Der Konformist

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Inzwischen war ihm der Wagen wieder gefolgt. Marcello fragte sich, ob der Augenblick des Nachgebens schon gekommen sei. Dann entschied er, daß es mit dem Nachgeben noch etwas Zeit habe. Ohne anzuhalten, glitt das Auto langsam an ihm vorbei. Er hörte die Stimme des Mannes, die ihn rief: »Marcello …!« Darauf fuhr der Wagen plötzlich davon. Marcello befürchtete, Lino habe die Geduld verloren. Er erschrak vor der Vorstellung, sich morgen ohne Pistole in der Schule einfinden zu müssen. Also begann er zu laufen und rief: »Lino …! Lino … Halt!« Doch der Wind entführte seine Worte wie die welken Blätter, die wirbelnd durch die Luft flogen. Das Auto wurde sichtlich kleiner. Lino hatte wohl Marcellos Rufen nicht gehört und fuhr nun heim. Marcello würde die Pistole nicht bekommen, und Turchi würde ihn noch mehr verhöhnen. Gleich darauf aber schöpfte er tief Atem und setzte seinen Weg mit fast normalen Schritten fort: er wußte auf einmal, daß der Wagen nicht vorausgefahren war, um ihm zu entfliehen, sondern um ihn an der nächsten Querstraße zu erwarten.

Wirklich, dort stand das Auto und versperrte mit seiner ganzen Länge den Weg! Marcello ärgerte sich, daß es Lino gelungen war, ihm einen so demütigenden Schrecken einzujagen. Und mit plötzlicher Grausamkeit beschloß er, Lino dies mit wohlberechneter Härte zu vergelten. Er war jetzt ohne Eile bei der Querstraße angelangt. Der Wagen wartete: lang, schwarz, funkelnd mit all seinem Messing und seiner ganzen altmodischen Karosserie. Marcello tat, als wolle er um das Auto herumgehen. Sogleich öffnete sich der Schlag, und Lino wurde sichtbar.

»Marcello«, begann er mit verzweifelter Entschlossenheit, »vergiß, was ich zu dir am Samstag gesagt habe! Du hast deine Pflicht nur zu gut getan. Komm, Marcello!«

Marcello war neben der Motorhaube stehengeblieben. Jetzt tat er einen Schritt zurück und sagte kühl, ohne Lino anzusehen:

»Nein, ich komme nicht mit dir. Aber nicht darum, weil du das am Samstag so wolltest, sondern weil ich keine Lust habe.«

»Und warum hast du keine Lust?«

»Deshalb! Warum sollte ich einsteigen?«

»Um mir eine Freude zu machen.«

»Aber ich habe gar keine Lust, dir eine Freude zu machen.«

»Warum? Bin ich dir unsympathisch?«

»Ja«, sagte Marcello, schlug die Augen nieder und spielte mit dem Griff des Wagenschlags. Er wußte, daß sein Gesicht vergrämt, unruhig und feindselig aussah, wußte aber selbst nicht, ob er eine Komödie spielte oder nicht. Ja, es ist eine Komödie, die ich mit Lino spiele, dachte er dann. Aber wenn es eine Komödie ist, warum empfinde ich ein so starkes und so kompliziertes Gefühl, gemischt aus Eitelkeit, Abwehr, Erniedrigung, Grausamkeit und Trotz?

Lino lachte leise und zärtlich und fragte dann: »Warum bin ich dir denn unsympathisch?«

Jetzt blickte Marcello auf. Ja, Lino war ihm wirklich unsympathisch. Und angesichts dieser strengen, mageren Züge begriff er auch, warum: Lino hatte ein Doppelgesicht, in dem der Betrug einen geradezu physischen Ausdruck fand. Da war zum Beispiel der Mund – fein, trocken, hochmütig und keusch auf den ersten Blick. Dann aber, wenn ein Lächeln die Lippen aufschloß und umstülpte, wurde eine lüsterne, feuerrote Schleimhaut mit gierigem Speichel sichtbar. Marcello zögerte mit der Antwort und sah Lino noch immer an, der lächelnd wartete. Schließlich bekannte er ehrlich: »Du bist mir unsympathisch, weil dein Mund naß ist.«

Linos Lächeln verschwand, sein Gesicht verdüsterte sich. »Was denkst du dir denn für einen Unsinn aus!« sagte er unbeherrscht. Doch sogleich verfiel er in einen scherzenden Ton und fragte leichthin: »Nun, Herr Marcellino, wollen Sie einsteigen?«

»Ich steige ein«, erklärte Marcello, endlich entschlossen, »aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Daß du mir wirklich die Pistole gibst.«

»Einverstanden. Komm …!«

»Nein, du mußt sie mir sofort geben«, beharrte Marcello dickköpfig.

