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Die Mohicaner von Paris

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Neuntes bis zwölftes Bändchen

LIV
Die asymptotischen Seelen

Carmelite brachte eine glückliche Nacht zu, eine Nacht, die sich nur mit jener Frühlingsnacht vergleichen ließ, wo sie mit Colombau ihren schönen Rosenstock, dessen Wurzeln zwischen den Steinen einer Grabstätte gewachsen waren, ausgehoben hatte.

Er liebte sie also.

Dieses ernste, starre Wesen, dessen Gesicht allein dem Mädchen so viel Furcht einflößte, hatte die zarten Frömmigkeiten und die kindlichen Schwächen der Liebe! – Nur, – hierin von den anderen Menschen verschieden, – hatte es die Scham seiner Zärtlichkeiten und bewahrte in sich ihr unaussprechliches Geheimnis.

Diese Offenbarung der Liebe des Bretagners erquickte das Herz von Carmelite, wie ein reichlicher Regen eine vertrocknete Flur erquickt, und schon am anderes Tage sah Colombau, ohne die Ursache dieser Wiedergeburt zu kennen, die alte Heiterkeit von Carmelite wieder grünen.

Ihre Stunden waren fortan ausgefüllt; so sehr ausgefüllt, daß ihr die Tage zu kurz und die Nächte zu lang schienen.

Ihr Leben ging nicht auf den Zufall hin: es hatte nun einen Zweck.

Von diesem Augenblicke an quartierte sich das Glück, – welches in das Haue nur noch, so zu sagen, aus Versehen und wie ein Fremder kam, der sich verirrt und, da er weiß, daß er sich in der Thüre täuscht, immer einen Fuß aufgehoben und zum Fliehen bereit hält, – von diesem Augenblicke an quartierte sich das Glück kühn bald im Zimmer von Carmelite, bald im Pavillon von Colombau, bald zugleich im Pavillon und im Zimmer ein.

Und dieses doppelte Glück kam doch nicht aus derselben Quelle und offenbarte sich nicht auf dieselbe Weise.

Colombau gewährte es einen unaussprechlichen Reiz, das Mädchen stillschweigend, innerlich, einsam, für sich zu lieben; er hatte für sie ein wenig von jener leidenschaftlichen Pietät der alten Christen für ihr Marienbild; eine Zuneigung, an der viel mehr die Ehrfurcht und das Bedürfniß, anzubeten, als die Liebe und das Verlangen, zu besitzen, Theil hatten, oder an der zugleich Liebe und Anbetung Theil hatten.

Sein ganzes Glück bestand darin, daß er sich in sein Zimmer einschloß, denn vor ihr zitterte er; – sich mit der Hand auf den Augen sammelte, sich von der ganzen Welt absonderte, und von den Hohen seiner Sammlung, wie vom Gipfel eines Berges herab, unter seinen Augen, wie mit Blumen bunt gesprenkelte Wiesen, wie Ebenen mit reichen Ernten, tausend unaussprechliche Glückseligkeiten sich entrollen sah.

Doch mitten unter dieser Freude, unter diesem Glücke, unter dieser Anbetung hatte der Schmerz, wir möchten beinahe sagen, der Gewissensbiß seinen Zehnten; zwanzigmal weckte das Gewissen von Colombau diesen durch einen scharfen Schmerz im Herzen auf: das war der Biß des inneren Vorwurfs.

Der liegende Schatten des verrathenen Camille trat aus der Abwesenheit hervor, wie ein Gespenst aus dem Grabe hervortritt, und richtete sich vor seinem Bette hoch auf: da war Colombau nahe daran, aufzustehen und sich Carmelite zu Füßen zu werfen, um ihr seine Liebe zu gestehen, nicht als das Bekenntniß einer Freude, sondern als die Beichte eines Verbrechens.

Zwanzigmal war Carmelite ihrerseits, – jedoch ohne Gewissensbisse, – zwanzigmal war Carmelite, sicher, geliebt zu sein, über die Schwelle ihres Zimmers mit dem festen Entschlusse getreten, zu Colombau zu gehen und ihm zu sagen: »Du liebst mich, Colombau! . . . »Ich, ich liebe Dich auch!

Wären sie Beide in einem dieser Augenblicke zusammengetroffen, so würde sicherlich das Geheimnis ihres Herzens auf ihren Lippen zum Ausbruche gekommen sein.

Doch jedes machte einen Theil des Weges, und kehrte dann, durch die Scham rückwärts gezogen, wieder um.

