Der Konformist

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

»Das ist die Villa«, sagte Lino. »Aber jetzt ist niemand da.«

»Wer ist der Besitzer?« fragte Marcello.

»Du meinst die Besitzerin«, verbesserte Lino. »Eine amerikanische Dame. Sie ist momentan in Florenz.«

Der Wagen hielt. Die lange niedrige Villa aus weißen rechteckigen Zementflächen, roten Ziegelstreifen und blitzenden Glasfenstern hatte einen Vorbau, der auf vierkantigen Pfeilern aus Naturstein ruhte.

Lino öffnete den Wagenschlag, sprang heraus und sagte: »Komm, steig aus!«

Marcello wußte nicht, was Lino von ihm wollte, und es gelang ihm auch nicht, dies zu erraten. Immer stärker aber wurde in ihm ein Mißtrauen wach und die Angst, irgendwie betrogen zu werden. »Und die Pistole?« fragte er, ohne sich zu rühren.

»Die ist dort drin«, erwiderte Lino ein wenig ungeduldig und deutete nach den Fenstern der Villa. »Jetzt gehen wir sie holen.«

»Gibst du sie mir auch wirklich?«

»Freilich! Eine schöne, neue Pistole …«

Wortlos stieg nun Marcello aus. Sogleich fiel ihn der trunkene, nach Tod riechende, staubig-warme Herbstwind an. Bei diesen Windstößen überkam ihn ein nicht zu definierendes Gefühl. Er folgte Lino, wandte sich aber einmal um und betrachtete den kiesbestreuten Vorplatz, der von Buschwerk und spärlichen Oleanderbäumen umgeben war.

Dann musterte er den vor ihm hergehenden Lino und bemerkte, daß etwas die Seitentasche seines Kittels schwellte. Natürlich, die Pistole, die ihm Lino kurz zuvor aus der Hand genommen hatte! Unvermittelt war er sicher, daß Lino nur diese eine Pistole besaß, und er fragte sich, warum sein neuer Freund ihn eigentlich belogen hatte und ihn jetzt in diese Villa lockte. Sein Mißtrauen wuchs, zugleich aber auch seine Entschlossenheit, die Augen weit offenzuhalten und sich nicht hereinlegen zu lassen. Unterdessen hatten sie ein großes Wohnzimmer betreten, in dem Sessel und Ruhebetten umherstanden. An der Rückwand befand sich ein Kamin mit roter Ziegelhaube. Lino ging noch immer voran, durchquerte den Raum und schritt auf eine blaugestrichene Tür zu.

Unruhig fragte Marcello: »Wohin gehen wir denn?«

»In mein Zimmer«, erwiderte Lino leichthin, ohne sich umzuwenden.

Marcello beschloß, jetzt zum ersten Mal Widerstand zu leisten und damit Lino zu verstehen zu geben, daß er dessen Spiel durchschaut habe. Als Lino die blaue Tür öffnete, hielt er sich entfernt und sagte: »Gib mir sofort die Pistole, sonst geh ich weg!«

»Die Pistole hab ich doch nicht bei mir«, antwortete Lino und wandte sich halb um. »Sie liegt in meinem Zimmer.«

»Natürlich hast du sie bei dir«, gab Marcello zurück. »Sie ist in deiner Jackentasche.«

»Das ist doch die aus dem Wagen!«

»Eine andere hast du gar nicht!«

Lino schien ungeduldig zu werden, unterdrückte dies aber sogleich. Wieder fiel Marcello der Gegensatz auf, den in Linos Gesicht der weichliche Mund unter den schmerzlich-flehenden Augen zu dem trockenen und strengen Gesicht bildete. »Schön, ich gebe dir diese hier«, sagte er. »Aber komm mit mir. Was macht dir denn das schon aus? Hier kann uns ja jeder von draußen sehen …«

Und wenn man uns sieht? hätte Marcello beinahe gefragt. Er schwieg aber, denn er fühlte, daß hinter Linos Worten etwas Böses stand, das er nicht begriff.