»Aber ich habe sie doch nicht hier«, sagte Lino in aufrichtigem Ton. »Sie ist Samstag in meinem Zimmer geblieben, Marcello. Jetzt fahren wir nach Haus und holen sie.«

»Unter diesen Umständen komme ich nicht mit«, entschloß sich Marcello und war darüber selbst überrascht. »Auf Wiedersehen!«

Er tat einen Schritt, als wolle er sich endgültig auf den Weg nach Haus machen. Da verlor Lino die Geduld. »Komm, spiel nicht den kleinen Jungen«, rief er, beugte sich hinaus, ergriff Marcello beim Arm und zog ihn auf den Sitz neben sich. »Jetzt fahren wir sofort zu mir, und ich verspreche dir, daß du die Pistole bekommst.« Marcello war im Grunde zufrieden, daß er dazu gezwungen wurde, den Wagen zu besteigen. Er protestierte also nicht mehr und beschränkte sich darauf, ein knabenhaft-mißlauniges Gesicht zu ziehen. Lino schloß schnell den Schlag, ließ den Motor an, und das Auto fuhr ab.

Eine ganze Weile sprachen sie nicht miteinander. Marcello dachte: Vielleicht schweigt Lino, weil er zu vergnügt ist, um zu sprechen. Er selbst hatte nichts zu sagen. Er würde die Pistole bekommen, würde mit ihr nach Haus zurückkehren und sie am folgenden Tag dem Turchi in der Schule zeigen. Über diese angenehmen Aussichten gingen seine Gedanken nicht hinaus. Allerdings befürchtete er immer noch ein wenig, von Lino betrogen zu werden. In diesem Fall, überlegte er, muß ich irgendeine neue Teufelei ersinnen, um Lino zur Verzweiflung zu bringen und ihn zur Einhaltung seines Versprechens zu zwingen.

Er hatte sein Bücherpaket auf den Knien liegen und sah hinaus auf die vorübergleitenden Platanen und Häuser. Als der Wagen die Steigung zu erklimmen begann, fragte Lino, gleichsam am Ende einer langen Gedankenkette angelangt: »Wer hat dir denn soviel Koketterie beigebracht, Marcello?«

»Warum?« fragte Marcello zurück.

»Na …«

»Du bist der Schlaue«, sagte Marcello. »Du versprichst mir dauernd die Pistole und gibst sie mir nicht.«

Lino lachte und schlug mit einer Hand auf Marcellos bloßes Knie. »Ja«, sagte er, »heute bin ich der Schlaue!« Marcello schob das Knie beiseite. Lino aber ließ weiter seine Hand darauf ruhen und sagte mit triumphierender Stimme: »Weißt du, Marcello, ich bin so froh, daß du gekommen bist … Wenn ich jetzt daran denke, daß ich dich am Samstag gebeten habe, nicht auf mich zu hören, nicht zu mir in den Wagen zu steigen … Wie dumm man bisweilen sein kann! Wirklich – wie dumm! Aber zum Glück bist du gescheiter gewesen als ich, Marcello.«

Marcello gab keine Antwort. Er verstand nicht, was Lino eigentlich meinte. Und diese Hand auf seinem Knie war ihm lästig. Er hatte inzwischen schon mehrmals versucht, mit dem Knie wegzurücken, doch die Hand hatte sich nicht abschütteln lassen. Als ihnen jetzt in einer Kurve ein anderer Wagen entgegenkam, tat Marcello sehr ängstlich und rief: »Achtung, der fährt in uns hinein!« Wirklich erreichte er damit, daß Lino die Hand von seinem Knie nahm und ins Lenkrad griff. Marcello atmete erleichtert auf.

Da war die Landstraße zwischen den Umfassungsmauern und den Hecken. Da war die Einfahrt mit dem grüngestrichenen Gitter. Da war der Zufahrtsweg, flankiert von zerzausten Zypressen, und ganz hinten das Glitzern der Verandafenster. Genau wie das letzte Mal wühlte der Wind in den Baumkronen, und der Himmel war gewittrig dunkel.