Mit einem Worte, dem ähnlich, was man in der Geometrie die asymptotischen Linien nennt, – von denen wir den Titel dieses Kapitels entlehnt haben, – Linien, die sich immer nähern, ewig sich zur Seite gehen und, obgleich ins Unendliche verlängert, nie zusammenlaufen, – gingen sich ihre Seelen, ganz brennend vor Liebe, ewig zur Seite, ohne je zusammenzutreffen.

Und dennoch sollte diese im Herzen verhaltene Liebe, welche jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick zunahm, bald überströmen.

Eines Morgens, nach einer in fieberhafter Aufregung zugebrachten Nacht, sah Carmelite Colombau, der sie am Tage vorher erst um Mitternacht verlassen hatte, bleicher aber lächelnder als gewöhnlich bei sich eintreten.

Sie begriff, daß diesmal endlich der Bretagner seine Bedenklichkeiten überwunden hatte, daß sein Entschluß gefaßt war, und daß er zu ihr kam, um ihr Alles zu sagen.

Sie stand freudig auf, ging ihm entgegen und zog ihn zu sich aus das Canapé.

Doch im Rahmen der offen gebliebenen Thüre erblickte sie die Silhouette der Gärtnerin, die einen Brief in der Hand hielt.

»Mademoiselle, sagte Nanette, »es ist ein Brief von Herrn Camille.«

Carmelite stieß einen scharfen Schrei aus und fuhr mit der Hand nach ihrem Herzen.

Colombau warf seinen erbleichenden Kopf zurück.

Die Gärtnerin, da sie sah, daß ihr weder das eine, noch das andere von den jungen Leuten antwortete, legte den Brief auf den Schooß von Carmelite.

Carmelite kam zuerst zu sich; sie war, wenn nicht die Stärker, doch wenigstens die Entschlossenere.

Alle Initiativen kamen von ihr.

Sie seufzte, schüttelte den Kopf, entsiegelte den Brief und las ihn: dann ohne ein anderes Wort auszusprechen als: »Lesen Sie!« reichte sie, die Augen auf das Gesicht des jungen Mannes geheftet, den Brief Colombau.

Man hätte glauben sollen, Colombau könne nicht mehr erbleichen, und dennoch hatte seine Blässe zugenommen.

Ein erstes Mal las er leise, ein zweites Mai laut folgende Zeilen: .

»Liebe Carmelite,

»Endlich habe ich die Einwilligung meines Vaters, meiner Tanten und meiner ganzen Familie erhalten, und am 7. des nächsten Monats werde ich in Paris sein.

»Camille.«

Nie war ein Gerichteter, der selbst sein Todesurtheil las, so entstellt und so zitternd, als der Bretagner, da er zum zweiten Male laut den Brief seines Freundes las.

Mit dem Ellbogen auf die Rücklehne des Canapés gestützt. schaute ihn Carmelite tief, glühend, erwartend, daß er die Augen aufschlage, an.

Doch statt sich zu erheben, schloßen sich die Augen des jungen Mannes, und zwischen seinen vereinigten Wimpern floßen zwei Thränen durch.

»Was haben Sie? fragte ihn Carmelite mit ihrer harmonischsten Stimme, »und warum versetzt Sie die Rückkehr Ihres Freundes in eine solche Bestürzung?«

»Ah! Carmelite! Carmelite!« rief der Bretagner, »fragen Sie mich das nicht!«

»Colombau,« fuhr sie fort, »warum sind Sie so bleich, und warum weinen Sie?«

»Weil ich sterbe, Carmelite!« rief der junge Mann, seine Weste mit voller Hand zerreißend, als ob er erstickte.

»Und Sie sterben, Colombau.« sprach unbarmherzig das junge Mädchen, »weil Sie mich lieben, nicht wahr?

»Ich!« rief Colombau, indem er die Augen erschrocken wieder öffnete; »ich! ich liebe Sie? . . . «

»Ja,« antwortete Carmelite einfach. »Warum nicht? Ich liebe Sie wohl!«

»Schweigen Sie! schweigen Sie, Carmelite!«

»Oh!« erwiderte das Mädchen, »ich schweige lange genug, und Sie auch! Lange genug nähren wir mit unserem Herzen diese Schlange, die es verzehrt.«

»Carmelite!« rief Colombau, »ich bin ein Elender!«

»Nein, Colombau, Sie sind ein großes Herz, lange Zeit siegreich, doch unbesiegt.«

»Oh! Carmelite! Carmelite!« stammelte Colombau, »werden Sie mir verzeihen?«

»Und was hätte ich Ihnen denn zu verzeihen, da ich Sie liebe, da ich Sie immer geliebt habe?«

