Welche Farbe hat der Wind

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*

Das Feuerwerk verpuffte, die Nacht ging in die Dämmerung über. Tagane befreite sich aus dem Bündel von Leibern, die ausgestreckt auf den Algen lagen. Ganz vorsichtig, um sie nicht zu wecken, zog sie Marinas Hand von ihren Brüsten und eine Locke ihres blonden Haars von ihrem Hals, dann stand sie zitternd auf, kaum imstande, auf ihren Beinen zu stehen. Sie hatte Hunger. Das kann warten, beschloss sie und trat an die Sichtluke. Die beiden Argosies hatten immer noch ihre Arme verschlungen. Tausende transparenter Kugeln, so groß wie Taganes geballte Faust, trieben im Meer. Eier, befruchtete Eier. Befruchtet in einer Nacht der Instinkte und Leidenschaften und süßer Hingabe von Mensch und Tier, in einem Ozean, der sie alle nährte, der ihr Zuhause war - einem Ozean des Lebens.

Tagane wusste nicht, wie lang sie durch die Sichtluke starrte. Plötzlich spürte sie einen warmen Atem in ihrem Rücken. Die unrasierte Wange lehnte sich an ihr Gesicht. Tagane hob eine Hand und fuhr mit den Fingern durch Svens Haar. Sven ließ seine Hand auf ihren Bauch sinken und streichelte ihn sanft und fürsorglich. Der Drang war befriedigt, alles war gemäß den Traditionen und Sitten der Argosies und Seeleute getan worden. »Woran denkst du?«, flüsterte Sven und küsste ihren Hals.

Die Leiber auf den Matratzen rührten sich. Mina murmelte etwas im Schlaf. Slaven drückte sie an sich, und sie wurde wieder ruhig. Conrad schlummerte neben Roberta, Tilda und Marina. Alle vier schliefen fest, und Tagane wusste, dass sie eine ganze Zeit nicht mehr aufwachen würden. Mit ihrer Hand bedeckte sie Svens Hand auf ihrem Bauch. Vielleicht hatte in der letzten Nacht ein neues Leben begonnen, wer wusste das schon? Wenn sie Glück hatten, mochten sie alle mit Kindern gesegnet sein.

Tagane sah durch die Sichtluke zwei neue kleine Argosies, gerade erst gezeugt, in die Tiefe sinken, wo sie schlüpfen und wachsen und reifen und - wenn sie das Glück hatten, unzähligen, mit scharfen Zähnen gespickten Kiefern zu entkommen - eines Tages groß und mächtig an die Meeresoberfläche zurückkehren würden. Als ausgewachsene Argosies.

Und Argosies brauchten immer Kapitäne und Seeleute.

Deutsch von Michael K. Iwoleit

Fußspuren am Strand

Zähne. Scharf, nach hinten gebogen und gezackt, um besser Fleisch zerreißen zu können. Zähne, die sich durch eine friedliche Herde Iguanodons beißen, die im frühen Morgenlicht grasen.

Die Meute brüllender Megalosaurier - graue, mit grünen Tarnflecken gesprenkelte Raubtiere - jagte über die Waldlichtung und stürzte die Iguanodons in blinde Panik.

Inmitten der schrecklichen Schreie war Sie, auf die Hinterbeine aufgerichtet, während sie durch die aufgeschreckte Herde lief, sich nur der Zähne eines Megalosauriers bewusst, der den Abstand immer mehr verringerte, der schneller war als Sie, dessen speicheltriefende Kiefer nur darauf warteten, sich in Sie zu verbeißen. Instinktiv - es blieb keine Zeit zum Denken - schwang sie Ihren kraftvollen Schwanz und holte aus. Der Megalosaurier wich geschickt dem tödlichen Schlag aus, der ihn beinahe am Kopf erwischte, kam dabei aber aus dem Tritt. Seine Kiefer schnappten ins Leere. Aber der Räuber gab nicht auf.

Nichts als diese Kiefer im Kopf, tauchte Sie geräuschvoll zwischen die hohen Palmfarne, Gingkos und Magnolien in der Hoffnung, die blutrünstige Bestie abzuschütteln, wenn sie durch das Dickicht abgebremst wurde und Ihr einer Chance zur Flucht gab. Sie sprang über einen umgestürzten, moosbedeckten Baumstamm. Ihr wuchtiger Körper preschte durch Sprösslinge, ihre schweren Füße zertrampelten Schachtelhalme und Farne unter ihr. Aufgeschreckte Insekten stoben nach rechts und links davon. Etwas Winziges, Haariges flitzte ins Dickicht und rettete sich im letzten Moment davor, zertreten zu werden.