»Gut!« sagte er knabenhaft. »Aber nachher gibst du sie mir?«

»Da kannst du ganz sicher sein.«

Sie betraten einen schmalen weißen Korridor, an dessen Ende es wieder eine blaue Tür gab. Diesmal ging Lino nicht voran, sondern hielt sich an Marcellos Seite. Er schlang leicht den Arm um dessen Hüfte und fragte:

»Ist dir denn die Pistole gar so wichtig?«

»Ja«, sagte Marcello, beinahe unfähig zu sprechen, weil ihm Linos Arm so unbehaglich war.

Lino zog seinen Arm weg, öffnete die Tür und ließ Marcello eintreten. Sie befanden sich jetzt in einem langen, schmalen, weißen Raum. Ganz hinten war ein Fenster. Die Einrichtung bestand aus einem Bett, einem Tisch, einem Schrank und aus ein paar Stühlen. Alle diese Möbel waren mit hellgrüner Farbe angestrichen. Marcello bemerkte an der Wand ein bronzenes Kruzifix von der üblichen Art. Auf dem Schrank lag ein dickes, schwarzgebundenes Buch mit rotem Schnitt. Wahrscheinlich ein Gebetbuch, dachte Marcello. Sonst enthielt der Raum nichts und machte einen ungemein sauberen Eindruck. Ein starker Geruch nach einer Kölnischwasser-Seife hing in der Luft. Wo war ihm dieser Geruch schon begegnet? Möglicherweise daheim im Badezimmer, wenn seine Mutter ihre Toilette beendet hatte.

Lino sagte obenhin: »Setz dich aufs Bett. Willst du? Das ist bequemer.«

Marcello gehorchte schweigend. Lino ging jetzt im Zimmer hin und her. Er nahm die Mütze ab und legte sie aufs Fensterbrett. Dann knöpfte er den Kragen auf und wischte sich mit dem Taschentuch den Schweiß vom Hals. Schließlich öffnete er den Schrank und nahm eine große Flasche Kölnischwasser heraus. Er schüttete etwas davon ins Taschentuch und rieb sich dann Gesicht und Stirn ab – offenkundig erleichtert.

»Willst du auch etwas?« fragte er Marcello.

Marcello hätte am liebsten abgelehnt, denn die Flasche und das Taschentuch flößten ihm irgendwie Ekel ein. Trotzdem duldete er, daß Lino ihm mit kühler Handfläche über die Wangen strich. Darauf stellte der Mann das Kölnischwasser in den Schrank zurück und setzte sich aufs Bett neben Marcello.

Sie sahen einander an. Linos trockenes, strenges Gesicht hatte jetzt einen neuen Ausdruck: gequält, zärtlich, flehend. Er schwieg. Schließlich fragte Marcello ungeduldig, schon um dieser peinlichen Betrachtung ein Ende zu machen:

»Und die Pistole?«

Lino seufzte und zog widerwillig die Waffe aus der Tasche. Marcello streckte die Hand danach aus. Linos Gesicht verhärtete sich plötzlich, er zog die Pistole zurück und sagte hastig:

»Ich geb sie dir … Aber erst mußt du sie dir verdienen …«

Bei diesen Worten empfand Marcello beinahe etwas wie Erleichterung: Es war also doch so, wie er gedacht hatte, Lino wollte im Tausch gegen die Pistole etwas haben. In falsch-unschuldigem Ton, als ginge es darum, unter Schulkameraden Federn gegen Glaskugeln einzutauschen, meinte er: »Sag du, was du dafür willst. Und dann werden wir uns einigen.«

Lino schlug den Blick nieder und zögerte, ehe er langsam fragte: »Was würdest du tun, um diese Pistole zu bekommen?«

Marcello bemerkte, daß Lino seiner Frage ausgewichen war. Offenbar handelte es sich also nicht um einen Gegenstand, der gegen die Pistole einzutauschen war, sondern darum, irgend etwas zu tun. Er hatte keine Ahnung, was Lino vom ihm verlangen könne. Immer noch in demselben gemacht harmlosen Ton sagte er: »Ich weiß nicht … Sag du mir’s …«

Ein Augenblick des Schweigens folgte. »Würdest du alles tun? Was auch immer?« fragte plötzlich Lino laut und packte ihn bei der Hand.