»Stille, Carmelite!« unterbrach Colombau; »Sie hatten es schon gesagt, und ich hatte die Stärke gehabt, Sie nicht zu hören.«

»Wohl!« sprach Carmelite mit einer Art von Wuth, »so wiederhole ich Ihnen: ich liebe Sie, Colombau! ich liebe Sie! ich liebe Sie!«

»Carmelite! Carmelite! ich höre Sie, und Ihr Hauch versengt mich, und Ihre Worte verzehren mich!«

Er entriß sich durch eine Anstrengung dieser Zaubermacht, entfernte sich ganz wankend von Carmelite und rief:

»Meine Schwester! meine Schwester! unsere Schuld ist gleich! bitten wir Gott, daß wir sie sühnen, um dieselbe Stärke und dieselbe Resignation.«

»Was nennen Sie Resignation mein Freund?«

»Sie verstehen mich wohl, Carmelite!«

»Nein, bei meiner Seele, ich verstehe Sie nicht. Wollen Sie zufällig damit sagen, ich werde Camille heirathen?«

»Es muß wohl sein.«

»Daß ich Camille heirathe, mit Ihrer Liebe im Herzen, und Ihre Liebe kennend?«

»Es muß sein! es muß sein!« rief Colombau mit dem Ausdrucke der Verzweiflung.

»Und warum muß es sein? Sagen Sie, Colombau, vor wem bin ich denn verantwortlich für meine Liebe in dieser Welt? Ich bin, Gott sei Dankt allein und folglich einziger Richter und oberster Schätzer meines Benehmens.

»Sie irren sich Carmelite: die Gesellschaft ist der Schätzer Ihres Benehmens, und Gott ist Ihr oberster Richter.«

»Und wie kann die Gesellschaft, – ich möchte wohl, daß Sie mir das erklären würden, Colombau, – wie kann die Gesellschaft mich zwingen, das Unglück von zwei Menschen und das meine zu machen, indem ich denjenigen, welchen ich nicht liebe, zum Nachtheile dessen, welchen ich liebe, heirathe? Wie kann mir Gott als eine Pflicht eine Handlung auferlegen, welche nicht nur meinem Herzen, sondern sogar meinem Gewissen widerstrebt? Habe ich die Gesetze der Gesellschaft zu Rathe gezogen, als ich fehlte? Als ich am Rande des Abgrundes, in dessen Tiefe Camille und der Schmerz mich erwarteten, hingleitend die Arme gegen Gott ausstreckte und ihn zu Hilfe rief, hat mich da Gott zurückgehalten?«

 

»Sie lästern Gott, Carmelite!«

»Ich lästere Gott nicht, Colombau: ich liebe Sie!«

»Carmelite! halten wir nicht unsere Begierden und unsere Instincte für Rechte und für Pflichten. Sehen Sie, sehen Sie, wohin Sie das geführt hat!«

»Ein Vorwurf, Colombau?

»Oh!« rief der junge Mann, indem er ihr zu Füßen stürzte. »Gott strafe mich, wenn ich diesen Gedanken gehabt habe! Für mich, Carmelite, haben Sie in sich alle Leidenschaften des Weibes, doch Sie sind rein wie Eva am Tage ihrer Schöpfung.«

»Colombau! Colombau!« sagte Carmelite, während sie auf ihr Canapé zurücksank und ihre beiden Hände auf den Kopf des jungen Mannes legte, »ich lasse meine Rechte und meine Pflichten beiseit und ziehe nur mein Herz zu Rathe . . . Wenig liegt mir daran, daß ich vor Gott und den Menschen verantwortlich sein soll: ich weiß, was ich Gott und den Menschen zu antworten habe, bin ich nur vor Ihnen rechtfertigbar.«

»Und ich,« versetzte der junge Mann halb besiegt, »denken Sie, ich willige je ein, den Eid zu vergessen, den ich Camille geschworen habe? Und hätte ich diesen Eid nicht geschworen, denken Sie, ich würde Camille verrathen? Oh! darum sage ich, wir müssen Gott um die Stärke und um die Resignation bitten!«

»Nie! Nie!« rief das Mädchen mit einer unbändigen Heftigkeit.