Sie hörte einen Schrei hinter sich - das Geräusch tiefer Wunden und eines nahen Todes. Ein schwerer Körper brach mit einem dumpfen Laut in sich zusammen. Sein steifer Schwanz trommelte hilflos auf den Boden. Für einen Moment sah sie Vorderbeine durch die Luft zucken, als das unglückliche Geschöpf versuchte, seinen Angreifer mit spitzen Daumenstacheln zu erdolchen. Die Laute des Tötungsaktes wurden leiser, während Sie weiter lief. Hungrige Raubtiere knurrten und fauchten, während sie sich um die besten Stücke Fleisch balgten, die einem noch lebenden Iguanodon aus dem Leib gerissen wurden. Heißes Blut schoss hervor und färbte die Welt rot.

Angetrieben von Panik, von den Schreien eines gnadenlosen Gemetzels, die in Ihrem Kopf widerhallten, hatte Sie gar nicht bemerkt, dass Ihr Verfolger Ihr gar nicht mehr nachjagte - dass er umgekehrt war, um sich seinen Anteil an dem Gemetzel zu sichern. Als Sie längst in Sicherheit war, hetzte sie immer noch kopflos durch den Wald, bis schließlich eine Spur Vernunft Ihren Schrecken überwog und Ihr sagte, dass es vorbei war. Erschöpft und außer Atem hielt sie inne und lauschte dem Pochen ihres Herzens in ihren Ohren.

Ringsum flüsterte der uralte Wald: das leise Schnattern kleiner gefiederter Dinosaurier, die sich unter Farnen versteckten, mit Krallenfüßen durch trockene Blätter scharrten, auf der Suche nach etwas, das klein genug war, um es packen und verschlingen zu können; die Pfiffe von Pterosauriern, die über ihr Libellen jagten, mit grauen, ledrigen Flügeln schlugen, während sie geschickt hohe Bäume umkurvten. Dies waren alles vertraute Geräusche, die Sie jeden Tag hörte.

Erleichtert kam sie zu dem Schluss, dass die Gefahr gebannt war, Sie den Räuber abgeschüttelt hatte.

Aber wo befand Sie sich nun? Sie schaute sich um.

Die hohen Sequoien - dicke Säulen mit rötlicher Rinde - kamen Ihr nicht bekannt vor. Nach einer kurzen Erkundung wurde Ihr klar, dass Sie diesen Teil des Waldes noch nie gesehen hatte. Sie hob den Kopf, holte tief Luft und stieß einen langen, traurigen, durchdringenden Ruf aus. Dann horchte Sie. Jedes lebende Wesen im Wald ringsum verstummte, aus dem täglichen Einerlei geschreckt durch diesen fremdartigen, lauten Ruf. Sie rief erneut und lauschte. Stille. Sie rief ein drittes Mal - aber es kam keine Antwort. Das konnte nur eines bedeuten: Sie hatte sich so weit von der Herde entfernt, dass die anderen Sie nicht mehr hörten. Und das erfüllte Sie mit Unbehagen, Angst, Beunruhigung. Den ganzen Tag rief und horchte Sie, rief und horchte, rief und horchte. Schließlich rief Sie nur noch und wurde mit jedem unbeantworteten Ruf ein Stück verzweifelter. Zum ersten Mal in ihrem Leben war Sie von der Geborgenheit der Herde getrennt.

Zum ersten Mal in Ihrem Leben war Sie allein.

*

Vesna sitzt auf der Bank unter den Kiefern. Über dem Meer lodert der Sonnenuntergang und setzt den Himmel in Flammen. Hinter ihr, in einem Lorbeerbusch, warnt ein kleiner Dinosaurier mit wachsamen Augen, dass eine Katze umher schleicht. Der Dinosaurier hat Flügel, schwarze Federn und einen gelben Schnabel. Neben Vesna, auf Blättern in ihrer Mappe skizziert, ruhen einige andere Dinosaurier: ferne Verwandte der Schwarzdrossel mit den wachsamen Augen, der tschilpenden Spatzen, der Blaumeise über ihr und der Möwen, die vom Meer zurückkehren.

