Za darmo

Die Mohicaner von Paris

Tekst
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Fünftes bis achtes Bändchen

XXIX
Resignation

Die Trostlose, wie die schöne Susanne von Valgeneuse ihre Freundin nannte, ließ ein Herz zurück, welches nicht minder trostlos, als das ihre.

Diesen Herz war das von Justin. Wir täuschen und wir müßten sagen Herzen.

Diese Herzen waren die von Justin, von seiner Mutter, von Schwester Céleste, vom guten Professor und vom Pfarrer der Bouille, der nicht wußte, was er Schlimmes that und sich in der Einfalt seiner Seele für einen Boten der Freude hielt, während er im Gegenteil ein Bote der Schmerzen war.

Doch diejenige, welche von Allen am meisten gelitten, denn sie hatte für sich und ihren Sohn gelitten, war die Mutter.

Sie, die am Anfang so stark, war am Ende gelähmt gewesen.

Vor dem Abschied war sie, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Schrei von sich zu geben, ohne eine Thräne zu vergießen, unmerklich ohnmächtig geworden.

Keiner von diesen egoistischen Unglücklichen hatte ihre Ohnmacht bemerkt.

Derjenige, welcher es bemerkte, weil es ihm schien, als ränge ein Theil seines Herzens mit dem Tode, war Justin.

»Meine Mutter! meine Mutter!« rief er, »ei! seht doch meine Mutter!«

Man stürzte sich auf die Blinde; Justin fiel vor ihr auf die Kniee und umschlang sie mit seinen Armen.

Ihr Gesicht war wachsfarbig geworden; ihre Hände waren kalt wie Marmor; ihre Lippen bläulich.

Die Letztgeborenen der Hoffnungen ihres Alters waren gestorben.

Das Erschreckliche bei Allem dem war, daß man die Schuld nicht auf irgend Jemand werfen, nicht gegen irgend Jemand Anklage erheben konnte.

Jedermann hatte eine gute Absicht gehabte selbst der arme Pfarrer der Bouille.

Das war Verhängniß, nichts Anderes.

Man lief zum Apotheker, der Satze gab.

Mittelst der Salze und des Essigs kam Madame Corby wieder zu sich.

Das Erste, nicht was sie sah, die arme Blinde sondern was sie fühlte, war ihr Sohn, der sie tröstete er, der des Tröstens selbst so sehr bedurfte.

Doch der gute Justin bemerkte seinen Schmerz nicht, wenn Jemand in seiner Nähe litt, und besonders, wenn dieser Jemand seine Mutter war.

Er blieb also bei Madame Corby, nicht nur bis sie wieder zu sich gekommen war, sondern sogar bis sie sich zu Bette gelegt hatte.

Dann aber, da sie begriff, daß es für ihren Sohn Bedürfnis war, selbst zu weinen, und wohl fühlte, er wage es nicht in ihrer Gegenwart zu weinen, aus Furcht, sie in Verzweiflung zu bringen, verlangte sie von ihm, daß er sich in sein Zimmer zurückziehe.

Justin ging in sein Stübchen hinab; Alles, was er vom ersten Stocke mitnahm, war der Orangenblüthenkranz, den Mina, als sie ihn verlassen, von ihrem Kopf gerissen und ihm zugeworfen hatte.

Der gute Professor ging mit Justin hinab.

Was den Pfarrer der Bouille betrifft, – er hatte nichts mehr in Paris zu thun; er setzte sich um sechs Uhr Abends wieder in den Wagen nach Rouen und nahm das verfluchte Geld mit, das ein so großes Unglück verursacht hatte.

Während er sich von dem Babylon entfernte, wo sich bald unser Drama entrollen wird, waren Justin und sein Professor wieder in die Stube der Schüler hinabgegangen, denen man auf Anlaß der großen Feierlichkeit, welche statthaben sollte, und zugleich wegen des Fasching-Monntags, der ausnahmsweise in diesem Jahre auf den Anfang des Februars fiel, Vacanz gegeben hatte.

Das düstere Gesicht seines Zöglings flößte dem guten Müller eine tiefe Angst ein; er fing an, in der Hoffnung, ihn zu zerstreuen, Justin an alle mögliche gemeinschaftlich erlebte Geschichten zu erinnern, und ging dabei bis zu dem Augenblicks wo das Zusammentreffen mit dem kleinen Mädchen vorgefallen war.