»Carmelite! Carmelite!«

»Wie soll ich Gott bitten,« fuhr sie fort, »wir, – indem er mir meine Liebe nimmt, um an ihre Stelle die Resignation, diese träge, unfruchtbare Tugend, zu setzen, – wie soll ich Gott bitten, mir das Element, das Princip meines Lebens zu nehmen? . . . Sie wissen also nicht, daß ich ohne Sie, ohne Ihre Gegenwart, ohne Ihre Liebe schon todt oder in irgend einem Kloster lebendig begraben wäre? Ah! ich hatte den Plan hierzu am Tage der Abreise von Camille gefaßt, indem ich dem Winde und dem Korbe die Blüthen unseres armen Rosenstockes zuwarf, und Dank sei es Ihrer Gegenwart, sei es der Liebe für das Leben, die Sie mir wiedergegeben, daß ich auf dieses Vorhaben verzichtet habe . . . und ich soll vergessen, daß Sie es sind Colombau, der mich gerettet hat?«

»Oh! Darum, Carmelite, wollen Sie mich mit Ihnen ins Verderben stürzen?«

»Heißt es, sich ins Verderben stürzen, heißt es leiden, heißt es sterben, mit einander sterben, leiden, sich ins Verderben stürzen?«

»Carmelite, um des Himmels willen!«

Colombau, bedenken Sie doch, daß ich Sie in dieser Welt nur vergessen werde, um in der andern an Sie zu denken!«

»Was dann thun? was thun?«

»Ah! Sie werden endlich vernünftig!« versetzte Carmelite mit einem scharfen Gelächter, bei dem ein Schauer die Adern von Colombau durchlief. »Was thun? Das ist es! Oh! ich habe seit langer Zeit an das gedacht, was uns zu thun bleibe.«

»Nun so sprechen Sie! sprechen Sie!« rief Colombau, der immer noch auf den Knieen lag und seinen Kopf zwischen seine Hände nahm, als hätte er wahnsinnig zu werden befürchtet.

»Es lassen sich nur zwei Entschlüsse fassen, Colombau.«

»Welche?«

»Dieses Haus verlassen, fliehen, in der Fremde, am Ende der Welt, in einer Einöde Indiens, auf einer Insel Oceaniens, – vergessen, vergessen, – leben.«

»Und der andere Entschluß?« fragte Colombau, hierdurch andeutend, daß er den ersten verwarf.

»Der andere,« antwortete Carmelite fest, »der andere ist, zu sterben, Colombau.«

»Oh!« machte der Bretagner, das Haupt bis zu ihrem Schooße neigend.

»Da wir uns im Leben nicht verbinden können,« fuhr Carmelite fort, »so vereinigen wir uns wenigstens im Tode.«

»Sie beleidigen Gott, Carmelite!«

»Ich glaube nicht . . . Doch in jedem Falle, Colombau, will ich lieber mit Ihnen die Ewigkeit hindurch leiden, als mit ihm die Zeit hindurch vereinigt sein.«

»Unmöglich, Carmelite! unmöglich!«

»Das ist gut, der Starke ist schwach . . . Es ist also am Schwachen, die Stärke für Beide zu haben.«

Colombau erhob das Haupt.

»Da ich nicht Ihnen gehören kann, weil Sie mich zurückweisen, Colombau,« sprach Carmelite mit einer Geberde von erhabener Größe, »da ich nicht ihm gehören kann, weil ich ihn ausschlage, so trete ich schon morgen in ein Kloster ein . . . Mein-Gott! nimm mich auf: ich gebe mich Dir!«

»Oh! Carmelite! Carmelite! wie schwach bin ich gegen Sie!«

»Sie, mein Freund, Sie sind der Engel der Selbstverleugnung, der Güte und der Pflicht!«

»Nein, nein, ich liebe Sie wie ein Wahnsinniger! ich liebe Sie wie ein Rasender! Alles, was Sie wollen, Carmelite, Alles, Alles werde ich thun.«

Carmelite lächelte traurig; ihr Triumph war vollständig: niedergeworfen, gebeugt, gebrochen zu ihren Füßen, hatte ihr Colombau gesagt: »Ich liebe Sie!«

»Der Entschluß ist ein äußerster,« erwiderte das Mädchens »es ist auch der Mühe werth, daß Sie darüber nachdenken, Colombau. Ich spreche wie eine Creatur ohne Namen, vereinzelt, verloren in der Weit, zum Grabe hingezogen durch ihren Vater und ihre Mutter, die ihr dahin vorangegangen sind? Sie sind der Letzte einer edlen Familie; Sie, Sie haben einen großen Namen; Sie, Sie haben einen Vater, der Sie anbetet . . . Denken Sie an Ihren Vater! . . . Morgen werden Sie mir das Resultat Ihrer Ueberlegung sagen.«

»Morgen also, Carmelite!«

»Morgen, Colombau!«

Hiernach verließen sich die zwei jungen Leute,– einen herzlichem geschwisterlichen Händedruck wechselnd.