Eine blonde Haarlocke fällt Vesna über die Augen. Sie wischt sie ärgerlich weg. Und dann entladen sich die aufgestauten Gefühle dieses Tages wie Magma von irgendwo tief in ihrem Innern, und ihre wasserblauen Augen füllen sich mit Tränen. Vesna bedeckt ihr Gesicht mit den Händen, und ein Schluchzen erschüttert sie. Der Knoten in ihrem Bauch, der sich seit heute früh zusammengeballt hat, droht zu platzen. An der Grabungsstätte ist es ihr irgendwie gelungen, sich zusammenzureißen, ihre Tränen vor den Kollegen zu verbergen, Fragen und mitleidigen Blicken auszuweichen. Jetzt aber ...

Das Schluchzen bringt Erleichterung, und nach einigen Minuten beruhigt sie sich, schnieft, wischt die Tränen von den Wangen und fühlt sich etwas besser. Taschentücher. Sie greift nach einer Packung Papiertaschentücher in ihrer Tasche.

Plötzlich wird sie einer Hand gewahr, die ein ordentlich zusammengefaltetes, völlig sauberes Taschentuch hält.

Die junge Frau hebt ihren tränenfeuchten Blick. Ein Herr, den sie auf über sechzig schätzt, steht vor ihr, das graue Haar mit einem Mittelscheitel, der Schnurrbart sauber gestutzt. Er trägt einen tadellosen, sandfarbenen Anzug, passend für den frühen Herbst, einen Schal um den Hals und einen Spazierstock in der anderen Hand.

»Danke.« Vesna nimmt das Taschentuch, wischt ihre Tränen weg und schnäuzt sich die Nase. Sie gibt das Taschentuch mit einem verlegenen Lächeln zurück, als täte es ihr leid, dass sie sich zum Narren gemacht hat. Sie fragt sich, wie lang er hier gestanden hat. »Ich fürchte ...«

»Das ist überhaupt kein Problem, junge Dame«, erwidert der Mann mit einer leichten Verbeugung. Vesna lächelt erneut und seufzt. Es wird spät, Zeit zu gehen. Sie hebt ihre Tasche und ihre Mappe auf. Lorbeer, Oleander und Kiefern versinken in der Dunkelheit. Die Nacht schleicht sich in verborgene Winkel des Gestrüpps, und Dinosaurier, die heute Vögel sind, suchen sich einen Schlafplatz und werden verstummen. Von der kiesbedeckten Promenade dringt Licht herüber. Es wird Zeit, in ihr billiges Hotelzimmer zurückzukehren, wo sie wahrscheinlich noch mehr weinen wird.

»Entschuldigen Sie, junge Dame.« Vesna spürt eine Spur Dringlichkeit, fast etwas Flehendes in der Stimme des Mannes. Sie hält inne. »Ich habe den Eindruck - verzeihen Sie mir, wenn ich mich irre -, dass Sie einen anstrengenden Tag hinter sich haben. Wenn Sie erlauben: Vielleicht kann ich Sie irgendwo zum Abendessen einladen?«

Sein Angebot kommt für Vesna ganz überraschend. Sie weiß nicht, was sie antworten soll. Der Mann, der vor ihr steht, könnte ohne weiteres ihr Großvater sein. Ein Dinosaurier, denkt sie boshaft und schämt sich sogleich dafür. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass er, ebenso wie die Dinosaurier, nicht in diese Welt und Zeit gehört, und genau das könnte der Grund sein, warum sie sich plötzlich von ihm angezogen fühlt. Und warum auch nicht?, fragt sie sich nach kurzem Nachdenken.

 

»Vesna.« Sie lächelt, als sie sich vorstellt und dem Mann die Hand hinhält. Er nimmt ihre Hand in seine und küsst sie behutsam, wie ein wahrer Gentleman. Vesna hebt eine Augenbraue, überrascht und amüsiert über die altmodischen Manieren des Mannes. Sie versucht sich zu erinnern, ob schon einmal jemand auf diese Weise ihre Hand geküsst hat. Nein, bis heute nicht.

»Šarić. Professor Šarić.« Der Mann stellt sich mit einer leichten Verbeugung vor. Etwas an dieser Verbeugung erfüllt sie mit Zuversicht, und sie gestattet ihm, sie bei sich unterzuhaken, und führt sie über den Gehweg. Nach zehn Minuten erreichen sie ein Restaurant mit einer gemütlichen Terrasse. Im selben Moment, als der Mann ein gemeinsames Abendessen vorschlug, hat Vesna bemerkt, wie hungrig sie ist. Irgendwo über ihnen, in der dichten Kiefernkrone, ruft ihr ein kleiner nachtaktiver Dinosaurier, gedrungen, mit braunem Federkleid, großen gelben Augen und einem schwarzen Schnabel - eine kleine Eule -, von seinem Ast aus zu, bevor er sich auf die Jagd begibt.

