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XLII
Genesung von Christian

Was ging im Marstalle des Grafen von Artois vor, während am entgegengesetzten Ende von Paris Alles gegen das Glück von Christian conspirirte?

Seine Mutter hatte ihn nicht eine Minute verlassen: bei Tage saß sie in einem Fauteuil zu seinen Häupten; in der Nacht hatte sie ihr Bett neben dem seinigen.

Zwanzigmal hatte sie Christian durch die Versicherung, es gehe besser, zu entfernen gesucht; doch sie hatte sich beständig geweigert.

Die mütterliche Liebe der Gräfin Obinska übersetzte sich bei ihr, wie alle andern Gefühle, durch den Ausdruck eines Willens, gegen welchen zu streiten Christian nicht einmal die Idee hatte.

Bereit, bei jeder Bewegung ihres Sohnes ihm das zu geben, was er bedurfte, selbst seinen Schlaf bewachend, umsichtig, um ihm die geringste Gemüthsbewegung zu ersparen, war es ihr endlich geglückt, den Körper zu heilen, ohne daß die arme Frau das Uebel bemerkte, das sie seiner Seele angethan hatte.

Die Tage und die Nächte verliefen so für den Kranken Jahrhunderten ähnlich; er zählte die Stunden, die Minuten, die Secunden; man hätte glauben sollen, er treibe sie mit aller Gewalt und aller Energie eines standhaften Willens vor sich her.

Nach der Vorschrift von Doctor Marat sollte Christian das Bett bis zum vierzigsten Tage hüten. Mehr als eine Woche vor diesem vierzigsten Tage behauptete Christian, er sei schon gekommen; doch den unerbittlichen Kalender in der Hand, hielt die Gräfin den jungen Mann im Bette, bis die vierundzwanzigste Stunde des vierzigsten Tages abgelaufen.

Endlich kam die so heiß ersehnte Stunde, wo es Christian erlaubt war, den ersten Schritt zu thun, der ihn, nach zehn weiteren im Zimmer zugebrachten Tagen, zu Ingénue führen sollte.

Während er leicht hinkte, streckte er sich auf einem dicken Pelze mitten im Zimmer aus, wie es die Kinder thun, wenn sie ihre Kräfte versuchen.

Dann bewegte er sich; der Schmerz war verschwunden, das Fleisch war solid geworden, der Verwundete hielt sich auf seinem kranken Beine ohne eine Beschwerde zu fühlen.

Allmälig übte er sich, die Runde im Zimmer zu machen; sodann, als die Runde im Zimmer etwas Leichtes geworden war, versuchte er es, eine kleine Treppe von fünf Stufen auf und abzusteigen, – was ihm mit Hilfe seiner Mutter gelang.

Bald wurde ihm die Luft eines benachbarten Hofes erlaubt; er ging, immer am Arme der Gräfin, in diesen von einigen Bäumen beschatteten Hof hinab, und gewöhnte seine Lunge und seinen Kopf an die Einsaugung einer schärferen und nahrhafteren Luft,

Endlich wurde er ungefähr wieder das, was er gewesen.

Zweimal hatte er sich Papier und Bleistift zu verschaffen gewußt, und jedes Mal war es ihm, den Schlaf seiner Mutter benützend, welche schlief im Glauben, er sei selbst eingeschlummert, geglückt, ein paar Zeilen an Ingénue zu schreiben; war aber dieses Billet geschrieben, was damit machen? wem es anvertrauen? durch wen es nach der Rue des Bernardins bringen lassen? Er stand in keiner Verbindung mit den Leuten des Hauses; die Dienerin von Marat flößte ihm einen tiefen Widerwillen ein, und was Marat betrifft, ihm hätte sich der junge Mann sicherlich nicht über seine Leidenschaft für die Tochter von Rétif de la Bretonne eröffnet.

Die zwei geschriebenen Billets blieben also in den Taschen des jungen Mannes; er bewahrte sie auf, immer hoffend, er werde eine Gelegenheit finden, die sich nicht bot.

Eines aber tröstete Christian: daß er, da er seine Kräfte Stunde für Stunde wiederkehren fühlte, schon den Tag feiner Befreiung berechnen konnte.