Der Wagen hielt an. Lino sprang hinaus und half Marcello beim Aussteigen. Dann ging er mit ihm auf das Tor der Villa zu. Heute schritt Lino nicht voraus, sondern hielt Marcello fest beim Arm, als fürchtete er, der Junge könnte ihm davonlaufen. Marcello wollte Lino sagen, er solle ihn weniger festhalten, aber er kam gar nicht dazu: Lino eilte mit ihm durch den Salon und stieß ihn in den Korridor. Dort packte er ihn ganz unvermutet beim Hals und sagte: »Dummkopf! Warum wolltest du nicht kommen?«

Seine Stimme war nicht mehr scherzhaft, sondern rauh und gebrochen, wenngleich noch immer irgendwie zärtlich. Überrascht wollte Marcello zu ihm aufsehen, erhielt aber einen heftigen Stoß.

Lino hatte ihn wie eine Katze oder einen Hund beim Nacken gepackt und ins Zimmer geschleudert.

Dann sah Marcello, wie Lino den Schlüssel im Schloß umdrehte und einsteckte. Nun wandte sich Lino ihm zu. Auf seinem Gesicht stand ein aus Freude und Wut gemischter Ausdruck. Laut rief er: »Jetzt ist’s Schluß! Du wirst das tun, was ich will! Schluß, Marcello! Tyrann! Kleines Luder! Schluß! Du gehorchst! Und nicht ein Wort mehr!« Dies alles rief er in einer wollüstigen, wilden Freude aus – befehlend und gleichzeitig voll Verachtung. Marcello war bestürzt. Trotz dieser Bestürzung fiel ihm auf, daß Linos Worte gar nicht aus einer Absicht, einer Überlegung herzurühren schienen. Sie wirkten eher wie die sinnlosen Strophen eines Triumphgesanges. Tief erschrocken sah er, wie Lino mit großen Schritten im Zimmer hin und her ging: Er nahm die Mütze vom Kopf und warf sie aufs Fensterbrett; er ballte ein Hemd, das über einem Stuhl hing, zu einem Knäuel zusammen und warf es in ein Schubfach; er strich die Bettdecke glatt. Dann sah Marcello, wie Lino – noch immer unter wirren Reden – das Kruzifix über dem Bett abnahm und mit übertriebener Brutalität in eine Lade warf. Marcello begriff, daß Lino mit dieser Geste zu verstehen gab, er habe nun die letzten Skrupel beiseite geschoben. Als wolle er Marcello in dieser Befürchtung noch bestärken, entnahm er dem Nachttischchen die so begehrte Pistole, zeigte sie dem Knaben und rief: »Siehst du sie? Nie wirst du sie bekommen! Du mußt tun, was ich will – aber ohne Geschenke, ohne Pistole –, aus Liebe oder mit Gewalt!«

Es ist also wahr, dachte Marcello, Lino will mich betrügen, das habe ich doch befürchtet! Er fühlte, wie er vor Wut kreideweiß wurde. »Gib mir die Pistole!« sagte er. »Oder ich gehe!«

 

»Nichts da! Mit Liebe oder mit Gewalt!« In der einen Hand hielt Lino die Pistole, mit der anderen packte er jetzt Marcello beim Arm und riß ihn aufs Bett nieder. Marcello fiel so heftig hintenüber, daß er mit dem Kopf an die Mauer schlug. Sogleich wechselte Lino von der Gewalttätigkeit zur Zärtlichkeit, vom Befehl zum Flehen hinüber: Er kniete vor Marcello nieder. Mit einem Arm umschlang er dessen Beine. Sein anderer Arm lag auf der Bettdecke. Die Pistole hielt er noch immer zwischen den Fingern. Lino stöhnte und rief Marcello beim Namen. Dann ließ er die Pistole los – schwarz hob sie sich gegen das Weiß der Bettdecke ab. Immer noch stöhnend umschlang Lino die Knie des Knaben mit beiden Armen. Marcello blickte dem vor ihm knienden Lino in das aufgehobene flehende, von Tränen gebadete Gesicht, auf dem die Begierde flammte. Nun senkte Lino das Gesicht und rieb es an Marcellos Beinen – wie dies treue Hunde mit ihrer Schnauze zu tun pflegen.

Marcello ergriff die Pistole. Er stand mit einem Ruck auf. Lino .– offensichtlich im Glauben, Marcello wolle seine Umarmung erwidern – ließ von ihm ab. Marcello trat einen Schritt in die Mitte des Zimmers und wandte sich um.