Der Ton und die Geste alarmierten Marcello. Er überlegte sekundenlang, ob Lino nicht etwa ein Einbrecher sei, der ihn zum Spießgesellen machen wollte. Nach kurzer Überlegung glaubte er allerdings, diese Möglichkeit ausschließen zu können. Immerhin antwortete er vorsichtig: »Aber was willst du denn, daß ich tue? Warum sagst du’s nicht klipp und klar?«

Lino spielte jetzt mit Marcellos Hand, wandte sie hin und her, besah sie, drückte sie fest, ließ dann wieder locker. Auf einmal stieß er sie mit beinahe grober Geste weg und sagte langsam, indem er Marcello ansah: »Ich bin sicher, daß du gewisse Dinge nicht tätest.«

»So rede doch endlich schon!« beharrte Marcello betreten, aber nicht ganz ohne Bereitwilligkeit.

»Nein, nein!« rief Lino. Marcello bemerkte, daß auf den bleichen Backenknochen des Chauffeurs sonderbare, unregelmäßige rote Flecken erschienen waren. Offensichtlich wollte Lino zwar gern sprechen, jedoch nicht ohne vorher sicherzugehen, daß Marcello dann auch mit seinem Vorschlag einverstanden sein würde.

Da vollführte Marcello eine Geste, bewußter, wenngleich unschuldiger Koketterie, er beugte sich vor und ergriff die Hand Linos. »Sag doch, was du willst«, ließ er sich vernehmen. »Warum sagst du’s denn nicht?«

Ein langes Schweigen folgte. Lino sah abwechselnd Marcellos Hand und dessen Gesicht an, schien zu zögern. Schließlich stieß er die Hand des Jungen ein zweites Mal zurück, jedoch sanft, erhob sich und machte ein paar Schritte durchs Zimmer. Dann setzte er sich von neuem, ergriff wieder Marcellos Hand – zärtlich, wie ein Vater oder eine Mutter die Hand des Sohnes ergreift. »Marcello«, fragte er, »weißt du, wer ich bin?«

»Nein.«

»Ich bin ein aus der Kutte gesprungener Priester«, sagte Lino, und in seiner Stimme lag ein Ton tiefen Schmerzes. »Vielmehr ein Priester, der mit Schimpf und Schande als unwürdig aus dem Kolleg verjagt worden ist, an dem er lehrte … Und du, in deiner Unschuld, hast keine Ahnung, was ich von dir verlange im Tausch für diese Pistole, die du so gern haben möchtest. Ich bin in Versuchung, deine Unwissenheit, deine kindliche Habgier zu mißbrauchen … Jetzt weißt du, wer ich bin, Marcello.« Er hatte im Ton völliger Aufrichtigkeit gesprochen. Nun wandte er sich unerwartet dem Kopfende des Bettes zu und sprach zu dem Kruzifix, ohne die Stimme zu erheben, klagend: »Ich habe so zu dir gebetet …. Aber du hast mich verlassen! Und immer, immer falle ich von neuem! Warum hast du mich verlassen?« Linos weitere Worte verloren sich in einer Art Gemurmel, als spräche er zu sich selbst. Dann erhob er sich vom Bett und sagte zu Marcello: »Vorwärts …! Komm! Ich bringe dich heim!«

Marcello schwieg. Er war wie betäubt und einstweilen außerstande, über all dies nachzudenken. Er folgte Lino auf den Korridor und dann in das große Wohnzimmer. Draußen, auf dem Vorplatz, wehte noch immer der Wind unter dem bewölkten, sonnenlosen Himmel.

 

Lino bestieg das Auto, Marcello setzte sich neben ihn. Der Wagen fuhr an, glitt über die Zufahrt und durch das Tor auf die Straße hinaus. Eine ganze Weile wechselten die beiden kein Wort miteinander. Lino saß wie früher am Lenkrad: den Oberkörper steif aufgerichtet, das Mützenschild tief über den Augen, die behandschuhten Hände am Volant. Nach einer ganzen Weile fragte Lino schließlich, ohne sich umzuwenden:

»Tut es dir leid um die Pistole?«

Bei diesen Worten wachte in Marcello wieder die Hoffnung auf, diese so sehr begehrte Pistole doch zu erhalten. Schließlich und endlich, dachte er, ist vielleicht noch nicht alles verloren … Also antwortete er ehrlich: »Freilich tut es mir leid!«