Der glückliche Tag erschien endlich: Christian durfte eine Promenade machen. Dies geschah allerdings im Wagen, und seine Mutter verließ ihn nicht einen Augenblick. Die Carosse durchfuhr nach dem Willen von Christian Paris und seine schönsten Straßen. Ach! in die Rue des Bernardins hätte sich Christian gern begeben mögen; aber wie sollte er einem Kutscher vor der Gräfin Obinska sagen: »Fahrt mich durch die Rue des Bernardins.«

Nach drei Tagen dieser Uebung wurde entschieden, Christian könne nun zu Fuße ausgehen, doch seine Mutter gab ihm den Arm.

Endlich kam man überein, am andern Tage, das heißt, nachdem er die Wohnung von Marat fünfundfünfzig Tage inne gehabt, sollte er diese verlassen.

Sie ist schwer zu schildern, die Scene, welche den Abgang von Christian und seiner Mutter begleitete; wir werden es indessen versuchen, eine Idee davon zu geben.

Marat hatte sich schön gemacht; er hatte an seiner Person den ganzen Luxus, über den er verfügen konnte, vereinigt.

Sein Plan war der: wieder für einen Moment der junge Mann von einst, der Marat von Polen werden; durch seinen Anblick das Herz der Gräfin Obinska zu einer Erinnerung nöthigen, für welche sein Name nicht genügt hatte.

Vergebliche Mühe! der Rückgrat konnte sich nicht wieder gerade ausrichten, die schiefe Nase fand ihre anmuthige Linie nicht wieder, das Auge blieb hohl und der Blick schneidend.

Es war endlich unmöglich, an einem Tage durch einen zwanzigjährigen Schmutz verdorbene Hände sauber und zart zu machen.

Was den Anzug betrifft, so fehlte hieran nichts, und der Schneider hatte sein Bestes gethan.

Doch die Gräfin, obschon sie den Blick von Marat weder suchte, noch vermied, erkannte nichts, und sie sprach ihren Dank gegen den Wundarzt ohne eine romanhafte Phrase aus.

Als Marat den jungen Mann, lächelnd beim Gedanken an seine zukünftige Freiheit, gehen sah und sich selbst im Spiegel beschaute, hatte er keinen andern Trost, als den, an ihm irgend eine Aehnlichkeit mit dem ehemaligen Hofmeister der Gräfin Obinska zu suchen.

»Mein Herr,« sagte die Gräfin zu ihm, »nicht wahr, Sie bewundern diese Gesundheit? die Cur, die Sie gemacht haben?«

»Ja, Madame, ich bewundere mein Werk,« antwortete Marat.

Die Gräfin ließ bei diesen Worten über ihre gewöhnlich so bleichen Wangen einen Flammenreflex laufen, der fast in demselben Augenblicke erlosch, und sie wurde wieder kalt und hochmüthig.

»Sie haben Recht, mein Herr, daß Sie nicht bescheiden sind,« sagte sie; »die Cur macht Ihnen Ehre.«

»Nicht wahr?« erwiederte er; »doch Sie stellen sich nicht vor, was der Wille ist, Madame: für diesen jungen Mann hätte ich Dinge würdig des Gottes Aeskulap in Person gemacht.«

Christian verbeugte sich leicht, ein wenig in Verlegenheit gesetzt durch diese vertraulichen Blicke, die er noch nicht bei seinem Arzte wahrgenommen hatte. Es schien diesem jungen Cavalier, zwischen dem Kranken und dem Geheilten sei der Abstand eines Plebejerrespectes.

Die Gräfin gab sich den Anschein, als bemerkte sie das Zudrängen von Marat nicht; sie stellte sich auch, als bemerkte sie die Verlegenheit des jungen Mannes nicht.

»Und nun, mein Herr, vermöchte uns die Dankbarkeit nicht abzuhalten, unsere Rechnungen zu ordnen,« sprach sie.

Marat erröthete.

»Geld?« sagte er.

»Nein, mein Herr, Gold,« erwiederte die Gräfin mit einem souverainen Stolze.

Marat richtete sich auf und rief:

»Wollen Sie mich demüthigen?«

»Im Gegentheile,« versetzte die Gräfin; »wollen Sie mir sagen, in welcher Hinsicht ein Wundarzt, den man bezahlt, gedemüthigt ist?«

»Madame,« rief der Zwerg, »mir scheint, Sie vergessen zu sehr, was Marat ist: Marat ist nicht nur ein Wundarzt; Marat . . .«

Und er schaute die Gräfin starr an; dann machte er, einen Schritt gegen sie, kreuzte die Arme und sagte:

»Wissen Sie, was Marat ist?«

Die Gräfin biß sich leicht auf die Lippen.