Wenn Marcello später an das Geschehene zurückdachte, erinnerte er sich, daß die bloße Berührung des kalten Pistolenschaftes eine erbarmungslose Versuchung in ihm geweckt hatte: Lust auf Blut. In diesem Augenblick allerdings spürte er nichts als einen heftigen Schmerz, weil er mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen war. Zugleich war er gereizt und empfand – eine heftige Abneigung gegen Lino. Dieser kniete noch immer vor dem Bett. Als er sah, daß Marcello mit der Pistole auf ihn zielte, wandte er sich vollends um. Er breitete die Arme mit einer theatralischen Geste aus und rief, ohne sich zu erheben, im Ton eines Schmierenkomödianten: »Schieß, Marcello! Schieß mich tot! Schieß mich tot wie einen Hund!«

Marcello fühlte, daß er Lino noch nie so gehaßt hatte wie gerade jetzt: Was für eine abstoßende Mischung aus Sinnlichkeit und Strenge, Reue und Gier! Ihm war, als müsse er die Bitte Linos erfüllen. Also drückte er, entsetzt und bewußt zugleich, auf den Abzug.

Der Knall hallte heftig in dem kleinen Raum. Marcello sah, wie Lino zur Seite fiel, sich wieder erhob, ihm den Rücken zuwandte, mit beiden Händen den Rand des Bettes umklammerte. Dann zog er sich langsam in die Höhe, fiel seitwärts auf das Bett, rührte sich nicht mehr.

Marcello trat an ihn heran, legte die Pistole beiseite und rief halblaut: »Lino!« Darauf ging er sofort, ohne eine Antwort abzuwarten, zur Tür. Da fiel ihm ein, daß die Tür versperrt war, daß Lino den Schlüssel abgezogen und eingesteckt hatte. Marcello zögerte. Es widerstrebte ihm, in die Taschen des Toten zu greifen.

Plötzlich fiel sein Blick auf das Fenster. Er erinnerte sich, daß er sich im Erdgeschoß befand, schwang das Bein über das Fensterbrett und sah sich hastig um. Er wußte: Wenn jemand in diesem Augenblick vorbeikommt, bin ich hier auf dem Fensterbrett zu sehen. Aber es gab keinen anderen Ausweg für ihn. Doch niemand war zu erblicken. Jenseits der spärlichen Bäume, die den Vorplatz umstanden, schien das kühle, hügelige Land weithin verlassen.

Marcello sprang hinunter, nahm das Bücherpaket aus dem Wagen, schritt ohne Hast dem Gartentor zu. Vor sich sah er in Gedanken – wie in einem Spiegel – das eigene Bild: Ein junge in kurzen Hosen, seine Bücher unter dem Arm, geht einen mit Zypressen bestandenen Weg entlang. Eine unverständliche Figur voller Angst und böser Ahnungen.

Erster Teil
Erstes Kapitel

Marcello betrat den Vorraum der Bibliothek. In der einen Hand hielt er den Hut, in der anderen die Sonnenbrille, die er jetzt in die Tasche schob. Bei dem Türsteher erkundigte er sich nach der Zeitungssammlung. Dann erstieg er ohne Hast die breite Treppe. Oben ließ ein großes Fenster das starke Licht des Mittags ein. Marcello fühlte sich leicht, unbelastet, voll körperlichen Wohlbefindens und unverletzter Jugendkraft. Sein neuer, grauer, schlicht geschnittener Anzug gab ihm überdies das erfreuliche Bewußtsein, elegant, ernsthaft und ordentlich gekleidet zu sein, wie es seinem Geschmack entsprach.

Im zweiten Stock füllte er einen Schein aus und betrat dann den Lesesaal. Hinter einer Bank saßen eine Angestellte und ein alter Diener. Marcello wartete, bis er an der Reihe war. Schließlich gab er den Zettel ab, auf dem er den Jahrgang 1920 der wichtigsten Tageszeitung der Stadt verlangt hatte. An die Bank gelehnt, wartete er geduldig, sah vor sich hin und in den Saal: Etliche Reihen von Lesetischen, jeder mit einer grünbeschirmten Lampe, reichten bis in den Hintergrund des Raumes. Aufmerksam betrachtete Marcello diese Tische, an denen nur wenige Besucher saßen. Es waren vorwiegend Studenten. In Gedanken suchte er sich den Tisch aus, an dem er gleich sitzen würde: den hintersten, rechts. Das Mädchen kam zurück und trug auf beiden Armen den dicken Band der gewünschten Zeitungen. Marcello ergriff ihn und ging zu seinem Tisch hinüber.