Hier wollte er anhalten; nun war es aber Justin, der seinerseits umständlich das anbetungswürdige Leben erzählte, das er seit sechs Jahren geführt hatte.

»Wir sind zu glücklich gewesen,« sagte er; »viele Ahnungen haben mir verkündigt, ich müsse mich darauf vorbereiten, früher oder später den Sieg, den ich über mein schlimmes Geschick davongetragen, teuer zu bezahlen. Ich habe sechs Jahre lang eine unaussprechliche Glückseligkeit genossen; das ist beinahe das Sechstel des Lebens: wenige Menschen können dasselbe sagen. Ich habe die Freuden dieser sechs Jahre vergessen; ich werde das Unglück vergessen, wie ich die Freude vergessen habe: Freuden und Schmerzen werden sich eines Tages in der grauen Tinte der Vergangenheit verschmelzen. Seien Sie also nicht besorgt nur mich, mein lieber Meister; halten Sie mich nie für fähig, einen finstren Vorsatz zu fassen . . . Gehöre ich übrigens mir? bin ich mich nicht meiner guten Mutter, meiner armen Schwester schuldig? Nein, nein, mein lieber Meister, mein Entschluß steht fest: ich habe gegen die Armuth gekämpft, ich werde gegen den Schmerz kämpfen . . . Lassen Sie ein paar Tage meine Wunden sich vernarben; erlauben Sie besonders, daß ich allein bleibe; in der Einsamkeit ist für die ergebenen Herzen eine unbekannte Religion: die Resignation, lieber Meister, ist die Stärke der Schwachen, und Sie werden mich stärker und geprüfter in den Kampf des Lebens zurückkehren sehen.«

Der alle Meister entfernte sich erstaunt, beinahe erschrocken über die Macht der Resignation dieses Menschen, aber völlig beruhigt über die Folgen seiner Verzweiflung.

Justin, nachdem er Müller bis zur Hausthüre begleitet hatte, lehrte in sein Zimmer zurück und ging langsam und lang mit gekreuzten Armen und gesenktem Kopfe auf und ab, wobei er von Zeit zu Zeit die Augen zur Decke empor richtete, als hätte er vom Himmel eine Erklärung des Räthsels verlangen wollen, das man das Verhängnis nennt.

Zwei- oder dreimal ging er bis zur Thüre des Schrankes, wo das Violoncell in seinem Kasten schlummerte.

Doch er öffnete die Thüre nicht einmal.

An diesem Abend war er noch zu schwach.

Bis Morgens um drei Uhr ging er so auf und ab;er hatte vom vorhergehenden Morgen an nicht weinen können.

Sein Schmerz versteinerte sich, so zu sagen, in seinem Busen und erstickte ihn. Er warf sich auf sein Bett: die Müdigkeit gewann die Oberhand, und er entschlief.

In der Nacht vorher hatte er dieselbe Schlaflosigkeit und denselben Schlaf gehabt: nur hatte die Freude seine Augen offen gehalten, und die Müdigkeit des Glückes hatte sie geschlossen!

Glücklicher Weise war an diesem Tage Faschingsdienstag und folglich Vacanz: es stand ihm also frei, sich mit seinem Schmerz zu isolieren, ihm zu Leibe zugehen, mit ihm zu ringen, es zu versuchen, ihn zu Boden zu werfen.

Der Kampf dauerte den ganzen Tag. Nachdem er seine Mutter und seine Schwester umarmt hatte, ging er bei Tagesanbruch aus; er wollte aufs Reue den Ort besuchen, wo er in einer schönen Juninacht das Kind im Getreide und in den Blumen liegend gefunden hatte.

Es gab weder Kornblumen, noch Klapperrosen, noch blonde Aehren mehr; die Erde war, wie sein Herz, kahl, entblößt, gesprungen durch den Winter.

Er erging sich im Walde von Meudon, der so heiter, so lachend, so voll Sonne und Grün, wenn er mit seinem Professor darin lustwandelte; er gelangte bis zu den Thoren von Versailles.