»Demnach«, fragte Lino, »würdest du kommen, wenn ich mich für morgen mit dir verabredete – um die gleiche Stunde wie heute?«

»Morgen ist Sonntag«, erwiderte Marcello. »Aber übermorgen. Wir könnten uns wieder in der Allee treffen, an derselben Stelle …«

Der andere schwieg einen Augenblick. Dann rief er plötzlich laut und mit klagender Stimme: »Sprich nicht mehr mit mir! Schau mich nicht mehr an! Und wenn du mich Montag mittag in der Allee siehst – hör nicht auf mich! Grüß mich nicht einmal! Verstanden?«

Was hat er denn? fragte sich Marcello etwas ärgerlich. Und er antwortete: »Ich lege keinen Wert darauf, dich zu sehen. Du selbst hast mich heute zu dir gebracht!«

»Ja, aber das darf nicht wieder geschehen! Nie mehr!« erklärte Lino mit Entschiedenheit. »Ich kenne mich und weiß, daß ich nun die ganze kommende Nacht an dich denken werde und daß ich Montag in der Allee auf dich warten werde. Auch wenn ich heute beschließe, es nicht zu tun. Ich kenne mich. Aber du darfst dich nicht um mich kümmern.«

Marcello sagte nichts. Lino aber redete mit der gleichen Heftigkeit. »Ich werde die ganze Nacht an dich denken, Marcello. Montag werde ich in der Allee sein – mit der Pistole, aber du darfst mich nicht beachten.« Immer von neuem wiederholte er diesen Satz. Marcello begriff mit seiner kalten, unschuldigen Hellsichtigkeit, daß Lino zwar mit ihm eine Verabredung traf, ihn zugleich aber vor dieser Verabredung warnte.

Nach einem Augenblick des Schweigens fragte Lino von neuem: »Hast du gehört?«

»Ja.«

»Was hab ich gesagt?«

»Daß du mich Montag in der Allee erwarten wirst.«

»Ich hab dir nicht nur das gesagt …« meinte Lino.

»Und daß ich mich nicht um dich kümmern soll«, schloß Marcello.

»Ja«, bestätigte Lino, »auf gar keinen Fall! Ich werde dich rufen, dich anflehen, dir mit dem Wagen nachfahren … Ich werde dir alles versprechen, was du nur willst. Aber du mußt geradeaus weitergehen und darfst nicht auf mich hören.«

Marcello verlor die Geduld und sagte: »Schon gut! Ich hab’s verstanden.«

»Aber du bist ein Kind«, sagte Lino und wechselte von der bisherigen Heftigkeit zu plötzlicher Weichheit hinüber. »Und du wirst nicht imstande sein, mir zu widerstehen. Du wirst zweifellos mit mir kommen … Du bist ein Kind, Marcello.«

Marcello war beleidigt. »Ich bin kein Kind mehr! Ich bin ein Junge! Du kennst mich noch nicht.«

Lino hielt den Wagen plötzlich an. Sie befanden sich noch auf der Hügelstraße zu Füßen einer hohen Mauer, nicht weit entfernt von der mit Lampions geschmückten Einfahrt zu einem Restaurant. Lino wandte sich Marcello zu. »Wirklich?« fragte er mit einer Art schmerzlicher Sorge. »Würdest du dich wirklich weigern, mit mir zu kommen?«

»Du bist es doch«, erwiderte Marcello, der sich jetzt seines Spiels bewußt war, »der das von mir verlangt.«

»Ja.« Verzweifelt fuhr Lino fort: »Das ist wahr.« Er setzte den Wagen wieder in Bewegung. »Du hast recht, ich bin der Verrückte, der das von dir verlangt. Gerade ich!«

Nach diesem Ausruf verstummte er und verfiel in ein längeres Schweigen. Der Wagen fuhr noch ein Stück auf der Straße weiter und durchquerte dann wieder die schmutzige Vorstadt. Dann kamen sie zu der breiten Allee mit den kahlen Platanen, den Haufen abgefallener Blätter längs der verlassenen Gehsteige, den Villen mit ihren vielen Fenstern. Nun hatten sie das Viertel erreicht, in dem sich das Haus von Marcellos Eltern befand.