Er legte den Band auf die schräge Fläche und zog sorgfältig seine Hosen hoch, während er sich setzte. Aus einem Paket billiger Zigaretten nahm er eine, zündete sie an, tat einen tiefen Zug. Dann schlug er, die Zigarette zwischen den Fingern, in aller Ruhe den Zeitungsband auf und begann, darin zu blättern. Die Titel waren nicht mehr so leuchtend und schwarz wie einst, sondern eher grünlich. Das Papier war vergilbt, die Fotografien sahen verblichen und unklar aus, und es fehlte ihnen die Tiefe. Es fiel Marcello auf, daß die Überschriften besonders sinnlos und absurd wirkten, wenn sie in größeren Lettern gedruckt waren. Sie bezogen sich auf Ereignisse, die noch am Abend desselben Tages jegliche Wichtigkeit verloren hatten und heute in ihrer unverständlichen Aufdringlichkeit der Erinnerung und der Phantasie widerstanden. Gerade die absurdesten Titel enthielten unter der Meldung, wie Marcello feststellte, einen mehr oder minder tendenziösen Kommentar. Ihr Gehabe ließ an das Geschrei eines Verrückten denken, das unverständlich in die Ohren tönte. Marcello gab sich Rechenschaft über seine eigenen Empfindungen angesichts dieser Überschriften und fragte sich: Wie werde ich dem Titel gegenüber reagieren, der mich betrifft? Wird er mir auch absurd und inhaltslos vorkommen?

Das hier ist also die Vergangenheit, dachte er weiter, während er Seite um Seite umwandte: all dieser verstummte Lärm, diese erloschene Erregung, dies vergilbte Papier, das einmal zerbröckeln und zu Staub zerfallen wird! Die Vergangenheit bestand aus Gewalttaten, Irrtümern, Betrug, Frivolität und Lüge. Das waren anscheinend die einzigen Dinge, die von den Menschen für würdig erachtet wurden, veröffentlicht zu werden. Während er nacheinander die Nachrichten auf den Seiten vor sich durchlas, sagte er sich: Das normale alltägliche Leben fehlt völlig … Aber was suche ich denn selbst, obwohl ich diese Betrachtung anstelle? Suche ich nicht auch einen Bericht über ein Verbrechen?

Er hatte keine Eile, die Nachricht zu finden, die er suchte. Dabei wußte er das Datum ganz genau und hätte es nur aufzuschlagen brauchen. Da war der zweiundzwanzigste, der dreiundzwanzigste, der vierundzwanzigste Oktober des Jahres neunzehnhundertzwanzig. Mit jeder umgeblätterten Seite näherte er sich jenem Ereignis, das er als das wichtigste seines Lebens ansah. Aber die Zeitung bereitete in keiner Weise auf dieses Ereignis vor, nahm von den Präliminarien keinerlei Notiz. Die einzige Nachricht, die ihn betraf, würde plötzlich zwischen lauter ganz gleichgültigen Meldungen auftauchen – wie ein Fisch am Angelhaken aus den Tiefen des Meeres zum Vorschein kommt.

Mit einem Versuch, zu scherzen, sagte er sich: Statt dieser großen Überschriften, die sich meistens um politische Ereignisse drehen, hätte man drucken sollen: Marcello begegnet Lino zum ersten Mal, Marcello, verlangt die Pistole, Marcello steigt zu Lino ins Auto! Plötzlich aber erstarb ihm jede Lust zu einem scherzhaften Gedanken, eine unvermittelte Nervosität raubte ihm fast den Atem. Er war jetzt zu dem gesuchten Datum gelangt. Hastig schlug er noch eine Seite um. In der Lokalchronik fand er die erwartete Nachricht unter dem einspaltigen Titel: Tödlicher Unglücksfall.

Ehe er zu lesen begann, zündete er eine weitere Zigarette an. Nach einem tiefen Zug senkte er den Blick auf die Zeitung. Die Meldung lautete:

Der Chauffeur Pasquale Seminara, wohnhaft Via della Camilluccia 33, putzte gestern seine Pistole, wobei versehentlich ein Schuß losging. Seminara wurde in das Krankenhaus Santo Spirito gebracht, wo die Ärzte eine Schußwunde in der Brust nahe des Herzens feststellten. Sie hielten den Fall für hoffnungslos, und in der Tat verstarb Seminara in den Abendstunden trotz aller ärztlichen Bemühungen.