*

Sie folgte dem Bach, den Sie an dem Tag entdeckte, nachdem die Megalosaurier Ihre Herde angegriffen hatten, und erreichte nach fünf Tagen das Meeresufer. Der Bach murmelte durch den Wald, floss mit anderen Bächen zusammen und weitete sich nach zwei Tagen zu einem trägen Fluss. Klares Wasser stillte ihren Durst - klares Wasser, das Sie durch ein seltsames, unbekanntes Land führte.

Vor Ihr erstreckte sich das Meer. Zum ersten Mal in Ihrem Leben sah Sie Plesiosaurier, deren ferne, kleine Köpfe sich auf langen, gräulichen Hälsen hoch über die Wellen erhoben, unter ihnen ihre Körper und die Flossen, die durchs Wasser schlugen. Gegen die Wolken zeichneten sich die Silhouetten großer Pterosaurier ab, die ihre Kreise zogen, von aufsteigender warmer Luft getragen, ihre langen Flügel bewegungslos. Mehrere kleine Pterosaurier - mit gefalteten Flügeln und langen Schwänzen, nackten roten Köpfen und mit nadelspitzen Zähnen gespickten Kiefern - labten sich an einem toten Fisch am Strand.

Sie schritt über den weichen Sand und hielt inne, um an einer großen, spiralförmigen, an den Strand gespülten Ammonitenschale zu schnüffeln. Der Geruch von Verwesung aus dem Inneren der Schale war neu für Sie. Neugierig stupste Sie die Schale mit Ihrer Nasenspitze an, aber nichts kroch daraus ins Freie. Als Sie wieder aufblickte, bemerkte Sie eine Spur von Fußabdrücken, die über den Strand führte, dann abknickte und unter den Palmfarnen und Araukarien verschwand. Sie sah genauer hin und entdeckte weitere Fußabdrücke, ganz winzige, die die flinken Füße eines kleinen Dinosauriers zurückgelassen hatten. Und große, kreisrunde Abdrücke, die Spuren eines Sauropoden, einem Herdentier wie Sie selbst, das Sie einmal gesehen hatte, mit Beinen dick wie Baumstämmen, die einen massigen Körper trugen, einem langen Hals und peitschenartigem Schwanz. Sie blickte zurück: Sie selbst hatte auch Fußabdrücke hinterlassen. Aber da war noch eine andere Reihe von Fußspuren. Ihre Nüstern blähten sich, als Sie den schwachen, verblassten Geruch einatmete, den Geruch erkannte und erstarrte. Ein Megalosaurier war hier vor einiger Zeit auf der Pirsch gewesen. Vielleicht hatte er hier nach Aas gesucht, bevor er in den dunklen Wald zurückgekehrt war. Oder vielleicht jagte er immer noch. Zähne... Auch hier lauerte Gefahr, erkannte Sie. Sie musste vorsichtig sein. Dennoch war Sie relativ sicher, solang Sie sich am Strand aufhielt. Es wäre für einen Fleischfresser schwierig, sich auf offenem Gelände an Sie heranzuschleichen und Sie anzuspringen.

Unversehens schallte ein tiefer, hohler Ruf über den Strand, und die Pterosaurier, die den Fisch verspeisten, hoben erschrocken ihre nackten Köpfe.

*

Vesna drückt den grünen Knopf und blickt auf den beleuchteten Bildschirm ihres Handys. Keine neuen Nachrichten. Sie weiß, dass ihre Hoffnungen trügerisch sind. Slaven wird nicht zurückrufen. Er hat nicht den Mumm dafür. Es ist ihm sogar gleichgültig. Vesna schwört hoch und heilig, dass sie nie wieder eine Beziehung mit einem Kerl von der Art eingehen wird, die per Handy Schluss machen.

Sie lehnt sich auf der Bank zurück und lässt sich von der Brise vom Meer kühlen. Weiße Dinosaurier gleiten über den Himmel, verzückt von der Freiheit, die sie dort oben genießen. Auf einem Felsen in der Nähe streitet sich eine braune Jungmöwe mit einem ausgewachsenen Vogel um einen Bissen, ein Stück Brot. Der ausgewachsene Vogel gewinnt, und der Jungvogel streckt die Flügel aus, hebt ab und fliegt in geringer Höhe über den Wellen, um an anderer Stelle entlang der Küste sein Glück zu versuchen.