Doch er hatte die Stärke, nicht bis zum Pensionat-zu gehen.

Wozu sollte es nützen, die Arme wiederzusehen?

War er nicht sicher, daß sie fern von seinem Anblick weinte? war er nicht sicher, daß sie bei seinem Anblick noch mehr weinen würde?

Hoffnung blieb ihm keine mehr! Es war für ihn klar, daß Mina einer reichen aristokratischen Familie angehörte; und welche Aussicht war vorhanden, daß man sie ihm, dem Demüthigen, dem Armen, geben würde?

Er konnte sie allerdings sehen; das wollte er aber gerade nicht thun.

Justin kam Abends um zehn Uhr nach Hause; er hatte fünfzehn Meilen am Tage gemacht und fühlte nicht die geringste Müdigkeit.

Seine Mutter und seine Schwester erwarteten ihn-Beide unruhig.

Er kam mit lächelndem Gesichte zurück, küßte sie und stieg in sein Zimmer hinab. Es ereignete sich dasselbe, was sich am Tage vorher ereignet hatte: er ging langsam und traurig auf und ab; er zählte die Stunden bis Mitternacht; sodann nachdem er wie am vorhergehenden Tage, mehrere Male vor dem Schranke, wo sein Violoncell war, stehen geblieben, entschloß er sich, die Thüre zu öffnen, zog das Instrument aus seinem Kasten und schaute es mit tiefer Melancholie an.

Das Mädchen hatte ihn, wie man sich erinnert, in einer kindischen Laune veranlaßt, auf dieses düstere Instrument zu verzichten; wir haben mehrere Male gesehen, wie er es aus seinem Kasten zog, zwischen seine Kniee schloß, sich in der fehlenden Melodie berauschte, aber wir haben ihn keine einzige Note entlocken hören.

Heute kam er zu ihm zurück.

»Ich bin undankbar gewesen, o mein alter Freund! o mein zärtlicher Tröster!« sagte er. »Ich habe dich während meiner Tage der Freude verlassen: ich finde dich in den Tagen meines Unglücks wieder!«

Und er küßte das Violoncell voll Innigkeit.

»O unerschöpfliche Quelle der Tröstungen,« fuhr er fort; »Musik! Zuflucht der weinenden Seelen; ich habe es gemacht wie der verlorene Sohn: ich habe dich eines Tags verlassen, theure Familie meiner Seele! die Schmerzen haben mich in Schaaren überfallen, und ich komme zu dir zurück mit gequetschten Füßen und gebrochenem Herzen, und du streckst mir die Arme entgegen, harmonische Göttin! und du nimmst mich auf, das Herz voll Mitleid und Liebe!«

Und er zog, wie er es mit dem Instrumente gemacht, aus dem Schranke sein altes Musikbuch, legte es auf sein Pult, öffnete es, setzte sich auf das hohe Tabouret, nahm das Violoncell und hielt den Bogen auf die Saiten..

In dem Momente, wo er spielen wollte, entfielen zwei Thränen seinen Augen.

Er schob den Bogen unter seinen Arm, trocknete .langsam seine feuchten Augenlider und fing an denselben ernsten, schwermüthigen Gesang zu spielen, den Salvator und Jean Robert zwei Stunden vor dem Anfange dieser Erzählung gehört hatten.

 

Man weiß, wie Salvator an die Thüre klopfte, wie die zwei Freunde von Justin eingeführt wurden, wie sie ihn nach der Ursache seiner Thränen fragten, wie der Schulmeister ihnen seine Geschichte zu erzählen einwilligte.

Diese Geschichte ist dies welche wir unsern Lesern so eben vor Augen gelegt haben.

Die zwei jungen Leute hörten sie mit sehr verschiedenartigen Eindrücken an.

Der Dichter war lebhaft bewegt bei gewissen Stellen: bei der Scene der Mutter, die ihren Sohn eher zum Unglück verdammt, als daß sie ihn eine zweifelhafte Handlung begehen läßt, traten ihm die Thränen in die Augen.