Während Marcello die Meldung sofort ein zweites Mal durchlas, dachte er: Sie hätte nicht knapper und konventioneller sein können. Aber trotz ihrer abgedroschenen journalistischen Formulierungen gingen doch zwei Dinge mit aller Klarheit daraus hervor: Erstens, Lino war wirklich gestorben. Davon war Marcello zwar stets überzeugt gewesen, es hatte ihm aber immer der Mut gefehlt, dies mit Bestimmtheit festzustellen. Zweitens, Linos Tod war – auf Grund einer Angabe von ihm selbst – auf einen Unglücksfall zurückgeführt worden. Marcello war demnach vor allen Weiterungen geschützt. Lino lebte nicht mehr. Sein Tod würde ihm niemals zur Last gelegt werden.

Aber Marcello war heute nicht nur in die Bibliothek gegangen, um sich darüber endgültige Gewißheit zu verschaffen. Im Grunde betraf seine Unruhe, die während der vielen vergangenen Jahre niemals ganz geschwunden war, gar nicht die gesetzlichen Folgen seiner Tat. Durch seinen Besuch in dieser Bibliothek hatte er herausbekommen wollen, welche Gefühle die Bestätigung von Linos Tod bei ihm auslösen würde. Denn davon hing es ab, ob er noch der junge von einst war, den seine schicksalhafte Abnormität quälte, oder wirklich der neue, völlig normale Mann. Denn seit jener Tat hatte er sich bemüht, ein neuer, völlig normaler Mann zu werden. Und er war auch ziemlich überzeugt vom Erfolg seiner Bemühungen.

Jetzt empfand er eine große Erleichterung. Sogar mehr noch als dies: ein großes Staunen. Die Meldung, die da auf dem vergilbten Papier gedruckt stand, hatte in seinem Gemüt kein Echo geweckt. Es war ihm ergangen wie einem Menschen, der lange Zeit einen Verband über einer tiefen Wunde getragen hat, der diesen Verband schließlich abnimmt und staunend feststellt: Dort, wo er seine Wunde erwartet hat, sieht die Haut ganz heil aus und weist nicht mehr die geringste Spur einer Verletzung auf! Diese Zeitungsmeldung zu suchen, so dachte Marcello, war für ihn das gleiche gewesen wie das Abnehmen eines Verbandes. Da er jetzt nichts empfand, war er also geheilt. Wie diese Heilung eigentlich vor sich gegangen war, hätte er selbst nicht sagen können. Ohne Zweifel hatte nicht nur die Zeit dieses Ergebnis herbeigeführt. Viel war ihm auch selber zu verdanken: seinem bewußten Willen in all diesen Jahren, aus der Anomalie herauszufinden und so zu werden wie die anderen.

Eine Art Gewissensregung veranlaßte ihn, von der Zeitung auf vor sich ins Leere zu blicken und nochmals an Linos Tod zu denken. Das hatte er bisher instinktiv stets vermieden. Konnte denn seine gleichgültige Teilnahmslosigkeit nicht auch daher rühren, daß jene Zeitungsnachricht in dem konventionellen Stil der Lokalchronik abgefaßt war? Wenn ich jetzt versuche, sagte er sich, mich intensiv in die damalige Situation zu versetzen, so müßte doch eigentlich die Erinnerung lebhaft und gefühlsbetont wiederkehren und den alten Schrecken aufs neue hervorrufen – falls davon noch eine Spur in meiner Seele vorhanden ist.

Gefügig ließ er sich nun von seiner Erinnerung auf den Weg führen, den er als Knabe damals zurückgelegt hatte: die erste Begegnung mit Lino in der Allee. Der Wunsch, eine Pistole zu besitzen. Das Versprechen Linos. Der Besuch bei Lino in der Villa. Das zweite Zusammentreffen mit Lino. Der päderastische Angriff. Er, Marcello, der die Pistole auf Lino richtet. Der Chauffeur, der komödiantisch mit ausgebreiteten Armen neben dem Bett kniet und ruft: »Schieß mich tot! Schieß mich tot wie einen Hund!«

Und er hatte geschossen, beinahe gehorsam. Er sah jetzt in Gedanken vor sich, wie Lino auf das Bett fiel, sich wieder hochzog, dann regungslos auf der Seite liegenblieb. Alle diese Einzelheiten, jede für sich, rief Marcello in sich wach. Und er stellte fest, daß die Gleichgültigkeit, die er beim Lesen der Zeitungsmeldung empfunden hatte, jetzt noch größer und sozusagen breiter geworden war. Er verspürte keinerlei Reue. Die regungslose Oberfläche seines Bewußtseins wurde nicht einmal von Empfindungen des Mitleids, des Zorn, des Abscheus gegenüber Lino angerührt, obwohl diese Gefühle lange Zeit untrennbar mit der Erinnerung verknüpft gewesen waren. Er spürte im Grunde überhaupt nichts. Ein impotenter Mann neben einer nackten, begehrenswerten Frau hätte nicht ungerührter sein können.