LV
Der Entschluß

Die von uns so eben erzählte Scene war am Tage vor Fastnacht vorgefallen.

Der folgende Tag kam mit der monotonen Regelmäßigkeit, mit der die, freudigen oder traurigen, Stunden zu Werke geben, um zweimal die Runde auf dem Zifferblatt einer Pendeluhr zu machen.

Es war ein nebeliger, düsterer Tag, eher ein Todtenfest- als ein Fastnachtwetter; wir haben das Ende davon im ersten Kapitel dieses Buches gesehen, als wir, in den Straßen von Paris umherschweifend, Jean Robert, Ludovic und Petrus trafen: sehen wir nun den Anfang.

Der Regen fiel fein und durchdringend; die Luft war eisig; der Himmel grau; das Pflaster schwarz. Es war einer von jenen Wintertagen, wo man überall schlecht ist, vor einem Klavier, vor einem Buche, der Dichter seinem weißen Papier, der Maler seinem unvollendeten Bilde gegenüber; einer von den Tagen, wo man allein, traurig und zu zwei noch viel trauriger ist; wo es scheint, der Geist sei durchgefroren wie der Körper, an welchen Ort seines Cabinets man auch fliehen, in welchen Winkel seines geliebten Zimmers man sich auch verbergen mag; einer von den Tagen, wo man trübselig und leidend ist, als oh die Winde des Kirchhofes durch die Dielen der verriegelten Thüre und die Spalten der geschlossenen Fenster zögen; einer von den Tagen, wo man schauert, ohne zu wissen, warum, trotz des Feuers im Kantine, trotz der dichten Thürvorhänge; wo die Feuchtigkeit, dieser Alp des Tages, eindringt und einen am Halse packt; wo man sich, unfähig zum Widerstande, wie im Schlafe, den schädlichen Einflüssen der Atmosphäre überläßt; einer von den Tagen endlich, wo man sich ohnmächtig fühlt, ein Mißbehagen abzuschütteln, das minder gefährlich, aber angreifender als eine Krankheit, und dessen Ende man erwartet, ohne etwas zu thun, um entgegenzuwirken, denn man hat die Unwirksamkeit jedes Mittels erkannt.

Ein solcher Tag war es also, der, am Morgen der Fastnacht, im Jahre 1827, die zwei jungen Leute im Pavillon von Colombau vereinigte.

Ein großes Rebholzfeuer knisterte im Kamine; doch so viel Heiterkeit das Feuer an den Winterabenden gibt, eben so viel Melancholie gibt es, hat man am Morgen die Sonne, und wäre es auch nur einen Augenblick, strahlen sehen; das Feuer erscheint dann als eine verfehlte Copie, als eine lächerliche Nachahmung der Sonne; es singt nicht mehr; es glänzt nicht mehr; es wärmt kaum.

Sie saßen Beide vor dem Kamine, traurig, schweigsam, nachdenkend, träumerisch, von Zeit zu Zelt ein paar kurze Worte wechselnd, wie sie zwei Verurtheilte, welche den Henker erwarten, wechseln könnten.

Carmelite nahm endlich die Frage in Angriff und sagte:

»Morgen kommt er an.«

»Morgen,« wiederholte Colombau.

»Und wir haben noch keinen bestimmten Entschluß gefaßt, mein Freund,« sprach Carmelite.

»Doch, versetzte Colombau, nachdem er einen Augenblick geschwiegen, »ich habe den meinen gefaßt.«

»Dann ich auch,« erwiderte das Mädchen, dem Bretagner die Hand reichend.

»Ich werde sterben!« sprach Colombau.

»Ich werde sterben!« sprach Carmelite.

Colombau erbleichte.

»Das ist fest beschlossen, Carmelite?« fragte er mit zitternder Stimme.

»Es ist fest beschlossen, Colombau,« antwortete Carmelite mit einer sichern Stimme.

»Sie werden ohne Bedauern sterben?«

»Mit Freude, mit Glück, mit Entzücken.«

»Dann vergebe uns Gott!« sagte Colombau.

»Gott bat und schon vergeben,« erwiderte das Mädchen, einen Blick voll Vertrauen zum Himmel aufschlagend.

»Es ist gut, trennen wir und zum letzten Male, ehe wir und auf immer vereinigen, und sammeln wir uns, ehe wir sterben.«

»Sie haben Abschied zu nehmen, mein Freund.«

»Ich habe einen Brief an meinen Vater, einen an Dominique zu schreiben.«

»Und ich an meine drei Freundinnen von der Pension, an meine Schwestern von Saint-Denis.«

Die zwei jungen Leute drückten sich die Hände und zogen sich zurück, Carmelite in ihr Zimmer, Colombau in seinen Pavillon.