Vesna breitet ihre aufgeschlagene Mappe vor sich aus. Sie ist nicht recht bei der Sache, als sie durch die Zeichnungen versteinerter Fußabdrücke blättert. Sie sind mit einem präzise gezeichneten Quadratgitter überzogen. An der Grabungsstätte ist dasselbe Gitter mit straff gespannten Seilen markiert. Heute morgen hatte das Team reichlich damit zu tun, weitere dreißig Quadratmeter freizuräumen, Büsche auszureißen, Erde und Steine beiseite zu schaffen. Der neu freigelegte Abschnitt ist noch nicht aufgeteilt, deshalb hat Vesna die Zeichnungen noch nicht skaliert.

Die Gegenwart einer anderen Person reißt Vesna aus ihrer Träumerei. Šarić steht höflich neben der Bank und versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn der Inhalt ihrer Mappe interessiert.

»Neugier spiegelt Intelligenz wider, Professor«, neckt Vesna ihn und wendet den Blick wieder den Zeichnungen zu.

»Danke.« Der Professor wird rot.

Vesna lächelt und rückt ein Stück zur Seite, eine wortlose Einladung, die er erleichtert annimmt. Heute erschien ihm der Spaziergang anstrengender als sonst. Das Alter... »Darf ich?«

»Natürlich.« Vesna reicht ihm die Zeichnungen. Der Professor erkennt gleich, dass es sich um eine Serie von Zeichnungen handelt, die aufeinander folgen.

»Ist es das, worüber die Leute reden?«

Vesna nickt. Ganz Istria ist aus dem Häuschen wegen des neusten Fundes: hunderte versteinerte Fußabdrücke. Mindestens fünf Dinosaurier-Arten und zahllose Einzeltiere: Iguanodons, ein riesiger Sauropode neben zahlreichen kleineren Pflanzenfressern - einige davon wahrscheinlich Hypsilophodons - und ein Fleischfresser.

»Sie stammen aus der frühen Kreidezeit.« Vesna zeigt auf die Übersichtskarte. »Das hier ist ein Sauropode. Sehen Sie hier, er ist einfach vorbeimarschiert. Es war ein großes Exemplar - beachten Sie den Durchmesser der Fußabdrücke! Zwanzig Meter lang, vielleicht noch länger. Und das hier ist ein großer Raubsaurier, vermutlich ein Megalosaurier oder etwas Ähnliches. Wir können die genaue Spezies, der ein Carnosaurier angehört, noch nicht allein aufgrund der Fußabdrücke bestimmen... Und dies hier sind die Iguanodons...« Vesna verstummt, als sie die verwirrten Blicke des Professors bemerkt.

»Wissen Sie, ich arbeite in einem ganz anderen Fachgebiet. Englisch, Deutsch, Italienisch... Dinosaurier... Ich weiß nur, dass es sie gegeben hat.«

»Tut mir leid.« Vesna entschuldigt sich mit einem Lächeln. »Manchmal vergesse ich mich. Hier.« Sie zieht einige Rekonstruktionen hervor, die sie gezeichnet hat, als sie gerade keine Fußabdrücke sorgfältig ins Gitter kopieren musste. Professor Šarić nickt, beeindruckt von ihrem Talent, längst ausgestorbene Tiere in ihren detaillierten Bleistiftzeichnungen wieder zum Leben zu erwecken.

»Dies da sind also die Fußabdrücke von Iguanodons?«

»Ja, da sind wir uns ziemlich sicher. Aber wir wissen nicht, was diese hier bedeuten. Niemand hat je etwas Vergleichbares gefunden! Schauen Sie, wie die Erde zertrampelt wurde.« Vesna nimmt ihm die Zeichnung ab und zeigt aufgeregt auf die entsprechenden Stellen. Der Blick des Professors folgt ihrem Finger, während er das Papier überfliegt. »Dies hier war ein Tier. Es hat sich dem zweiten, kleineren Tier genähert. Sehen Sie - das ist diese Spur. Und jetzt schauen Sie hier...« Vesna überblättert mehrere Zeichnungen. »Sie haben sich gegenüber gestanden. Das ist für sich genommen nicht so bemerkenswert, nicht wahr? Aber schauen sie genauer hin! Als ob sie sich in diese Richtung umgedreht hätten, aber immer noch einander zugewandt...«

»Vielleicht haben Sie gekämpft«, vermutet Professor Šarić.

»Nein, das glauben wir nicht.« Vesna betrachtet die Zeichnung. »Dafür sieht es zu geordnet aus. Seit einigen Woche schon versucht das gesamte Team, sich einen Reim darauf zu machen. Aber es ist uns nicht gelungen. Vielleicht werden wir nie erfahren, was es zu bedeuten hat«, seufzt sie.