Der Philosoph hörte sie von Anfang hie zum Ende mit einer scheinbaren Unempfindlichkeit an; nur bebte er beim Namen von Fräulein Susanne und Herrn Loredan von Valgeneuse; es war, als hörte er diese Namen nicht zum ersten Male aussprechen, und jeder von ihnen schien in moralischer Hinsicht auf ihn denselben Eindruck zu machen, den in physischer die Berührung eines harten Körpers bei einer schlecht geschlossenen Wunde macht.

»Mein Herr,« sagte Jean Robert, »wir wären unwürdig, gehört zu haben, was Sie uns erzählt, versuchten wir es, einem Manne wie Ihnen Alltagströstungen zu geben . . . Hier sind unsere Adressen; bedürfen Sie je zweier Freunde, so bitten wir Sie, uns den Vorzug zu geben.«

Und zugleich riß Jean Robert ein Blatt aus seinem Portefeuille, schrieb die zwei Namen und die zwei Adressen darauf und gab sie Justin.

Dieser nahm sie und legte sie zwischen die Blätter seines Musikbuches.

Hier war er sicher, sie alle Tage wiederzufinden.

Dann reichte er seine beiden Hände den zwei jungen Leuten.

In dem Augenblick, wo diese vier Hände sich drückten, klopfte man heftig an die Thüre.

Wer konnte zu dieser Stunde klopfen? Justin war so losgetrennt von jedem niederen Interesse, als dem, welches sein Innersten erfüllte, daß es ihm nicht einmal einfiel, dieses so kräftige Klopfen könnte ihn betreffen.

Er ließ die zwei jungen Leute hinnausgehen und indem sie hinausgingen, die Thüre dem nächtlichen oder vielmehr morgendlichen Besuche öffnen, denn die ersten Strahlen des Tages fingen an zu erscheinen.

Derjenige, welcher an die Thüre klopfte, war ein Knabe von dreizehn bin vierzehn Jahren, mit blonden, rings um seinen Kopf gekräuselten Haaren, mit rosigen Wangen, mit leicht zerlumpten Kleidern.

Ein echter Pariser Straßenjunge mit einer blauen Blouse, einer Mütze ohne Schild, mit niedergetretenen Schuhen.

Er schaute empor, um zu sehen, wer die Thüre geöffnet.

.

»Ah! Sie sind es, Herr Salvator!« sagte er.

»Was willst Du zu dieser Stande hier, Herr Babolin?· fragte der Commissionär, indem er den Straßenjungen freundschaftlich beim Kragen seiner Blouse nahm.

»Ei! ich bringe Herrn Justin, dem Schulmeister einen Brief, den die Brocante heute Nacht, als sie ihre Runde machte, gefunden hat.«

»Ah! was den Schulmeister betrifft,« sagte Salvator: »Du weist, daß Du mir bis zum 15. März lesen zu können versprochen hast?«

»Nun! Nun! Nun! wir sind erst beim 7. Februar; es ist noch keine Zeit verloren.«

»Du weißt, daß ich Dir, wenn Du am 15. nicht geläufig ließt, am 16. die Bücher wieder nehme, die ich Dir gegeben habe?«

»Selbst die, wo Bilder darin sind? . . . Oh! Herr Salvator!«

»Alle ohne Ausnahme.«

»Nun, so sehen Sie, daß man lesen kann,« sagte der Knabe.

Und er warf einen Blick auf die Adresse des Briefes und las:

»An Herrn Justin, Faubourg Saint-Jacques, Nr. 20. »Einen Louis d’or Belohnung demjenigen, welcher ihm diesen Brief übergibt.

»Mina.«

Die Adresse und der Beisatz waren mit Bleistift geschrieben.

»Ueberbring es geschwinde, geschwinde, mein Kind!« sagte Salvator, während er Babolin gegen die Wohnung des Schulmeisters hinschob.

Babolin eilte mit zwei Sprüngen über den Hof, trat ein und rief:

»Herr Justin! Herr Justin! ein Brief von Medemoiselle Mina!«

»Was machen wir?« fragte Jean Robert.

»Bleiben wir,« antwortete Salvator; »es ist wahrscheinlich, daß dieser Brief ein neues Ereigniß mittheilt, bei welchem unser Beistand diesem wackern jungen Manne nützlich sein kann.

Salvator hatte nicht vollendet, als Justin bleich wie ein Gespenst auf der Schwelle seiner Thüre erschien.