 

Er war froh über diese Gleichgültigkeit. Sie schien ihm ein unbezweifelbarer Beweis dafür zu sein, daß zwischen dem Knaben von einst und dem Mann von jetzt keinerlei Zusammenhang mehr bestand, nicht einmal ein verborgener, indirekter, unterbewußter. Während er den Band zuklappte, dachte er: Ich bin wirklich ein anderer. Er erhob sich vom Lesetisch. Obwohl er sich mechanisch an alle Dinge erinnern konnte, die in jenem weit zurückliegenden Oktober geschehen waren, waren sie nun bis in die geheimsten Fibern ein für allemal abgetan.

Ohne Hast schritt er zu der Bank zurück und übergab der Bibliothekarin den Band. Dann verließ er in gemessener Haltung, wie er das liebte, den Lesesaal und stieg die Treppe zur Eingangshalle hinab. Als er über die Schwelle des Gebäudes in das starke Licht der Straße hinaustrat, dachte er: Es ist wahr, die Zeitungsmeldung und dann die bewußte Erinnerung an Linos Tod hat in mir keinerlei Widerhall gefunden. Trotzdem fühle ich mich nicht so erleichtert, wie ich zuerst geglaubt habe. Marcello rekonstruierte noch einmal seine Empfindungen beim Blättern in den alten Zeitungen: Ja, es war gewesen wie das Entfernen eines Verbandes über einer alten Wunde. Mit Staunen hatte er die Haut ganz unverletzt gefunden. Doch jetzt fragte er sich, ob nicht unter dieser unverletzten Haut die Infektion als eingekapselter, unsichtbarer Abszeß weiter wirksam sein könne. Was ihn in diesem Verdacht bekräftigte, war sowohl die flüchtige Erleichterung, die er einen Augenblick lang über seine Gleichgültigkeit verspürt hatte, als auch die leichte, dunkle Schwermut, die gleich einem Trauerschleier zwischen seinem Blick und der Wirklichkeit hing. Die Erinnerung an Lino war zwar im Laufe der Zeit verblaßt, aber ein unbegreiflicher Schatten lag über ihm und über seinen Gefühlen.

Während er langsam durch die von Menschen erfüllten, von Sonne leuchtenden Straßen schritt, versuchte er, den Knaben Marcello von vor siebzehn Jahren mit dem Mann Marcello von heute zu vergleichen. Er erinnerte sich, daß er als Dreizehnjähriger ein schüchternes, etwas weibisches, leicht zu beeindruckendes, unordentliches, phantastisches, leidenschaftliches Kind gewesen war. Jetzt hingegen, als Dreißigjähriger, war er ein keineswegs schüchterner, sondern völlig selbstsicherer Mann mit absolut männlichen Neigungen und Gewohnheiten, ruhig und ordentlich bis zum Exzeß, beinahe bar aller Phantasie, beherrscht und kalt. Ja, damals waren in ihm eine Fülle stürmischer, dunkler Empfindungen gewesen. Jetzt aber war alles in ihm klar, fast gedämpft. Die Armut und Starre von ein paar Ideen und Überzeugungen hatte die großzügige, wirre Überfülle von einst verdrängt. Damals war er auch zu einer übersteigerten Mitteilsamkeit geneigt gewesen. Jetzt war er verschlossen, von stets gleichmäßiger Laune, ohne Überschwang, beinahe traurig und schweigsam. Ein klares Zeichen seiner Wandlung in den vergangenen siebzehn Jahren war auch das Fehlen der einstigen übermäßigen Erregbarkeit, das sich in ungewöhnlichen, vielleicht sogar anomalen Trieben kundgegeben hatte. An die Stelle dieser Reizbarkeit war eine gedemütigte, graue Monotonie getreten. Nur einem Zufall war es zu verdanken gewesen, so überlegte er, daß er damals nicht zum Opfer von Linos Gelüsten geworden war. Zweifellos hatte seinem Verhalten dem Chauffeur gegenüber eine unbewußte, trübe Neigung zugrunde gelegen.