»Marat,« wiederholte er, indem er einen besonderen Nachdruck auf dieses Wort legte, »Marat, das ist mein Name! wissen Sie es, Madame, oder muß ich Sie, wenn Sie es vergessen haben, daran erinnern?«

»Ich weiß es, mein Herr,« antwortete die Gräfin, die sich den Anschein der Verwunderung gab; »Sie haben mich nicht in Unwissenheit hierüber gelassen. Legt mir dieser Name irgend eine Verbindlichkeit auf, der ich mich zu entziehen suche? Ich gebe Ihnen die Versicherung, daß dies sehr wider meinen Willen geschähe, Herr Marat.«

Verblüfft und geschlagen durch diese Dreistigkeit, blieb Marat stumm.

Doch das war noch nicht genug: die unversöhnliche Gräfin verfolgte ihn mit ihrem Blicke, bis er den seinigen senkte, – geblendet durch das unbarmherzige Strahlen dieser Augen, welche wie zwei Fackeln flammten.

»Mein Sohn und ich,« fuhr die Gräfin fort, »wir verlassen also Ihre Wohnung, die Sie uns so dienstfertig geliehen haben, und ich bitte Sie, jede Störung, die wir Ihnen verursacht, zu entschuldigen, mein Herr.«

Sodann fügte sie mit jener unmerklichen Reizung, welche Marat vollends aus dem Sattel hob, bei:

»Glauben Sie mir, mein Herr, wäre das Leben meines Sohnes nicht durch die geringste Bewegung gefährdet gewesen, so würde ich ihn, auf die Gefahr, Ihnen zu mißfallen, nicht eine Secunde bei Ihnen gelassen haben.«

Diese außerordentliche Höflichkeit konnte auch eine außerordentliche Unhöflichkeit sein; begriff es Marat so?

Ja, denn seine dünnen Lippen erbleichten; ja, denn sein gelbes Auge verschwand unter seinen Brauen rollend, und ein nervöses Zittern des Zornes schüttelte seine rachitischen Glieder.

Die Gräfin legte nun vor den Augen von Christian, der nichts von dieser Scene begriffen hatte, eine Börse voll Gold auf den Tisch.

Marat machte eine Bewegung, um diese Börse zurückzustoßen; doch ein letzter Blick der Gräfin vereiste diese Bewegung, und der Wundarzt ließ seine Arme träge an seinen Seiten niederfallen.

Da nahm die Gräfin Christian bei der Hand und sagte:

»Komm, mein Sohn!«

Und sie benützte den Augenblick, wo Christian Marat zum Abschied grüßte, um zuerst auf die Treppe zu schlüpfen.

Marat öffnete seine Arme, als wollte er den jungen Mann darein schließen; doch die Gräfin errieth seine Absicht, und auf die Gefahr, ihren Sohn, der noch unsicher auf seinen Beinen, umzuwerfen, ergriff sie ihn beim Arme und zog ihn mit einer Kraft an sich, die einen Ast ausgerissen hätte.

 

»Und nun nimm Dich in Acht, daß Du nicht fällst,« sagte sie, während sie sich zwischen Marat und den jungen Mann stellte.

Das war der letzte Schlag.

Außer sich vor Zorn und Scham, schlug Marat die Thüre zu, die sich geräuschvoll hinter der Gräfin und ihrem Sohne schloß; dann stürzte er auf die Börse los, zerriß sie und streute das Gold, Tische, Stühle und Bett mit diesem kostbaren Metalle peitschend, im ganzen Zimmer umher.

Zum Glücke hatte er eine gute und sorgfältige Haushälterin, welche Alles bis auf den letzten doppelten Louis d'or aufhob.

Sie gab achtzig davon Marat zurück, doch es hatten sich sicherlich zehn verloren.

»Oh!« murmelte der Zwerg, indem er durch das Fenster einen schiefen Blick auf den Wagen warf, der die Mutter und den Sohn entführte; »oh! Wölfin! oh! Wölflein! Dieses Weib ist nicht mehr Weib, als die wilde Stute ihrer Steppen . . . Aristokratin! Aristokratin! Aristokratin! ich werde mich an Dir rächen wie an den Andern!«

XLIII
Was während dieser Zeit in der Rue des Bernardins vorging

Dieses Stillschweigen, das sich Ingénue nicht erklären konnte, weil sie die Ursache davon durchaus nicht wußte, hatte in der Rue des Bernardins ein unglückliches Resultat hervorgebracht.

Wir haben gesehen, wie die Angelegenheiten von Auger standen, wir sagen nicht bei Ingénue, aber bei Réveillon und bei Rétif.