»Sie sind noch da!« rief er, »Gott sei gelobt! . . . Lesen Sie, lesen Sie!«

Und er reichte den zwei jungen Leuten den Brief:

Salvator nahm ihn und las:

»Man entführt mich mit Gewalt, man schleppt mich fort . . . ich weiß nicht wohin! Zu Hilfe, Justin rette mich, mein Bruder! oder räche mich, mein Gatte!

»Mina.«

»Oh! meine Freunde!« rief Justin, indem er die Arme gegen die zwei jungen Leute ausstreckte, »die Vorsehung hat Sie hierher geführt!«

»Nun,« sprach Salvator zu Jean Robert, »Sie verlangten Roman: ich hoffe, hier ist, mein Theurer!«

XXX
Zuerst das Dringendste

Die drei jungen Leute schauten sich einen Augenblick an.

Die erste Minute gehörte der Bestürzung; die zweite war bei Salvator besonders, eine Rückkehr zur Kaltblütigkeit.

»Ruhe!« sagte er, »die Sache ist ernst, wir dürfen nicht als Kinder handeln.«

»Aber man entführt sie!« rief Justin; »man entführt sie! sie ruft mich zu Hilfe! sie verlangt von mir daß ich sie räche!«

»Ja, ganz richtig, und darum muß man wissen, wer sie entführt, und wohin man sie entführt.«

»Oh! wie das wissen? mein Gott! mein Gott!«

»Man erfährt Alles mit der Zeit und mit Geduld! Nicht wahr! Sie sind Ihrer Mina sicher?«

»Wie meiner selbst.«

»Nun, so seien Sie ruhig, Sie wird sich wehren. Suchen wir das Dringendste auf dem kürzesten Wege zu erreichen.«

»Oh! Ja, erbarmen Sie sieh meiner . . . Ich werde wahnsinnig!«

Die Resignation von Justin verschwand vor dem Gedanken, Mina sei in den Händen von irgend einem Räuber und könne einer physischen oder moralischen Gewalttat unterworfen werden.

»Babolin ist da?« fragte Salvator.

»Ja!«

»Befragen wir ihn.«

»Befragen wir ihn!« wiederholte Justin.

»In der That,« sprach Jean Robert, »hiermit müssen wir anfangen.«

»Man ging wieder in das Zimmer des Schulmeisters hinein.

»Vor Allem,« sagte Salvator, »geben Sie diesem Kunden einen Louis d’or für seine Mutter, und ein Stück Münze für ihn.«

Justin zog zwei Louis d’or und zwei Fünf-Franken-Stücke aus seiner Tasche und gab sie Babolin.

Salvator bemächtigte sich aber der Hand des Knaben in dem Augenblick, wo sie sieh schloß, öffnete sie wieder mit Gewalt, nahm, zur großen Verzweiflung von Babolin, einen Louis d’or und ein Fünf-Franken-Stück und gab Beides Justin zurück.

»Stecken Sie diese fünf und zwanzig Franken wieder in die Tasche,« sagte er; »binnen einer Stunde werden Sie eine Verwendung hierfür finden.«

Hiernach wandte er sich gegen den Knaben um sagte:

»Wo hat Deine Mutter diesen Brief gefunden?«

»Wie beliebt?« versetzte der Knabe mit der Miene eines Schmollenden.

»Ich frage Dich: wo hat Deine Mutter diesen Brief gefunden . . . welche Straßen hat sie gemacht

»Weiß ich das? fragen Sie sie selbst.«

»Er hat Recht,« sagte Salvator; sie muß man fragen, und es ist sogar wahrscheinlich, daß sie auf, Ihren Besuch rechnet . . . Warten Sie! . . . organisieren wir unsere Batterien!«

»Leiten Sie uns: ich werde gehorchen. Ich ich habe den Kauf verloren.«

»Sie wissen, daß Sie über mich verfügen können, mein lieber Salvator,« sagte Jena Robert.

»Ja, und ich gedenke Ihnen auch eine Rolle in diesem Drama zu geben.

»Gut! und sie sei so thätig, als Sie wollen! Ich habe meine Gemütsbewegungen als Autor gehabt; es ist mir nicht unangenehm, sie auch als Schauspieler zu haben.