Der Professor studiert die Zeichnungen genauer und runzelt konzentriert die Stirn. Das Muster der Fußabdrücke kommt ihm irgendwie bekannt vor. Bis...

Verdammt, es kann nur... Aber das ist unmöglich!

Trotzdem - wenn es menschliche Füße wären, gäbe es nicht die Spur eines Zweifels, keinen Moment lang. Er beginnt kaum hörbar eine Melodie zu summen, und Vesna sieht ihn verwirrt an.

Ja, das ist es! Es kann gar nichts anderes sein, ganz gleich, was andere dazu sagen. Und das arme Kind sieht es nicht. Aber wie auch. Diese Jugend von heute...

Schließlich gibt der Professor die Zeichnung Vesna zurück, nachdenklich, ohne ein Wort zu sagen. Er lächelt nur auf eine rätselhafte Art.

*

Ihr Herz bebte! Sie erkannte sofort den Ruf eines Männchens Ihrer eigenen Spezies. Sie antwortete, machte eine Pause, um zu horchen, und erhielt gleich eine Antwort. Durch die Wellen stapfend, die an den Strand spülten, eilte Sie über den feuchten Sand und scheuchte mehrere Pterosaurier auf, die mit wild schlagenden Flügeln und protestierenden Schreien empor stoben. Wo war Er? Warum konnte Sie Ihn nicht sehen? Schließlich blieb Sie aufgeregt stehen und rief Ihn erneut.

Er trat unter den Baumfarnen hervor. Solang Er sich nicht bewegte, machte das Spiel von Sonnenlicht und Schatten, die von Blättern auf Seinen kräftigen braunen Körper mit den schmalen weißen Streifen geworfen wurden, Ihn nahezu unsichtbar. Er beobachtete Sie aufmerksam. Sie blieb wie angewurzelt stehen. So gern Sie Ihn auch begrüßen wollte, so sehr Sein Anblick Sie freute, blieb Sie aus Vorsicht stehen und kam keinen Schritt näher. Sie wusste, dass Sie Ihm nicht vertraut war, eine Fremde. Vielleicht bewachte Er Seine Herde. Wenn dies der Fall war, würde Er Sie angreifen, um Sie von Seinem Territorium zu vertreiben.

Sie standen einander fast bewegungslos gegenüber und nahmen sich eine ganze Zeit gegenseitig in Augenschein. Keine anderen Iguanodons traten aus den Schatten. Sie hörte keine anderen Herdenmitglieder. Das Männchen war allein, ebenso wie Sie. Beide allein, beide unsicher. Jede plötzliche Bewegung konnte als ein Akt der Aggression aufgefasst werden. Daher ihre Unsicherheit. Misstrauen. Einsamkeit.

Und schließlich kam Sie zu dem Schluss, dass Sie nicht mehr allein sein konnte.

*

Vesna steigt die steinernen Stufen hinab. Der Professor sitzt auf einem Felsen unter der Wand, die über einer kleinen Einbuchtung aufragt. Das Meer streicht sanft über den Sandstrand. Es ist spät am Nachmittag, und einige Spaziergänger oben auf der Promenade unterhalten sich laut und lachen über einen Scherz, den einer von ihnen gemacht hat. Über ihnen stößt ein kleiner Dinosaurier einen klangvollen Schrei aus, während er die Krone einer Flaumeiche systematisch nach dem einen oder anderen Insekt durchsucht. Er hat einen grünlichen Rücken, eine gelbe Brust und einen Bauch mit einem schwarzen Streifen in der Mitte, außerdem eine schwarze Krone und Kehle und weiße Wangen: eine Kohlmeise.

Als er Vesna herabsteigen sieht, stockt Professor Šarić der Atem. Er erstarrt wie versteinert und bringt kein Wort heraus.

»Stimmt etwas nicht?« fragt Vesna, besorgt über seinen Anblick. Sie trägt ein einfaches cremefarbenes Kleid mit einer weißen Strickjacke, die sie sich über die Schultern geworfen hat, und einen weißen Schal um den Hals geschlungen. Nichts Besonderes, nichts Kalkuliertes. Die Herbstnachmittage und -abende sind kühler geworden.