Réveillon hatte nicht gesäumt, Rétif beiseit zu nehmen und ihm zu eröffnen, es handle sich ganz einfach um eine Heirath.

Rétif hegte wohl einigen Argwohn.

Er hatte indessen nur eine Einwendung zu machen, und er machte sie: das war die Unbeständigkeit des Glückes von seinem Schwiegersohne.

Réveillon hob jedoch diese einzige Schwierigkeit dadurch, daß er antwortete, er werde Auger am Tage seiner Verheirathung als Hochzeitgeschenk zweitausend Livres Gehalt zusichern; Auger seinerseits kam jedem Einwurfe dadurch entgegen, daß er sich erbot, mit seiner Frau und seinem Schwiegervater zu leben und seine zweitausend Livres ins Haus abzugeben.

Alles dies bewegte sich in Ingénue wie ein entsetzliches Summen: die Arme fühlte sich so wenig unter allen diesen Anordnungen, welche das Glück von Jedermann zu interessieren schienen, daß sie kaum mehr Widerstand leisten konnte, als der Nachen auf dem Meere, das Blatt im Wirbel leistet.

Sie hörte als von einer fest beschlossenen Sache von diesem Verbindungsprojecte sprechen, das sie schon im Gedanken allein erschreckte; als von etwas ganz Entschiedenem von dieser Heirath, zu der sie durchaus nicht einzuwilligen gedachte.

Als man bei ihr diese Sache mit dem ersten Worte berührte, war sie ungefähr drei Wochen von Christian getrennt; sie machte sich keine Illusion; sie hatte zu ihrem Vater gesagt: »Sehe ich Christian in diesem Monat nicht wieder, so werde ich ihn nie mehr sehen! und sehe ich Christian morgen nicht wieder, so werde ich ihn in einem Monat nicht wiedersehen.«

Sie hatte Christian nicht wiedergesehen.

Doch sie hatte in der Tiefe ihres Gewissens etwas, was ihr sagte: »Es gibt eine Macht, welche stärker ist als Christian, und diese verhindert es, daß Du Christian nicht wiedersiehst.«

Nur fragt es sich, welche Macht war dies?

Das wußte Ingénue nicht, das ließ sie im Zweifel; der Zweifel, dieser Wurm, der das Herz der schmackhaftesten von allen Früchten, der Liebe, zernagt!

Da man mit Ingénue von ihrer Heirath als von einer abgemachten Sache sprach, so besaß sie nicht den Muth, dagegen zu streiten.

Die Heirath verzögern, das war Alles, was sie thun konnte.

Ob! wenn ihr während dieses Verzugs ein Brief von Christian zukam, wenn sie eine Kunde von ihm erhielt, wie hätte sie diese gemachte Sache wieder gelöst!

Sollte Christian lieben oder todt sein, sie würde kämpfen; dem Liebenden oder dem Todten wäre sie treu.

Doch dem vergeßlichen, unbeständigen, meineidigen Christian ihr Versprechen zu halten, war dies nicht eine Schande für sie?

Sie verlangte einen Monat, um sich zu entscheiden.

Man hoffte nicht einmal so viel, – Réveillon wenigstens; er fand auch das Verlangen von Ingénue ganz vernünftig.

Rétif hätte gern nur vierzehn Tage bewilligt; er hatte bange, während dieses Monats könnte Christian Mittel finden, Ingénue Nachricht von sich zu geben.

Und er fühlte es wohl, der Romanenschreiber, daß er nur durch das Stillschweigen von Christian stark war: würde dieses Stillschweigen gebrochen, so stürzte das ganze Gerüste ein.

Der Monat verlief. Man hat gesehen, wie Christian geschrieben, wie er aber kein Mittel gefunden, Ingénue seine Briefe zukommen zu lassen.

Während dieses Monats ordnete man Alles an, als ob nach Ablauf eines Monats die Einwilligung Von Ingénue keinem Zweifel mehr unterlegen wäre: das Aufgebot fand statt, die Hochzeitgeschenke wurden gekauft. Man hielt sich bereit, auf die Gefahr, daß Ingénue nicht bereit wäre.

Réveillon war so enthusiastisch für Auger eingenommen, daß Auger, hätte er zehntausend Franken nöthig gehabt, nur zu verlangen brauchte, Réveillon würde ihm seine Kasse geöffnet haben.