Ohne sich umzuwenden, fragte Lino: »Wo ist euer Haus?«

»Halt lieber hier an«, sagte Marcello und war sich bewußt, wie wohltuend dieser Verschwörerton auf Lino wirkte. »Man könnte sonst sehen, daß ich aus deinem Wagen steige.«

Das Auto hielt. Marcello stieg aus. Lino reichte ihm durch das Wagenfenster das Bücherpaket und sagte mit Entschiedenheit:

»Also auf Montag! In der Allee. An derselben Stelle wie heute.«

»Aber ich«, sagte Marcello und ergriff die Bücher, »muß so tun, als sähe ich dich nicht, wie?«

Lino zögerte mit der Antwort. Marcello empfand eine beinahe grausame Genugtuung. Linos tiefeingesunkene Augen hatten einen flehenden, gequälten Blick. Dann sagte er: »Tu, was du für gut hältst. Mach mit mir, was du willst.« Seine Stimme versagte in einer Art halbgesungener Klage.

»Ich werde dich überhaupt nicht ansehen!« verkündete Marcello zum letztenmal.

Lino vollführte eine unverständliche Handbewegung, die vielleicht verzweifelte Zustimmung ausdrücken sollte.

Dann fuhr das Auto an und entfernte sich langsam in der Richtung auf die Allee zu.

Drittes Kapitel

Jeden Morgen wurde Marcello zu einer bestimmten Zeit von der Köchin geweckt. Sie hatte ihn besonders ins Herz geschlossen. Sie betrat im Finstern das Zimmer, stellte das Tablett mit dem Frühstück auf die Marmorplatte der Kommode und hängte sich an die Gurte des Rolladens, um ihn mit zwei oder drei kräftigen Rucken hochzuziehen. Dann stellte sie das Tablett auf Marcellos Knie und wartete stehend, bis er sein Frühstück beendet hatte. Darauf zog sie ihm sofort die Decken weg und jagte ihn ins Badezimmer. Auch beim Anziehen half sie, indem sie ihm die einzelnen Stücke reichte, oft auch niederkniete, um ihm die Schuhe zuzuschnüren. Diese Köchin war eine lebhafte, fröhliche und durchaus vernünftige Person. Sie hatte den Tonfall und die Gewohnheiten der Provinz, in der sie geboren war.

Montag morgen erwachte Marcello mit der unbestimmten Erinnerung, am Abend vor dem Einschlafen zornige Stimmen gehört zu haben. Doch er hatte keine Ahnung, ob sie aus dem Erdgeschoß oder aus dem Schlafzimmer der Eltern gekommen waren. Er wartete, bis er mit dem Frühstück fertig war, und fragte dann ganz obenhin die Köchin, die wie gewöhnlich neben seinem Bett stand:

»Was ist denn gestern abend los gewesen?«

Sie sah ihn mit übertriebener, unechter Verwunderung an: »Nichts, wovon ich wüßte!«

Marcello begriff, daß sie sich zwar verstellte, ihm aber doch sehr gern etwas anvertrauen wollte: Die falsche Verwunderung, das maliziöse Funkeln ihrer Augen, ihre ganze Haltung verrieten es ihm.

Er sagte: »Ich habe Schreie gehört …«

»Ach das!« sagte die Frau. »Das ist doch das Übliche. Weißt du nicht, daß dein Papa und deine Mama oft schreien?«

»Ja«, gab Marcello zurück, »aber sie schrien lauter als sonst …«

Die Köchin lächelte, stützte sich mit beiden Händen auf das Fußende des Bettes und sagte: »So werden sie einander wenigstens besser verstanden haben, meinst du nicht?«

Dies war eine ihrer Besonderheiten: Fragen zu stellen, auf die sie keine Antwort erwartete.