»Haben Sie...« Der Professor machte eine Pause, ohne den Blick von Vesna abzuwenden. »Haben Sie schon einmal etwas - jemanden - so Schönes gesehen, dass es weh tat? So sehr, dass es ihr Herz zusammengekrampft hat und...«

 

Für einige verlegene Augenblicke weiß Vesna nicht, was sie antworten soll. Ohne den Schmerz in den Augen des Professors würde sie seine Worte als simple Schmeichelei oder Neckerei abtun. Aber so... Irgendwie hat sie das Gefühl, dass die Dinge nicht so laufen werden, wie sie es erwartet hat. Wie und warum konnte etwas, das einfach eine harmlose, angenehme Gesellschaft sein sollte - nur gedacht, um die Bitterkeit wegzuwischen, die nach Wochen voller Kämpfe und Tränen zurückgeblieben ist - sie so kalt erwischen? Und hat sie das Recht, so mit einem alten Mann zu spielen? Sollte sie sich nicht besser entschuldigen, umdrehen und gehen?

Nein, das würde es noch schlimmer machen, ihn noch mehr verletzen. Sollte sie...

»Verzeihen Sie.« Professor Šarić nimmt Vesna an der Hand und führt sie von der Treppe zum Strand. Ihr Füße sinken leicht in den feuchten Sand ein. »Ich wollte Sie nicht beunruhigen oder dergleichen. Ich rede manchmal Unsinn. Das hier ist der Grund, warum ich Sie hergebeten habe.« Erst jetzt bemerkt Vesna den CD-Spieler, den der Professor unter den Überhang gestellt hat, geschützt vor den Wellen. »Vielleicht sind Sie ein wenig enttäuscht, aber ein Plattenspieler mit einem Hornlautsprecher war wirklich ein bisschen zu schwer zum Tragen.« Vesna lacht über den Scherz des Professors, während er die Abspieltaste drückt. Unter der Wand klingt Musik hervor. Ein Walzer. Vesna kann sich nicht erinnern, ob sie ihn je zuvor gehört hat. Jedenfalls ist es kein Stück, das in Clubs oder im Radio gespielt wird.

»Tschaikowsky. Manche finden das Stück etwas süßlich, aber ehrlich gesagt langweilt Strauß mich schon seit Ewigkeiten. Darf ich?« Der Professor hält Vesna eine Hand hin. Sie zögert und weiß nicht recht, was sie als nächstes tun soll.

»Ich fürchte, ich habe noch nie zu solcher Musik getanzt«, gesteht sie und wird rot.

»Es ist ganz einfach - lassen Sie sich einfach gehen.« Der Professor lächelt, als Vesna seine Hand fasst. Die Wärme vergangener Zeiten strömt durch ihre Handflächen. Nicht so ferne Zeiten wie die, die sie in ihrer Mappe skizziert hat, aber dennoch für immer vergangen. Zeiten, die weder besser noch schlechter waren als die Gegenwart, aber verloren sind und nie wiederkehren werden. Der Professor legt Vesna einen Arm um die Hüfte und führt sie über den Strand. Nach einigen unbeholfenen Schritten finden Vesnas Füße ihren eigenen Rhythmus, und sie und der Professor fliegen über den Sand, im Einklang mit der Melodie des Walzers, bezaubert von den schwungvollen Bewegungen des Tanzes. Die Welt um den Professor und Vesna existiert nicht mehr. Verschwunden sind der warme Nachmittag und die glucksenden weißen Dinosaurier am Himmel, das Meer und die flüsternden Bäume. Geblieben sind nur die beiden Tänzer, eingesponnen in einer eigenen Zeit, die nie vorübergehen wird...

Doch dann endet der Walzer, und der wirbelnde Tanz erlahmt und bricht ab. Vesna taumelt, errötet und außer Atem, hält sich aber auf den Beinen, gestützt von den Händen des Professors. Sie bricht in ein freudiges Lachen aus. Es ist Ewigkeiten her, seit sie sich zuletzt so amüsiert hat.

»Und jetzt werfen Sie einen Blick auf die Fußabdrücke, Vesna.« Der Professor lächelt wissend, wie ein Lehrer, der sich über den Anblick eines Schülers freut, der kurz davor ist, neues Wissen zu erwerben, eine neue Ebene der Erkenntnis zu erklimmen.

*

Sie verbrachten den ganzen Tag miteinander, Sie und Er, durchstreiften die Küste und den Wald, stillten ihren Hunger mit Massen saftiger Sprossen, tranken aus dem kühlen Fluss. Gelegentlich, zwischen zwei Bissen, anfangs schüchtern und dann immer mutiger, berührte Er Ihren Hals mit Seinem Schnabel. Dann versuchte Er Ihre Wange zu lecken - nur eine flüchtige Berührung mit Seiner langen, flinken Zunge. Anfangs entwand Sie sich Ihm, wedelte in einer spielerischen Warnung mit ihrem kräftigen Schwanz, als wollte Sie ein lästiges Insekt vertreiben. Aber Er war hartnäckig. Sie wich Ihm immer wieder aus, tat so, als fühle Sie sich belästigt. Einmal versuchte Sie sogar, Ihn mit Ihrem Schnabel zu beißen und Ihn mit Ihrem Daumendorn zu stechen, aber Sie meinte es nicht so. Er sprang zur Seite und näherte sich Ihr erneut, leckte Sie und rieb Seinen kräftigen Körper an Ihrer Flanke.