Colombau schrieb folgenden Brief an seinen Vater, den alten Grafen Edmund von Penhoël:

»Mein theurer und geehrter Vater,

»Verzeihen Sie den Schmerz, den ich Ihnen verursachen werde.

»Obgleich mein Entschluß fest gefaßt ist, obgleich mich nichts in der Welt davon abbringen kann, – nicht einmal Ihre Liebe für mich, nicht einmal meine Dankbarkeit für Sie, – zögere ich doch, und ich sammle Kräfte, um die folgenden Zeilen zu schreiben.

»Mein geliebter Vater, mein verehrter, mein theurer Vater, verzeihen Sie mir, verzeihen Sie mir!

»Ich verzichte auf das Leben, das Sie mir gegeben.

»Sie haben mich seit meiner Kindheit gelehrt, o mein verehrter Vater! ich soll mich vor Allem um die Verachtung der Menschen bekümmern: ich flüchte mich in den Tod ans Furcht vor dieser Verachtung.

»Wenn Sie diesen Brief empfangen, mein lieber Vater, hat Ihr Sohn zu sein aufgehört, weil er, nach Ihren Rathschlägen, lieber auf das Leben verzichten, als die Erfüllung seiner Pflicht verletzen will.

»Ich habe nicht gefehlt, mein edler Vater! befürchten Sie das nicht einen Augenblick; hätte ich gefehlt, so würde ich, statt feig die Welt zu fliehen, meine Schuld dadurch, daß ich sie öffentlich dem Angesichte Aller bloßgestellt, gebüßt haben.

»Ich habe widerstanden, gestritten, gekämpft; denn ich hatte Ihre Verzweiflung vor Augen.

»Ich sollte besiegt werden: ich habe es vorgezogen, – zu sterben.

»Erinnern Sie sich, mein Vater, unserer Spaziergänge an der Küste, des wilden Meeres? Eines Tages hatte eine wüthende Fluth einen riesigen Felsen entzwei geschnitten, der seit dem Tage, wo die Erde aus den Händen Gottes hervorgegangen, aufrecht und unerschütterlich gestanden war; im Angesichte dieses gebrochenem, entwurzelten, besiegten Felsens erzählten Sie mir die Geschichte der Kataklysmen und der Erdrevolutionen, indem Sie mir den Granitblock zeigten, der, von seiner Basis gelöst, unter den Anstrengungen der Woge hinrollte, als ob der Granit Pantoffelholz geworden wäre. Sie erklärten mir diesen großen Kampf der Wesen und der Dinge; Sie machten mir begreiflich, die Titanen von Hesiod, die Furien und die Riesen der Theogonie seien nichts Anderes als erloschene Vulkane, und Sie sagten mir, ich soll mich neigen vor diesem unablässigen Kampfe der Kräfte der Natur.

»Ich neige mich, mein Vater: der Orkan der Leidenschaften hat meine Kräfte gebrochen; die Fluth der menschlichen Schmerzen hat meine Seele zugedeckt und sie ausgelöscht.

»Ich beuge das Haupt, und ich sterbe.

»Erinnern Sie sich auch, o mein vielgeliebter Vater! jener Worte der Nachfolge, die wir mit einander an unseren Winterabenden lasen? . . . O süße Abende meiner Jugend, Stunden meiner Kindheit, in unserem alten Thurme verlaufen, wo seid ihr?

›Benehmet euch auf der Erde wie ein Reisender und ein Fremder, der an den Angelegenheiten dieser Welt keinen Theil hat.‹

»So sagte die heilige Nachfolge.«

»Nun wohl, mein verehrter Vater, wie ein Reisender bin ich dreißig Jahre lang unter den Fremden umhergeirrt, und, eher als daß ich an den Angelegenheiten dieser Welt Theil nehme, verlasse ich das irdische Land ohne Bedauern und gehe, um Sie im Himmel zu erwarten.

»Ich sterbe mit ruhigem Gewissen, und ich möchte beinahe sagen mit freudigem Herzen, mein Vater, wäre meine selbstsüchtige Freude nicht eine Beleidigung Ihrer Liebe.