Am Morgen des dreißigsten Tages fand Ingénue, welche, wie Christian, Alles, Stunden, Minuten, Secunden gezählt hatte, – am Morgen des dreißigsten Tages fand Ingénue, von der Messe, wo sie Gott gebeten, er möge ihr Nachricht von Christian geben, nach Hause zurückkehrend, ihr Zimmer voll von Blumen, Kleider auf allen Stühlen und auf ihrem Bette eine vollständige Aussteuer.

Als sie alle diese schönen Dinge erblickte, zerfloß Ingénue in Thränen, denn sie begriff, daß sie keinen Grund, kein Motiv, keinen Vorwand mehr hatte, Auger auszuschlagen.

Er seinerseits war so heiter, so zufrieden, so strahlend, so eifrig, so ehrerbietig; er hatte so verliebte und so gierige Augen, daß sich Jedermann für die Liebe des armen Sünders interessierte, dessen, durch die Beredtsamkeit des Pfarrers Bonhomme bewirkte Bekehrung großes Aufsehen im Quartier machte.

Ingénue konnte den armen jungen Mann allerdings nicht lieben, doch wahrhaftig, sie wäre zu ungerecht gewesen, wenn sie ihn gehaßt hätte.

Mehr noch: aus dem Gesichtspunkte des gemeinen Lebens, des bürgerlichen Lebens hatte sie so große Lobeserhebungen von Auger machen hören, daß sie nicht bezweifelte, «sie würde glücklich mit ihm sein.

Sie verlangte noch vierzehn Tage; Rétif stritt stark gegen diese vierzehn Tage: nahm man an, Christian sei nur verwundet gewesen, so mußte der Kranke rasch seiner Genesung zuschreiten.

Wäre Ingénue einen Tag Madame Auger, dann lag Rétif wenig daran, wenn Christian wiedererschien; er kannte die Jungfräulichkeit der Seele von Ingénue und wußte, daß ihr Gatte, wer es auch sein mochte, nichts zu befürchten hatte.

Und dann fand sich im Grunde dieses so schmerzlich verwundeten Herzens die arme kleine Befriedigung, Frau zu werden, und wäre es nur, um ihrem Ungetreuen zu zeigen, gewisse Menschen haben den Muth, ein Mädchen zu heirathen, das sich ohne Heirath weder verkaufen, noch hingeben wolle.

Ueberdies sollte sie, – und das war wohl Etwas, – einen Platz im großen Hause Réveillon einnehmen, dessen Schließnagel die Kasse oder vielmehr der Kassier werden würde.

Dabei war ferner: daß Ingénue vor dem siebzehnten Jahre verheirathet sein sollte, indeß die Demoiselles Réveillon, die im Quartier als Millionärinnen bekannt, es mit neunzehn und zwanzig Jahren noch nicht waren.

Alles dies, es ist nicht zu leugnen, war nur ein Schleier; Ingénue stickte ihn mit tollen Fantasien und warf ihn über ihre traurigen Gedanken; doch sie fühlte in Wirklichkeit wohl, dieser Schleier sei nur eine leicht zerreißbare Gaze, die sich beim ersten Hauche von Christian erheben würde, erschiene Christian wieder am Horizonte ihres Lebens.

Auger schob kräftig an dem Glücksrade, das sich für ihn drehte. Er widmete sich mit Leib und Seele, Tag und Nacht dem Abschlusse dieser Heirath, welche. Dank sei es der kräftigen Mitwirkung des Pfarrers Bonhomme, der das Vorrecht, dieses Paar zu trauen, in Anspruch genommen hatte, auf den vierzehnten Tag, das heißt auf den, welcher die von Ingénue verlangte neue Frist schließen sollte, festgesetzt wurde.

Rétif beschleunigte auch die Entwicklung; er hatte beständig Angst, aus der Erde das Gespenst des alten Liebhabers hervorkommen zu sehen, der, sobald er geheilt, seine Geliebte zurückfordern würde.

Nichtsdestoweniger war der Romanendichter mehr als halb beruhigt durch das hartnäckige Stillschweigen, das Christian seit vierundvierzig Tagen beobachtet hatte.

Nach der Ansicht von Rétif, dem Erfinder von Ueberraschungen und Theatermitteln, hätte den jungen Mann nichts verhindern müssen, Nachricht von zu geben.

Und über diesen Punkt dachten der Vater und die Tochter ganz auf dieselbe Art.

Sie sagten sich auch, Christian, da er nicht geschrieben oder Jemand geschickt, habe auf Ingénue verzichtet, oder er sei todt.

