöffnete Thüre stürzte ein in einen Mantel gehüllter Mann heraus.

Doch durch das Geräusch aufmerksam gemacht, hatte Christian Zeit gehabt, aus seinem Fiacre auszusteigen und sich auf den Weg dieses Mannes zu stellen.

Der Unbekannte blieb stehen: Christian begriff, daß unter den Falten seines Mantels seine Hand das Heft eines Degens suchte.

Ehe er jedoch diesen Degen zog, machte er einen Schritt rückwärts, und mit einer Stimme, welche die Gewohnheit des Befehlens andeutete, sagte er:

»Holla! mein Herr, der Sie mir so den Weg versperren, wer sind Sie, wenns beliebt, und was wollen Sie von mir?«

»Ich will wissen, wer Sie sind, mein Herr, der Sie zu einer solchen Stunde aus diesem Hause herauskommen?«

»Gut!« versetzte eine spöttische Stimme, »es scheint, ich habe es mit dem Herrn Ritter von der Wache zu thun; ich glaubte nicht, die Polizei von Paris sei so gut beschaffen.«

»Ich bin nicht der Ritter von der Wache, und das wissen Sie wohl, mein Herr,« entgegnetete Christian.

»Nun denn, wenn Sie nicht der Ritter von der Wache sind, so lassen Sie mich gehen,« sagte der Unbekannte.

Und den Arm ausstreckend, machte er eine Bewegung, um Christian auf die Seite zu schieben.

Dieser packte mit seiner linken Hand den Kragen vom Mantel des Unbekannten, und indeß er seinen Degen mit seiner Rechten zog, entfernte er diesen Mantel von dem Gesichte, das er bedeckte.

Zu gleicher Zeit wich er aber ganz erschrocken zurück.

»Monseigneur der Graf von Artois!« rief er.

»Oh! Monseigneur, Sie sind es?«

»Mein Page Christian!« rief der Graf von Artois, indem er einen Schritt vorwärts that, während der junge Mann drei rückwärts machte.

»Monseigneur, Monseigneur,« rief Christian, »vor drei Stunden höre ich Ihre Stimme, erkenne ich Ihren Gang, und dennoch . . . oh! nein, oh! nein, ich wollte nicht glauben . . .«

»Was wollten Sie nicht glauben, mein Herr?«

»Eure Hoheit habe sich entschließen können, zu thun . . .«

»Was zu thun?«

»Was sie hier gethan hat.. . das abscheulichste aller Verbrechen zu begehen!«

»Wie beliebt?« rief der Prinz, »und in welchem Tone sprechen Sie mit mir, Herr Christian?«

»Eure Hoheit weiß also etwas Gräßliches nicht?«

»Was?«

»Daß sie den Platz eines Mannes einnimmt, der heute geheirathet hat.«

»Und der seine Frau an mich verkauft hatte.,. Doch, Herr Christian, ich weiß das.«

»Und Eure Hoheit gesteht . . . Schändlich!«

Der Prinz zuckte die Achseln.

»Ah!« sagte er, »man ist also sehr tugendhaft bei meinen Pagen? Was will denn das Volk von Paris, das über Unsittlichkeit schreit, wenn ich vorübergehe?«

»Monseigneur, ich bin moralisch oder unmoralisch, das geht das Volk von Paris nichts an; was aber mich angeht, was mein Gewissen mir sagt, was meine Ehre mir verbietet, ist, einem Prinzen zu dienen, den man durch solche Dienste entehrt. Ich bedaure dem zu Folge, meine Entlassung zu den Füßen Eurer Hoheit niederlegen zu müssen.«

»Hier! so! auf der Straße!« versetzte der Prinz mit einem schallenden Gelächter.

»Ja, mein Prinz,« antwortete Christian ernst; »und es ist nicht meine Schuld, wenn Sie zu Ihren Füßen fallend in den Koth fällt.«

»Oh! bei meiner Treue, das ist ein spaßhafter Kerl!« rief der Graf von Artois gereizt.