Marcello erkundigte sich: »Aber warum haben sie geschrien?«

Die Köchin lächelte von neuem: »Warum schreien die Leute? Weil sie sich nicht vertragen.«

»Und warum vertragen sie sich nicht?«

»Die?« rief sie, glücklich über diese Frage des Knaben. »Ach … aus tausend Gründen. Einen Tag vielleicht, weil deine Mama bei offenem Fenster schlafen möchte und dein Papa nicht. Dann wieder, weil er früh zu Bett gehen möchte, sie aber nicht. An Gründen fehlt es da nie, wie?«

Marcello sagte plötzlich ernst und überzeugt, als handelte es sich um ein langgehegtes Gefühl: »Ich möchte nicht mehr länger hierbleiben.«

»Und was möchtest du statt dessen tun?« rief die Köchin, immer vergnügter. »Du bist klein und kannst nicht einfach von daheim fortgehen. Du mußt schon warten, bis du erwachsen bist.«

»Mir wär’s lieber«, sagte Marcello, »wenn sie mich in eine Anstalt schickten.«

Die Frau sah ihn gerührt an und rief: »Du hast recht! In einer Anstalt hättest du wenigstens jemanden, der sich um dich kümmerte. Willst du wissen, warum dein Papa und deine Mama heute nacht so gestritten haben?«

»Ja. Warum?«

»Warte, ich will dir was zeigen!« rief die Köchin. Sie eilte zur Tür und verschwand. Marcello hörte, wie sie Hals über Kopf die Treppe hinuntereilte, und fragte sich von neuem, was wohl am vergangenen Abend vorgefallen sein mochte. Gleich darauf hörte er die Köchin zurückkommen. Fröhlich und geheimnisvoll trat sie ein und hielt in der Hand einen Gegenstand, den Marcello wiedererkannte: eine große Fotografie im Silberrahmen, die für gewöhnlich im Salon auf dem Klavier stand. Die Aufnahme stammte aus einer Zeit, in der Marcello kaum mehr als zwei Jahre alt gewesen war. Man sah darauf Marcellos Mutter in einem weißen Kleid mit dem Kind im Arm, das ebenfalls ein weißes Kleidchen trug und eine weiße Schleife im Haar hatte.

»Siehst du, was mit diesem Bild geschehen ist?« fragte die Köchin. Dann fuhr sie fort: »Als deine Mama gestern abend aus dem Theater heimkam und den Salon betrat, war diese Fotografie das erste, was sie erblickte. Die Arme wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Siehst du, was dein Papa mit dieser Fotografie angestellt hat?«

Marcello betrachtete verblüfft das Bild: Irgendwer hatte mit der Spitze eines Federmessers oder mit einem Pfriem die Augen der Mutter und des Sohnes durchlöchert und beiden unter die Lider mit Rotstift hervorströmendes Blut gemalt. Die ganze Angelegenheit war so seltsam, unerwartet und zugleich dunkel-unheilvoll, daß Marcello zunächst gar nicht wußte, was er davon halten sollte.

»Ja, dein Papa hat das gemacht!« rief die Köchin. »Und deshalb hatte deine Mama allen Grund, zu schreien.«

»Aber warum hat er das gemacht?«

»Eine Hexerei! Eine fattura! Weißt du, was das ist?«

»Nein.«

»Wenn man jemandem etwas Böses wünscht … Man kann auch statt der Augen die Brust durchlöchern in der Gegend des Herzens … Und dann geschieht etwas.«

»Was?«

»Die betreffende Person stirbt … Oder es stößt ihr ein Unglück zu, je nachdem …«

Marcello stammelte: »Aber ich habe Papa doch nichts Böses getan …!«

»Und deine Mama? Was hat die ihm getan?« rief die Köchin entrüstet. »Aber weißt du, was dein Papa ist? Verrückt ist er! Und weißt du, wo er enden wird? In Sant’ Onofrio, im Irrenhaus! Und jetzt los, zieh dich an! Es ist höchste Zeit, daß du in die Schule gehst. Ich stelle die Fotografie wieder an ihren Platz.« Quietschvergnügt eilte sie davon, und Marcello blieb allein.