»Oh! ich bitte Sie, meine Herren, ich bitte Sie!« sagte Justin, der jede Minute, welche verlief, als kostbar betrachtete.

»Sie haben Recht . . . Hören Sie, was wir thun müssen.«

»Sprechen Sie!«

»Herr Justin, Sie werden diesem Knaben zu seiner Mutter folgen.«

»Ich bin bereit.«

»Warten Sie! . . . Herr Jean Robert, Sie werden sich ein gesatteltes Pferd verschaffen und mit ihm nach der Rue Triperet Nr. 11. zurückkehren.«

»Nichts kann leichter sein.«

»Ich ich will die Anzeige bei der Polizei machen.«

»Kennen Sie dort Jemand?«

»Ich kenne den Mann, den wir brauchen.«

»Gut! . . . Und dann?«

»Und dann komme ich zu Ihnen in die Rue Triperet Nr. 11 zur Mutter dieses Knaben, und dort werden wir auf das Weitere bedacht sein.«

»Komm, Kleiner, vorwärts!« sagte Justin.

»Hinterlassen Sie zuvor ein Wort, um Ihre Mutter zu beruhigen,« sagte Salvator; »es ist möglich, daß Sie erst spät zurückkommen, oder daß Sie gar nicht zurückkommen.«

»Sie haben Recht,« erwiderte Justin; »arme Mutter! ich vergaß sie!«

Und er schrieb hastig ein paar Zeilen auf ein Papier, das er offen auf dem Tische seines Zimmers liegen ließ.

Er theilte seiner Mutter mit, ohne ihr etwas Anderes zu sagen, er habe so eben einen Brief erhalten, der seinen Tag in anspruch nehme.

»Und nun lassen Sie uns gehen!« rief er.

Die drei jungen Leute eilten aus dem Hause; es mochte halb sieben Uhr Morgens sein.

»Hier ist Ihr Weg,« sprach Salvator, indem er von fern Justin die Rue des Ursulines bezeichnete; »hier der Ihre,« fügte er, Jean Robert die Rue de la Bourbe zeigend, bei; und hier der meine,« vollendete er, während er den Weg durch die Rue Saint-Jacques einschlug.

Als er dreißig Schritte gemacht hatte, wandte er sich noch einmal um und rief:

»Das Rendez-vous ist in der Rue Triperet No. 11!«

Folgen wir dem Haupthelden der Ereignisse, welche in diesem Augenblicke vor sich gehen, und – während Jean Robert nach der Rue de l’Université läuft, um sich sein Pferd satteln zu lassen, und Salvator sich in Eile auf die Polizei begibt – begleiten wir Justin Corby, der auf den Fersen von Babolin gehend, nach der Rue Triperet zuschreitet.

Die Rue Triperet ist, wie Jeder weiß, oder viel- mehr wie Jeder nicht weiß, eine mit der Rue Copeau parallele und auf die Tue Gracieuse senkrecht zulaufende Gasse.

Dieses ganze Quartier erinnerte noch im Jahre 1827 an das Paris von Philipp August. Die um die Mauern von Sainte-Pélagie kreisenden kothigen Fußpfade gaben diesem Gefängniß das Ansehen einer mitten auf einer Insel erbauten alten Festung; die kaum acht bis zehn Fuß breiten Gassen waren noch versperrt durch Haufen von Mist und Schutt, und die Kloaken, wo die unglücklichen Bewohner dieser Quartiere vegetierten, glichen viel mehr Hätten, als Häusern.

Vor einem dieser Löcher blieb Babolin stehen.«

»Es ist hier,« sagte er.

Das war ein stinkender Ort, der aus allen Poren Elend und Unreinigkeit schwitzte.

Justin merkte nicht einmal darauf.

»Gehe voran,« sagte er. »ich werde Dir folgen.«

Babolin trat als ein Mensch ein, der, wie man sagt, an des Hauses Gelegenheiten gewöhnt ist.

Nach zehn Schritten blieb Justin stehen.