»Monseigneur, ich bin ein guter Edelmann; ich bin nicht mehr in Ihrem Dienste, und. . .«

»Und?«

»Und Sie beleidigen mich, glaube ich!«

»Oh! meinetwegen, Herr Christian! ich bin schlechter Laune diesen Morgen, und ich würde nicht ungern Jemand züchtigen.«

»Monseigneur. . .«

»Verstehen Sie mich, mein Herr, denn ich spreche auch als Edelmann mit Ihnen. Nicht wahr, Sie finden sich beleidigt?«

»Monseigneur. . .«

»Sie finden sich beleidigt! ja oder nein?«

»Monseigneur. . .«

»So antworten Sie doch beim Teufel!«

»Monseigneur hat das Wort Kerl ausgesprochen.«

»Wohl: es sei! Nehmen Sie Genugthuung an, ich biete sie Ihnen: Sie sind nun auf dem Niveau von Seiner Hoheit dem Herzog von Bordeaux; das ist, wie ich hoffe, nicht zu verachten.«

Christian zögerte, da er nicht wußte, was der Prinz sagen wollte; doch dieser fuhr, jedes Zögern abschneidend fort:

»Auf, ziehen Sie vom Leder, mein schöner Freund! doch beeilen Sie sich: ziehen Sie vom Leder, so lange Niemand da ist, denn käme Jemand vorüber, ich würde erkannt, und Sie würden festgenommen, so geht es ganz einfach um Ihren Kopf.«

»Mein Prinz!«

»Ei! zum Henker! schreien Sie nicht so und schlagen Sie sich, Herr Rächer des Unrechts, Herr Vertheidiger der Moral!«

Und diese Worte sprechend, nahm der Prinz muthig den Degen in die Hand.

Fortgerissen durch eine erste Bewegung des Hasses und der Eifersucht, hatte Christian den seinigen schon halb gezogen, doch plötzlich betroffen von dem Ungeheuren, was er begehen wollte, rief er:

»Nein! nein! nie!«

Und er stieß seinen Degen wieder in die Scheide.

»Nun, mein Herr,« sprach der Prinz, der ihn seine Bewegung und seine Worte vollenden ließ, »nun, da Sie vernünftig sind, gehen Sie Ihrerseits, und ich werde meinerseits gehen.«

Und der Prinz entfernte sich ein paar Worte murmelnd, welche Christian nicht verstand und, ganz verblüfft, wie er war, auch nicht einmal zu verstehen suchte.

Der Prinz verschwand.

Christian sammelte seine Gedanken und schaute umher.

Der Prinz hatte beim Herausgehen die Thüre des Ganges ein wenig offen gelassen.

Christian bemerkte es und gab einen Schrei, halb der Freude, halb des Schmerzes, von sich.

Das war ein für die Erklärung der ganzen entsetzlichen Geschichte geöffneter Weg.

Der junge Mann stürzte nach der Treppe, stieg die drei Stockwerke hinauf, fand die Thüre der Treppe gegenüber nur angelehnt, wie dies die Hausthüre gewesen war, trat ein und erblickte Ingénue, bleich, wie in einer Geistesverwirrung vor ihrem Bette knieend.

Sie wandte sich bei dem Geräusche, das Christian machte, um, und diesen so lange erwarteten Christian erblickend, stieß sie einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht.

Es kam der Tag; er bleichte die Scheiben des Hauses; ein in einer Ecke des Zimmers angebrachtes Fenster ging auf den Garten der Demoiselles Réveillon; man hörte die Vögel in diesem Garten den kleinen Morgengesang anstimmen, der in keiner Hinsicht den anderen Geräuschen des Tages gleicht.

 

Christian, als er Ingénue fallen sah, lief auf sie zu, hob sie in seinen Armen auf und suchte sie ins Leben zurückzurufen. Plötzlich ertönte ein Tritt im anstoßenden Zimmer: das war der von Auger.

Er hatte den Prinzen sich entfernen sehen und kam ins eheliche Domicil zurück.

Ingénue ohnmächtig, Christian über sie geneigt, dieser Mensch auf der Thürschwelle, die ersten Strahlen eines blassen Tages auf diese Scene gleitend bildeten ein seltsames Gemälde voll mysteriösen Schreckens und kalten Entsetzens.

Christian erkannte den verworfenen Menschen, den schändlichen Gatten; er wußte noch nichts oder beinahe nichts, als daß Ingénue das Opfer einer so niederträchtigen Berechnung war.

Er nahm den Degen in die Hand.