Sie zog sich von Ihm zurück und musterte Ihn aus einiger Entfernung, verschaffte sich einen genauen Eindruck von Ihm. Dann wandte Sie sich von Ihm ab und gab sich desinteressiert. Sie ging etwas tiefer in den frischen Wald hinein und suchte nach etwas Saftigem, an dem sie herumknabbern konnte. Und Er folgte Ihr auf dem Fuße. Wo immer sie hineinbiss, biss auch er hinein. Je wärmer der Tag wurde, um so näher kamen sie sich, Leib an Leib beim gemeinsamen Festmahl.

Hier waren sie vor neugierigen Blicken versteckt, in Sicherheit vor hungrigen Kiefern mit scharfen, gezackten Zähnen. Außerdem war es hier still. Die einzigen Geräusche, die Sie hörte, war das Summen von Insekten und die schlagenden Flügel von Pterosauriern. Sie hatte das Gefühl, es war genau der richtige Ort, um ein Nest in den weichen Boden zu scharren und mit trockenen Blättern zu polstern. Der richtige Ort, um Eier zu legen und sie unermüdlich zu bewachen, bis die Jungen schlüpften. Er beobachtete Sie, als Sie zu dem Schluss kam, dass es tatsächlich der ideale Ort war, um Junge großzuziehen, sie wachsen zu sehen, bis sie groß genug waren, um sie sicher in die feindliche äußere Welt zu führen.

Den ganzen Tag über zeigte Er Ihr Sein Revier im Wald am Meer, bis die Schatten länger wurden und der Wald in Dunkelheit versank.

Und dann blieb Sie stehen, drehte sich um und folgte dem Fluss zurück zum Strand. Als Sie die Wellen brechen hörte, rannte Sie durch die Schatten. Und Er lief Ihr hinterher, dass der Boden unter ihnen bebte.

Am Strand, genau am Rande des Meeres, blieb Sie stehen und wartete, dass Er zu Ihr aufschloss. Dann richtete Sie sich auf den Hinterbeinen auf. Sie sah Ihn an, ein Männchen in seinen besten Jahren, und Er sah Sie an, ein junges Weibchen, das bereit war, mit Ihm eine Herde zu gründen. Auch Er richtete sich auf, und sie berührten sich mit den Vorderbeinen und fingen an, sich instinktiv in kleinen Kreisen zu drehen. Sie drehten sich immer wieder, nach den Regeln eines uralten Rituals, dessen Bedeutung sie beide nicht verstanden, das aber ihre Vereinigung für immer besiegeln würde. Sie drehten sich immer weiter umeinander, einem urzeitlichen Instinkt in ihnen folgend, und ihre kräftigen Beine hinterließen Fußabdrücke im Sand.

Sie drehten sich immer noch, als die großen Pterosaurier durchs Dämmerlicht segelten, über den tanzenden Geliebten Kreise zogen, bevor sie ihre nächtlichen Ruheplätze weit draußen auf den Klippen aufsuchten. Sie und Er tanzten, und das Meer war die einzige Musik, die sie brauchten. Die Wellen sangen für sie, der Wind flötete, die Pterosaurier schlugen mit ihren ledrigen Flügeln. Sie tanzten, wie sie in den kommenden Jahrzehnten tanzen würden, wie ihre Eltern getanzt hatten und auch ihre Kinder tanzen würden.

Das hungrige Brüllen eines Fleischfressers schallte durch den Wald, aber sie beachteten es nicht, hielten keine Sekunde inne. Sie waren zusammen, stark und unzertrennlich. Kein Räuber konnte ihnen etwas anhaben. Sie tanzten für neue Generationen, so harmonisch, als hätten sie ihr ganzes Leben miteinander getanzt, als hätten sie sich nicht erst heute morgen kennengelernt. Sie tanzten in einem langsamen, schwerbeinigen Rhythmus, zwei dunkle Gestalten vor dem dämmernden Himmel, der in Rot- und Orange- und feurigen Goldtönen glühte.

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