»Wo bist Du?»sagte er; »ich sehe nicht.«

»Ich bin hier, Herr Justin,« erwiderte der Knabe, indem er sich dem Schulmeister näherte; »nehmen Sie mich unten an der Blouse.«

Justin nahm Babolin unten an der Blouse und kletterte die hohe Leiter hinauf, welche unter dem anspruchsvollen Namen Treppe zur Mutter Brocante führte.

Sie kamen vor die Thüre ihres Hundestalls, – und die Wohnung der Brocantes schien in jeder Beziehung diesen Namen zu rechtfertigen, denn kaum war man auf dem Ruheplatze, als man das Geschrei von einem Dutzend Hunde hörte, welche in allen Tonarten bellten, kläfften und heulten.

»Ich bin es, Mutter,« sagte Babolin, der sich ein Sprachrohr aus seinen beiden Händen machte, die er ans Schlüsselloch hielt; »öffnet, ich bin mit Gesellschaft da.«

»Wollt ihr wohl schweigen, wüthendes Gesindel!« rief im Innern der Stube, sich an die Mente wendend, die Stimme der Brocante; man hört sich selbst nicht hier . . . Wirst du schweigen, Cäsar! wirst du schweigen, Pluto! Stille, Alle!«

Und auf den mit einer drohenden Stimme ausgesprochenen Befehl trat eine solche Stille ein, daß man hätte eine Maus in diesem Hause gehen hören, dem es übrigens nicht an Mäusen fehlen mußte.

»Du kennst nun eintreten, Du und Deine Gesellschaft,« sagte die Stimme.

»Und wie dies?«

»Du brauchst nur die Thüre aufzumachen; der Riegel ist nicht vorgeschoben.«

»Oh! das ist etwas Anderes,« versetzte Babolin.

 

Und er hob die Klinke auf, öffnete die Thüre, welche dem ungeduldigen Justin Einlaß gewährte, und stellte ihn vor ein Schauspiel, das, ohne gerade äußerst poetisch zu sein, doch eine besondere Beschreibung verdient.

Man denke sich, in der That, eine Art von Halle in ihrer Länge und ihrer Breite getheilt durch zwei kreuzweise Balken, deren Bestimmung es war, das Dachwerk dieses Speichers zu tragen, aus dem man eine Stube gemacht hatte; eine Decke, bestehend aus Latten die als Unterlage den Ziegeln des Dachstuhles dienten, und durch deren Zwischenräume man den ersten Schimmer des Tages erschauen konnte; an gewissen Stellen so bedrohliche Ausbauchungen des Daches, daß es außer Zweifel war, die Bedeckung werde beim ersten Sturmwinde einstürzen! Man stelle sich graue, feuchte Gypswände vor, an denen einsame Spinnen, mit Verachtung Völkerschaften von Insecten aller Art anschauend, hinliefen, – und man wird den Eindruck des Ekels begreifen, der jeden Menschen ergriffen hätte, welcher an einen solchen Orts unter der Macht eines Gefühles, das minder gebieterisch als das, welches Justin dahin zog, gerufen morden wäre.

Ein Dutzend Hunde, Doggen, Dachshunde, Pudel, falsche Dänen, regten sich in einer der Ecken der Stube, alle aufgehäuft in einem alten, aus Weiden geflochtenen Korbe, wo bequem höchstens vier bis fünf Platz gehabt hätten.

Auf dem Winkel, den die zwei Balken bildeten, hockte eine Krähe, welche mit den Flügeln schlug, ohne Zweifel als eine Kundgebung ihrer Freude während des Hundeconcerts.

Auf einem Schemel sitzend, an den Fuß des Balkens angelehnt, der einem Pfeiler ähnlich, dieses ganze wankende Gebäude stützte, umgehen von einer Art von Böschung von Lumpen von allen Stoffen und allen Farben, welche drei hie vier Fuß hoch an der Mauer aufstieg, hielt eine Frau von fünfzig Jahren dem Anscheine nach, groß, mager, knochig, abgemergelt wie ein Cabrioletpferd, zwischen ihren Beinen knieend ein junges Mädchen, dessen lange Haare sie mit einer Sorgfalt kämmte, welche bei der alten Zigeunerin entweder eine große Liebe für das Mädchen, oder einen großen Respekt für die Schönheit seiner Haare bezeichnete.