Auger, der schon ein paar Schritte im Zimmer gemacht hatte, wich mit erschrockenen Blicken umherschauend bis an die Thüre zurück.

Er suchte eine Waffe.

Beim Anblicke dieses Mannes ging Ingénue aus ihrer lethargischen Betäubung hervor; sie strich ihre langen Haare zurück, welche wie ein Schleier der Scham über sie herabgefallen waren.

Sie schaute nach einander Christian und Auger an.

Dann kehrte die Vernunft bei ihr zurück, und mit ihr das Bewußtsein der entsetzlichen Lage, in der sie sich befand.

Sie hieß Christian durch einen Wink weggehen.

Der junge Mann zögerte; Ingénue wiederholte den Wink noch gebieterischer, als das erste Mal.

Halb in Verzweiflung, halb gerührt durch sein Unglück und das Unglück dieser Frau, gehorchte Christian wie ein Sklave.

Auger trat rasch vor dem bloßen Degen, mit dem ihm Christian im Vorübergehen das Gesicht peitschte, auf die Seite.

Christian blieb einen Augenblick auf dem Ruheplatze stehen.

Einmal aus Furcht vor einem Ueberfalle, und dann, um zum letzten Male das Gesicht dieser reizenden Frau zu sehen, welche auf immer für ihn verloren war.

Sie ihrerseits schaute ihn an.

Der Strahl ihrer Augen kreuzte sich.

Es lag in den Augen von Ingénue so viel Unschuld, so viel tiefes Leid, so viel Liebe, daß er von tausend widersprechenden Eindrücken zerrissen nach der Treppe stürzte.

Ingénue blieb allein mit Auger.

Die Gegenwart von Christian in diesem Zimmer war für ihn unerklärlich und verwirrte alle seine Gedanken.

Er wußte nichts, er begriff nichts und schien trunken.

Die junge Frau zögerte auch, zu denken: sie zitterte, klar in diesem Abgrunde zu sehen; sie suhlte sich zum Voraus vom Schwindel der Scham erfaßt.

Sie hatte auch nur die Kraft, die paar Worte zu sagen:

»Wahrhaftig, Sie sind ein Schändlicher!«

Er wollte sprechen.

»Wenn Sie sich mir nähern, rufe ich meinen Vater hierher.«

Auger schauerte.

Die Familienscene schien ihm fürchterlich.

»Elender!« sprach Ingénue, »haben Sie, als sie handelten, wie Sie gehandelt, Eines bedacht? Daß ich nur ein einziges Wort vor dem ersten dem besten Richter auszusprechen brauche, und Sie sind verloren!«

Auger machte eine Bewegung; Ingénue fuhr aber mit fester Stimme fort:

»Verloren, ohne daß Sie das Ansehen Ihres Herrn zu retten vermag.«

Auger versuchte es abermals, zu reden.

»Schweigen Sie, mein Herr,« sagte sie zu ihm; »ich jage Sie von mir fort.«

»Aber,« rief er mit feiner Frechheit, »Sie wissen nicht einmal, worüber Sie mich bezichtigen, Madame!«

»Mein Herr, ich bezichtige Sie, hier, das heißt bei meinem Vater, das heißt zu mir, das heißt ins Brautgemach, Ihren Gebieter, denjenigen, welchen Sie verleugnet, den Herrn Grafen von Artois eingeführt zu haben.«

»Wer bat Ihnen das gesagt?«

»Er selbst.«

Auger blieb einen Augenblick still; ein boshaftes Lächeln zog seine Lippen zusammen.

Während dieses Augenblicks des Schweigens suchte er, was er antworten könnte; er glaubte es gefunden zu haben.

»Er hat Ihnen das gesagt, weil er, da er mich in dem Momente, wo ich hinabging, um Herrn Santerre zurückzubegleiten, auf der Straße verhaften ließ und meine Stelle einnehmend sich wohl vertheidigen mußte, wie er konnte.«

Dieser Grund hatte Wahrscheinlichkeit: er setzte Ingénue in Erstaunen.

»Sie klagen also den Prinzen an?« sagte sie.