In Gedanken versunken und unfähig, sich den Vorfall mit dem Bild irgendwie zu erklären, zog er sich an. Er hatte für seinen Vater nie besondere Gefühle gehegt. Dessen Feindseligkeit, ob echt oder vorgetäuscht, war ihm nie nahegegangen. Aber die Worte der Köchin über die böse Kraft einer Hexerei gaben ihm doch zu denken. Er war nicht abergläubisch und hielt es eigentlich nicht für möglich, daß man durch Beschädigung einer Fotografie der darauf abgebildeten Person wirklich ein Unglück zufügen könne. Trotzdem weckte die Wahnsinnstat bei ihm Ängste, von denen er geglaubt hatte, sie seien weitgehend gebannt: Er hatte wieder das beklemmende, ohnmächtige Gefühl, in ein tragisches Schicksal verstrickt zu sein. Fast den ganzen Sommer lang hatte ihn dieses Gefühl gequält, war dann aber allmählich verschwunden. Und jetzt, vor dieser mit blutigen Tränen besudelten Fotografie, hatte es sich wieder gemeldet.

War das Unglück wie ein schwarzer, immer größer werdender Punkt im heiteren Blau des Himmels, dachte er, der sich schließlich als ein räuberischer Geier entpuppt, bereit, das unglückliche Opfer anzufallen? Oder war das Unglück ein Fluch der Ungeschicklichkeit, der Unvorsichtigkeit, der Blindheit, mit der das Blut und alle Sinne geschlagen sind? Diese letzte Definition schien ihm die richtigste, denn sie führte das Unglück auf einen Mangel an Gnade, auf eine dunkle, undurchschaubare Fatalität zurück. Es gab also doch so etwas wie eine verhängnisvolle Straße. Das hatte ihm nun die Tat seines Vaters von neuem bewiesen. Er wußte: Diese Fatalität wollte, daß er einen Mord beging. Aber nicht das war es, was ihn im Grunde erschreckte. Wovor er schauderte, war die Erkenntnis, bereits zu allem, was er in Zukunft tun würde, verdammt zu sein. Und es war ihm klar, daß allein schon das Wissen um diese Dinge einen Antrieb darstellte, ihnen zu erliegen.

 

Später, in der Schule, vergaß er dann mit seinem knabenhaften Gemüt ganz plötzlich die soeben durchgemachten Ängste. Als Banknachbar hatte er einen seiner Quäler, einen gewissen Turchi. Der war zwar der Älteste, aber zugleich auch der Unwissendste der ganzen Klasse. Turchi hatte als einziger ein paar Stunden Boxunterricht genommen, das Boxen also nach allen Regeln der Kunst zu lernen begonnen. Sein hartes, eckiges Gesicht mit dem Haar im Bürstenschnitt, der breiten Nase und den schmalen Lippen wirkte schon wie das eines Berufsboxers. Von Latein hatte Turchi keine Ahnung. Doch auf der Straße, außerhalb der Schule, genügte es, daß er mit knotiger Hand einen Zigarettenstummel aus dem Mund nahm und sagte: »Meiner Meinung nach wird Colucci die Meisterschaft machen«, um alle anderen Jungen voll Respekt verstummen zu lassen. Turchi konnte auch die Nase mit zwei Fingern zur Seite zerren und so beweisen, daß seine Membran kaputt war: ein Kennzeichen des wahren Boxers! Er beschäftigte sich nicht nur mit Boxen, sondern auch mit Fußball und allen anderen populären und kampfbetonten Sportarten. Marcello gegenüber hatte Turchi eine sarkastische, in ihrer Brutalität beinahe nüchterne Haltung. Er war es gewesen, der zwei Tage zuvor Marcellos Arme festgehalten hatte, während die anderen vier ihm das Röckchen überzogen. Marcello glaubte nun an diesem Morgen, endlich einen Weg gefunden zu haben, um sich die Achtung Turchis zu verschaffen.