Jetzt aber war er wirklich ein Mann wie alle anderen. Vor einem Schaufenster blieb er stehen und musterte sich lange in der Scheibe mit Objektivität und ohne sonderliche Selbstliebe: Ja, er war wirklich ein Mann wie alle anderen mit seinem grauen Anzug, seiner nüchternen Krawatte, seiner hochgewachsenen, gutproportionierten Gestalt, dem gebräunten runden Gesicht, den wohlgekämmten Haaren, der dunklen Sonnenbrille. Auf der Universität zum Beispiel hatte er, wie er sich jetzt erinnerte, eines Tages freudig entdeckt, daß es dort mindestens tausend junge Männer gab, die sich genauso kleideten, die genauso sprachen, dachten und sich benahmen wie er. Jetzt, nach etlichen Jahren, konnte diese Zahl wahrscheinlich mit tausend multipliziert werden. Er sagte sich mit scharf verachtungsvoller Genugtuung: Kein Zweifel, ich bin ein normaler Mann. Allerdings hätte er selbst nicht erklären können, wie diese Wandlung eigentlich vor sich gegangen war.

Plötzlich fiel ihm ein, daß er keine Zigaretten mehr hatte. Er betrat einen Tabakladen in der Galleria auf der Piazza Colonna. Er trat an die Verkaufstheke und verlangte seine Lieblingsmarke. Im selben Augenblick forderten drei andere Leute ebenfalls diese Marke. Der Verkäufer legte rasch vier gleiche Packungen auf die Marmorplatte, vier Hände reichten das Geld, griffen mit gleichen Bewegungen nach den Packungen. Dann bemerkte Marcello, daß er auf die gleiche Art und Weise wie die anderen seine Packung betastete, ob sie auch weich genug sei, und die Umhüllung aufriß. Er stellte ferner fest, daß zwei von den drei Männern die Packung genauso wie er selbst in eine kleine Innentasche des Sakkos steckten. Schließlich entzündete einer von den dreien beim Verlassen des Ladens seine Zigarette mit einem silbernen Feuerzeug. Marcello hatte genau das gleiche. Diese Beobachtungen weckten in ihm ein fast wollüstiges Vergnügen. Ja, er war wie die anderen, war wie alle: Er kaufte mit den gleichen Gesten die gleichen Zigaretten, blickte sich in der gleichen Haltung nach einer vorübergehenden Dame in Rot um und suchte die Bewegungen ihres Hinterteils unter dem dünnen Stoff des Kleides zu erspähen. Manchmal allerdings, wie zum Beispiel in letzterem Fall, rührte die Übereinstimmung mehr von Marcellos Nachahmungswillen her als von einer Gleichheit der Neigungen.

Ein kleiner, verwachsener Zeitungsverkäufer kam ihm entgegen. Er trug ein Bündel Zeitungen unter dem Arm, schwenkte eine in der Hand und brüllte mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht einen unverständlichen Satz, aus dem nur die Worte »Sieg« und »Spanien« herauszuhören waren. Marcello kaufte eine Zeitung und las aufmerksam den Titel, der über sämtliche Spalten des Blattes ging. Wieder einmal hatten im spanischen Bürgerkrieg die Truppen Francos einen Sieg errungen.

Marcello stellte fest, daß ihm diese Meldung eine unbezweifelbare Freude verursachte. Auch das war seiner Meinung nach ein Beweis mehr für seine volle Normalität. Von der ersten, verlogenen Zeitungsüberschrift an, die gelautet hatte: »Was geschieht in Spanien?«, war Marcello an diesem Bürgerkrieg in Gedanken beteiligt gewesen. Der Krieg war immer größer und größer geworden, hatte nicht nur einen Zusammenstoß der Waffen, sondern auch der Ideen zur Folge gehabt. Und allmählich war Marcello dahintergekommen, daß er mit einem sonderbaren Gefühl an diesen Kriegsereignissen Anteil nahm, mit einem Gefühl, das im Grunde unabhängig war von politischen oder moralischen Überlegungen, obwohl sich ihm diese natürlich auch ab und zu aufdrängten: Seine eigentümliche innere Haltung entsprach der Begeisterung eines Sportenthusiasten für eine bestimmte Fußballmannschaft. Von Anfang an hatte er ausdauernd und tief, wenn auch ohne Heftigkeit, den Sieg Francos gewünscht, denn dieser Sieg mußte die Richtigkeit seines Geschmacks und seines Denkens erweisen – nicht nur auf dem Gebiet der Politik, sondern auch auf allen anderen Gebieten.

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