 

»Auf beiden Knieen, mit gefalteten Händen, mit gebrochenem Herzen flehe ich Sie an, mein verehrter Vater! verzeihen Sie mir den Kummer, den ich Ihnen verursache; indem Sie bedenken, Sie, der Sie mich lieben, es sei für mich ein großes Unglück gewesen, zu leben, daß es ein großes Glück ist, zu sterben!«

»Ihr undankbarer Sohn
»Colombau von Penhoël.«

Einige Thränen, so groß wie Regentropfen eines Sturmes, befleckten die letzte Seite dieses Briefes, der mit einer schwachen Hand und mit der großen Schrift geschrieben war, weicht Beinahe immer die der ritterlichen Racen ist.

Dann schrieb Colombau sogleich, ohne diesen Brief zu versiegeln, den er nur mit der Hand auf die Seite schob, einen zweiten an Dominique Sarranti.

Er war also abgefaßt:

»Mein Bruder,

»Ich bis im Begriffe, zu sterben! An Sie wende ich mich als Freund, an Sie wende ich mich als Priester.

»Ich bedarf zugleich des Priesters und des Freundes.

»Zum Priester werde ich sagen:

»Mein Bruder, sprechen Sie nicht über meinem Leibe die grausame Blasphemie aus, derjenige, welcher sterben wolle, liebe Niemand; ich sterbe im Gegentheile, weil ich zu sehr geliebt habe.

»Ich habe vor den Augen ein Buch; wo der Selbstmord verflucht wird; es ist darin gesagt, unter den Thieren sei keines, das sich seine eigenen Eingeweide zerreiße und sich freiwillig des Lebens beraube,

»Ja, allerdings, ja, die Thiere gehorchen blindlings dem Schöpfer; der Mensch allein empört sich gegen ihn; doch Gott hat dem Thiere nur den Instinct gegeben, und er hat dem Menschen die Leidenschaften gegeben, darin liegt das ganze Geheimnis von Ungehorsam des Menschen und vom Gehorsam der Thiere.

»Und sogar, sagen Sie, mein Bruder, heißt es sich gegen Gott empören, eigenwillig zu ihm vorwärts zu gehen? wäre die wahre Empörung von meiner Seite nicht, zu leben, um das Leben und vielleicht denjenigen, welcher es mir gegeben, zu verfluchen? Nein, indem ich auf das Licht des Tages verzichte, komme ich nur den Beschlüssen der Natur zuvor: das Dasein und der Tod sind zwei von ihren Gesetzen; ein einziger Weg führt zum Leben; tausend sind gegen das Grab geöffnet und treiben uns zur Ewigkeit hin. O mein Gott! Ich weiß, ich kann Dich nicht meines Unglückes beschuldigen, doch ich klage meine Leidenschaften an, welche von Dir herkommen, da ich sie mit dem Leben an dem Tage empfangen habe, wo meine Seele Deinen Händen entschlüpft ist, um auf die Erde hinabzusteigen und das Kind zu beleben, das so eben geboren worden; sie hätten mich nicht niederschlagen können, würdest Du ihnen nicht die Macht dazu gegeben haben; indem ich mich also unter ihren Händen beuge, beuge ich mich unter Deiner Rechten! Du hast überdies die Dauer des Alters der Menschen nicht bestimmt, alle sollen geboren werden, leben und sterben: das sind Deine Gesetze; was liegt Dir an der Zeit und der Art?

»Mein Tod, o Natur! ewig Verzehrende und Fruchtbare! wird dir nichts von dem entziehen, was du mir gegeben hast: mein Leib, dieser unendlich kleine Theil des großen Ganzen, wird sich immer mit dir unter einer andern Form wiedervereinigen; meine Seele wird entweder mit mir sterben und sich in der ungeheuren Masse der Dinge modifizieren, oder sie wird unsterblich sein, und ihre göttliche Wesenheit wird in diesem Falle unversehrt bleiben. Lange Zeit dem Glauben unterthan, läßt sich meine Vernunft nicht mehr durch Sophismen verführen; ich höre die Stimme Gottes selbst, die mir sagt: ›Mensch, ich habe Dich geschaffen, damit Du durch Dein Glück zum; allgemeinen Glücke beitragest; und damit Du sicher hierzu gelangen könnest, habe ich Dir die Liebe zum Leben und das Grauen vor dem Tode gegeben; übersteigt aber die Summe der Leiden in Dir die der Glückseligkeit, sollten Dich die Wege, die ich Dir geöffnet habe, um den Uebeln zu entfliehen, im Gegentheile nur zu neuen Schmerzen führen, was verbindet Dich zur Dankbarkeit, da das Leben, das ich Dir als eine Wohlthat gegeben, für Dich eine Quelle der Mißgeschicke geworden sein wird?‹