Diese Scene, der es nicht auf Pittoreskem gebrach, besondere wegen des typischen Gegensatzes der Personen, aus denen sie bestand, war beleuchtet durch eine auf einem umgekehrten Korbe stehende Lampe von Steingut, die ihrer Form nach viel Aehnlichkeit mit jenen bei den Ausgrabungen in Herculanum oder Pompeji aufgefundenen Lampen hatte.

–Die alte Frau, – ohne Zweifel diejenige., welche Babolin unter dem Namen Brocante bezeichnet hatte, – war bekleidet mit braunen Fetzen, rechte und links aufgelesenen Stoffen, welche an einander genäht, wie die Karte eines Schneiders, ein Muster von allen Nuancen vom Braun zu bieten bestimmt schienen.

Die zwischen ihren Beinen knieende Kleine hatte als ganzes Costume nur ein langen Hemd von roher Leinwand, dem ähnlich, mit welchem Scheffer Mignon bekleidet; dieses Hemd nahm die Form einer Blouse an, umschlossen, wie es war, an den Hüften von einer Art von grau und kirschroten baumwollenen Schnur, an deren Enden zwei große Eicheln ähnlich denen hingen, welche an den Vorhanghaltern dienen; der Hals und die Brust des Kindes waren verborgen unter einer ganz zerrissenen, kirschroten wollenen Echarpe, welche mit der dunklere Nuance der Schnur harmonierte, so weit die Wolle mir der Baumwolle harmonieren kann.

Ihre gekreuzten Füße, auf denen sie gekauert ruhte, waren nackt.

Es waren reizende Füße, ein Paar Füße einer Prinzessin, einer Andalusierin, oder einer Zigeunerin.

Was ihr Gesicht betrifft, das sie der Thüre in dem Augenblick zuwandte, wo sich dieselbe öffnete, um Babolin und dem Schulmeister Eingang zu gewähren, – ihr Gesicht hatte jene krankhafte Blässe der armen verschmachtenden Blumen unserer Vorstädte; ihre Züge waren von einer bewunderungswürdigen Regelmäßigkeit und Reinheit; doch die abgemagerten Umrisse dieses leidenden Gesichtes trübten die Bewunderung. Die mit einem blauen Kreise umgebenen Augen, die Tiefe der Augenhöhlen, die unruhigen Blicke, die Halbflächen der eingefallenen Backen, der wie eine Erinnerung des Hungers oder der Angst halb geöffnete Mund, die ernste Stirne, die sanfte harmonische Stimme, die spärlichen Worte, die sie hören ließ, Alles trug dazu bei, ihrem Anblick etwas Seltsames, Fantastisches zu verleihen, was unsern Freund Petrus, hätte er sich diesem reizenden Modell gegenüber befunden, an die Idee, die er sich von Medea als Kind oder von Circe als Jungfrau gemacht, gemahnt hätte.

Es fehlte ihr nichts als ein goldener Stab und der Rahmen der Berge Thessaliens oder der Abruzzen, um eine Magierin zu sein; es fehlte ihr nichts als eine Tunica mit purpurrothen Blumen, als Perlen um die Arme und in den Haaren, um eine Zauberin zu sein; fehlte ihr nichts als ein Kranz von Seerosen und ein Wagen von Perlmuttter, von Tauben gezogen, um eine Fee zu sein.

Im Uebrigen, und um zu der unseligen Wirklichkeit zurückzukehren, war es – abgesehen von der Poesie und einer seltsamen Reinlichkeit unter all diesem Elend – die Verkörperung der Pariserin dieser traurigen Vorstädte; der Mangel von Luft, der Mangel an Sonne, der Mangel an Nahrung, die Abwesenheit dieser drei Lebenselemente war in unauslöschbaren Charakteren auf dem ganzen gebrechlichen Leibe der armen Creatur sichtbar.

Sagen wir sogleich, auf die Gefahr, die Handlung unseres Dramas, von dem übrigens die Geschichte von Justin und Mina nur eine Episode ist, zu hemmen, sagen wir sogleich, was man von diesem Geheimnisvollen, poetischen Kinde wußte.

Wir werden Babolin und den Schulmeister auf der Thürschwelle, wo wir sie lassen, wiederfinden.