Seit dem Tage, wo eine Discussion vor Santerre über einen verwundeten Pagen stattgefunden, war nie das Eis aufs Neue zwischen Ingénue und ihrem Vater gebrochen worden.

Einige Male hatte Ingénue die Idee wieder aufgenommen, die Abwesenheit ihres Vaters zu benützen, um eine Reise nach dem Marstalle von Artois zu versuchen; jedes Mal aber hatte sie eine doppelte Erinnerung zurückgehalten: die an Marat, den garstigen Satyr; die an Charlotte Corday, die keusche Minerva.

Als die Heirath fest beschlossen war, miethete man im Hause von Réveillon, im Faubourg Saint-Antoine, eine Wohnung bestehend aus fünf Pieren, von denen zwei, abgesondert auf dem Ruheplatze, als Wohnzimmer und Arbeitscabinet für Rétif bestimmt waren, während die drei andern das Wohnzimmer, den Salon und das Speisezimmer der Neuvermählten bilden sollten.

In den letzten Tagen beschäftigte man sich mit den Vorhängen und den Meubles, mit der Erneuerung des Weihzeugs und des Tischgeschirrs; man nahm Maße, man klebte neue Tapeten, freigebig von Réveillon geliefert, an; mit einem Worte, drei Tage vor der Hochzeit fehlte zur Heirath nichts mehr als die Ceremonie.

Die Kirche Saint-Nicolas-du-Chardonnet setzte eine ihrer bescheidenen Kapellen in Bereitschaft.

Die Demoiselles Réveillon schickten Blumen und geweihte Kuchen; Santerre bat um Erlaubniß, den Orgelspieler liefern zu dürfen.

Es kam der vierzehnte Tag: das war, wie man sich erinnert, der, welcher für die Feier festgesetzt worden. Es war ein Samstag.

Die Nacht war traurig gewesen; Ingénue hatte wenig geschlafen; wenn sie wenig geschlafen, so hatte sie dagegen viel geweint.

Dem Verurtheilten ähnlich, den das Schaffst erwartet, hoffte sie bis zum letzten Augenblicke.

Als ihr Vater in ihr Zimmer eintrat, hoffte sie! als Réveillon in ihr Zimmer eintrat, hoffte sie noch! als Auger in ihr Zimmer eintrat, hoffte sie immer noch!

Es dünkte ihr, jeden Augenblick müsse Christian erscheinen.

Es schlug zehn Uhr. Von Morgens um acht Uhr an hatten sich die zwei Freundinnen von Ingénue dieser bemächtigt, und sie kleideten sie an, wie sie es mit einem armen Automaten gethan hätten.

Ingénue leistete keinen Widerstand; Ingénue sprach nicht ein Wort; nur flößen zwei unabläßige Thränen, wie zwei unversiegbare Quellen, aus ihren Augen auf ihre Wangen.

Endlich mußte man hinabgehen, sich nach der Kirche begeben.

Unter einem Spalier von Neugierigen, bei einer schönen Wintersonne verließ Ingénue das väterliche Haus, reiner, weißer als ein Schwan.

Ach! seit vierzig Tagen hatte sie ihre Jungfrauschaft beweint, wie die Tochter von Jephta, und hätte man zu ihr in dem Augenblicke, wo sie das Straßenpflaster berührte, gesagt: »Was willst Du lieber? sterben oder die Frau von Auger werden?« so würde sie, obschon sie diesen Mann nicht haßte, da sie eine tiefe Liebe für Christian hegte, geantwortet haben:

»Ich will lieber sterben!«

Auf dem ganzen Wege dachte sie nur an Christian; drei oder viermal wagte sie es, den Kopf aufzurichten und umherzuschauen: sie suchte Christian; sogar in der Kirche forschte sie in ihren Tiefen, m Schatten ihrer Pfeiler, in ihren geheimnißvollsten Winkeln nach einem bleichen Gesichte, das sie nicht fand.

Christian hatte sie ganz entschieden verlassen.

Ingénue, in ihrer Vereinzelung, blieb also nichts übrig, als ihrem Gatten ja vor Gott und den Menschen zu sagen.

Zitternd sprach sie endlich dieses ja aus, und Auger führte triumphierend seine rechtmäßige Gattin zum Hochzeitmahle, das die Neuvermählten und die Gäste im neuen Speisezimmer von Réveillon erwartete, welches mit einer Tapete, die zwölf Arbeiter von Hercules, umgeben von Attributen, Früchten und Blumen, darstellend, geschmückt war.