»Wahnsinniger! welche Anmaßung! ich glaube mich nothwendig für die Welt! Meine Jahre sind ein unmerkbares Atom im unendlichen Raume der Zeiten! ich weiß nicht, warum, noch wie ich auf die Welt gekommen bin; noch was die Welt ist, noch was ich selbst bin; und gehe ich aufs Gerathewohl nach einem der vier Punkte des Horizonts, um es zu erfahren, so komme ich verwirrt von einer immer gräßlicheren Unwissenheit zurück! weiß nicht, was mein Leib ist, was meine Sinne sind, was meine Seele ist; ich weiß nicht, welcher Theil von mir das, was ich schreibe, denkt, und über Alles und über mich nachsinnt, ohne je dahin gelangen zu können, daß er sich selbst kennen lernt; ich versuche es endlich, mit dem Geiste die ungeheuren Ausdehnungen des Weltalls, das mich umgibt, zu ermessen; ich finde mich wie gefesselt an den Winkel eines unbegreiflichen Raumes ohne zu wissen, warum ich mehr hier, als anderswo gefesselt bin, und warum der kurze Augenblick meines Daseins, ein rascher Blitz zwischen zwei Nächten, eher dieser Stunde der Ewigkeit gehört, als der, welche ihr vorangegangen ist, oder der, welche ihr folgen soll. Auf allen Seiten sehe ich nur das Unendliche, das mich wie ein Atom absorbiert.

»Und während in den acht letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts, während in den fünfzehn ersten Jahren dieses Jahrhunderts vier Millionen Menschen gestorben sind, – geopfert ein paar Ruthen Landes, Grenzen genannt, und dem Rufe eines Mannes, den man einen Eroberer neunt,« – sollte ich mich fürchten, mir selbst und der Frau, für die und mit der ich sterbe, die paar Tage zu weihen, die mir bleibend? Das wäre, Sie müssen es zugestehen, mein Bruder, unsinnig, albern, unlogisch, in der physischen Ordnung, wie in der moralischen Ordnung.

»Dies für den Priester, Denker und Philosophen; für den Priester, der, da er weiß, was ich gelitten, für mich zu Gott seine reinen Hände und seinen von jeder Leidenschaft freien Geist erheben wird; für den Priester, der, so wenig christlich unser Tod auch ist, nicht erlauben wird, daß unsere zwei Leiber ohne ein Gebet oder wenigstens ohne ein Gottbefohlen ins Grab sinken.

»Nun für den Freund:

»Guter Dominique, theurer Freund meines Herzens, morgen früh, sobald Du diesen Brief empfangen hast, wirst Du nach dem Bas-Meudon abgehen; Du kennst das Haus das ich bewohne: Du wirst eintreten und aus demselben Bette liegend die Leichname von einem jungen Manne, und einem Mädchen finden, welche gestorben sind, damit sie weder vor den Menschen, noch vor Gott über sich selbst zu erröthen haben.

»Theurer Freund, Dir allein vertraue ich die letzte Sorge für unsere Beerdigung.

»Wir konnten nicht mit einander in dieser Welt leben; wir konnten weder dasselbe Leben leben, noch auf demselben Lager schlafen; wir wünschen wenigstens in demselben Sarge in der Ewigkeit zu ruhen.

»Lieber Dominique, Du wirst also einen Sarg machen lassen, der groß genug, daß man uns neben einander dareinlegen kann; Du wirst die letzten Blumen von dem Rosenstocke pflücken, den Du in unserem Zimmer findest, und Du wirst sie auf uns entblättern; dann wird dann wird Alles geschehen sein, und wir werden nur noch Deiner Gebete bedürfen.

»Doch es werd ein Mann bleiben, der Deiner sehr bedarf, theurer Freund meines Herzens: das ist mein Vater.

»Sobald seinem Sohne die letzte Pflicht erwiesen ist, wirst Du nach der Bretagne abreisen; nicht wahr, nichts wird Dich in Paris zurückhalten? Du wirst ihn in Thränen finden; Du wirst es nicht versuchen, ihn zu trösten: Du wirst mit ihm weinen.

»Lebe wohl,« theurer Freunds morgen zu gleicher Stunde werden die Menschen; deren Meinung ich mich opfere, weder für, noch gegen mich mehr etwas vermögen: Carmelite und ich, wir werden zu den Füßen den Herrn liegen.

»Dein Freund, . . . mehr als Dein Freund, Dein Bruder

»Colombau von Penhoël.«

Denn versiegelte er beide Briefe und schrieb die zwei Adressen; nur fügte er auf dem an seinen Vater bei:

»Auf die Post zu tragen.«

Auf dem an Dominique Sarranti:

»Morgen früh vor sieben Uhr überbringen zu lassen.«