»Allerdings! er wollte sich an mir rächen.«

»Nach Ihrer Meinung hat er die Falle gestellt, in die Sie gerathen sind?«

»Ist das nicht wahrscheinlich?«

»Es mag sein! ich gebe die Wahrscheinlichkeit zu; nun wohl, wir werden meinen Vater rufen.«

»Ihren Vater?«

»Auf der Stelle.«

»Wozu?«

»Er hat eine Feder, die so viel werth ist, als ein Degen; er wird diese Waffe zu Diensten meiner Ehre stellen, welche die Ihre hätte sein müssen, und wir werden Gerechtigkeit vom Uebelthäter erlangen, obgleich der Uebelthäter ein Prinz ist!«

»Oh! thun Sie das nicht,« rief Auger erschrocken über die.Exaltation von Ingénue.

»Wie! was hält Sie zurück?«

»Das Ansehen des Prinzen ist ungeheuer.«

»Sie haben Furcht?«

»Ei! ich gestehe, ich bin ein sehr kleiner Herr, um mich an einer Königlichen Hoheit zu reiben!«

»Die Ehre ist also nichts für Sie? es ist also keine Genugthuung für Sie, Rache an einem Prinzen zu nehmen, von dem Sie uns zuerst, und ohne daß Sie Jemand dazu zwang, so viel Schlimmes gesagt haben?« ,

»Aber, Madame, Sie wollen mich also durchaus ins Verderben stürzen?«

»Aber, mein Herr, Sie logen also, als Sie uns sagten, nichts werde Ihnen zu hart ankommen, um wieder ein ehrlicher Mann zu werden?«

»Madame!«

»Schweigen Sie, ich habe Ihnen gesagt und ich wiederhole, Sie sind ein Schändlicher.«

»Nun wohl, es sei! der Krieg, da Sie es so wollen, Madame! Sagen Sie, ich habe den Prinzen hierher gebracht, so werde ich sagen, Sie haben Ihren Liebhaber zu sich gerufen.«

»Oh! das ist mir ganz recht,« rief edelmüthig Ingénue; »gestehen Sie Ihre Schändlichkeit, ich gestehe meine Liebe.«

»Madame!«

»Thun Sie es! die Welt wird urtheilen.«

Auger begriff, da er es mit einem Charakter wie der von Ingénue zu thun habe, so sei Alles für ihn verloren.

Er lächelte wie der böse Engel und erwiederte:

»Gleichviel . . . wir werden das Ende sehen.«

»Das Ende! oh! wenn Sie es zum Voraus wissen wollen . . . das ist leicht.«

»Ja, lassen Sie hören.«

»So hören Sie: ich werde Alles meinem Vater bekennen, und dann nehmen Sie sich in Acht, sein Kummer wird Sie theuer zu stehen kommen! oder, was einer ehrlichen Frau und einer Christin besonders würdiger ist, ich werde diese entsetzliche Geschichte dem armen Manne verschweigen, den Sie schon so niederträchtig mißbraucht, hintergangen, betrogen haben! ich werde in der Stille dulden, verstehen Sie wohl? nicht eine Klage wird aus meinem Munde kommen; doch von dieser Stunde an sind Sie für mich nur noch ein Gegenstand des Ekels und der Verachtung.«

Auger machte eine Geberde der Drohung, Ingénue kümmerte sich nicht darum und fuhr fort:

»Mit einem Worte, rechtfertigen Sie sich, ehe zwei Tage vergehen, durch einen auffallenden Schritt, oder fügen Sie sich darein, daß ich Sie, so oft ich meine Lippen bewege, einen Schändlichen und einen Niederträchtigen nenne.«

»Gut!« sagte Auger.

Und er ging ab, nicht begreifend, was vorgefallen war, in seiner Einbildungskraft tausend Mittel, um zu begreifen, suchend und sich an tausend Muthmaßungen stoßend, von denen die einen immer unwahrscheinlicher und falscher als die andern.

Ingénue sah ihren Gatten abgehen, sie hörte ihn sich entfernen; und als das Geräusch seiner Tritte auf der Treppe erloschen war, stand sie auf und schloß sorgfältig die Thüre; dann kam sie zu ihrem Bette zurück, fiel vor diesem auf die Kniee, mit Gebeten, welche Gott in der Tiefe seines himmlischen Reiches scheinen sollten, und rief Christian mit einer so sanftes Stimme, daß der Engel ihrer Träume, der nie mit einer- so soften Stimme gerufen worden war, darüber eifersüchtig sein mußte.