In dem Augenblick, als sich der Geographielehrer umwandte und dann mit einem langen Stab auf die Karte von Europa zeigte, schrieb Marcello in aller Eile auf ein Heft: »Heute werde ich eine wirkliche Pistole bekommen!« Darauf schob er das Heft dem Turchi zu. Dieser war zwar völlig unwissend, aber was das Betragen anging, ein Musterschüler: aufmerksam, regungslos, beinahe düster in seinem Ernst. Marcello wunderte sich deshalb immer wieder, daß Turchi nicht einmal imstande war, auch nur die einfachsten Fragen zu beantworten. Und es war ihm rätselhaft, woran Turchi während des Unterrichts dachte und warum er, obwohl er nie lernte, einen solchen Eifer vortäuschte. Angesichts des Heftes machte Turchi jetzt eine ungeduldige Bewegung, die soviel heißen sollte wie: Laß mich in Ruhe! Siehst du denn nicht, daß ich dem Unterricht folge? Marcello versetzte ihm einen Rippenstoß. Das veranlaßte Turchi zwar nicht, seine Haltung zu ändern, aber er senkte doch den Blick und begann zu lesen. Dann griff Turchi nach einem Bleistift und schrieb auf: »Glaub ich nicht!« An einer empfindlichen Stelle getroffen, beeilte sich Marcello, seine Behauptung zu bekräftigen. Er schrieb: »Ehrenwort!« Der ungläubige Turchi fragte: »Was für eine Marke?« Aus dem Konzept gebracht, antwortete Marcello nach einem kleinen Zögern: »Eine Wilson.« Er meinte eigentlich »Weston«, denn diesen Namen hatte er vor kurzem von Turchi selbst gehört. Turchi schrieb sogleich: »Nie gehört!« Darauf erwiderte Marcello: »Ich bringe sie morgen in die Schule mit.« Hier nahm das schriftliche Zwiegespräch ein plötzliches Ende, denn der Lehrer wandte sich um und fragte Turchi nach dem größten Fluß Deutschlands. Turchi erhob sich, dachte eine Weile nach und gestand endlich mit beinahe sportlicher Offenheit, diesen Fluß nicht zu kennen. In diesem Augenblick ging die Tür auf, der Schuldiener erschien auf der Schwelle und verkündete das Ende des Unterrichts.

Als Marcello bald darauf der Platanenallee zustrebte, war ihm klar, daß er Lino zur Einhaltung des Versprechens zwingen und unbedingt die Pistole erhalten müsse. Natürlich würde ihm Lino die Waffe nur freiwillig oder gar nicht geben. Es galt also, eine Haltung anzunehmen, mit der dieses Ziel am sichersten zu erreichen war. Zwar verstand er den wahren Beweggrund Linos noch immer nicht, doch mit instinktiver, beinahe weiblicher Koketterie wußte er, wie er sich würde benehmen müssen: Um in den Besitz der Pistole zu gelangen, mußte er das tun, was Lino selbst von ihm am Samstag verlangt hatte, durfte ihn nicht beachten, mußte seine Angebote überhören, seine Bitten abweisen, mußte sich – mit einem Wort – kostbar machen. Ich darf das Auto erst dann besteigen, dachte er, wenn ich sicher sein kann, daß mir die Pistole bereits gehört. Wie gesagt, warum Lino eigentlich so großen Wert auf ihn legte und ihm damit diese Art von Erpressung ermöglichte, wußte Marcello nicht. Doch mit demselben Instinkt, der ihm empfahl, Lino zu erpressen, fühlte er, daß sich hinter seinem Verhältnis zu dem Chauffeur der Schatten einer ungewöhnlichen Zuneigung verbarg. Und er ahnte auch, daß er über Lino eine ebenso peinliche wie geheimnisvolle Macht besaß. Allerdings hätte er mit Sicherheit behaupten können, diese Zuneigung und diese beinahe weibliche Rolle, die ihm in der ganzen Angelegenheit zufiel, sei ihm wirklich unangenehm. Er wollte nur vermeiden, daß ihm Lino noch einmal den Arm um die Hüften legte, wie dies im Korridor der Villa während ihres ersten Beisammenseins geschehen war.

Er bog in die Allee ein. Genau wie am vergangenen Samstag war auch heute das Wetter stürmisch und bewölkt. Der warme Wind führte überall auf seinen Wegen etwas mit sich: welkes Laub, Papierfetzen, Federn, Flocken, Zweige, Staub. Inmitten der Allee wirbelte eine Bö gerade jetzt einen Laubhaufen empor. Die Blätter stiegen bis zu den kahlen Ästen der Platanen auf. Sie kreisten unter dem düsteren Himmel und sahen aus wie zahllose gelbe Hände mit auseinandergespreizten Fingern. Marcello belustigte sich damit, dies Spiel der Blätter anzuschauen. Als er dann den Blick senkte, sah er durch das Gewirbel der Goldhände hindurch das lange schwarze, funkelnde Auto am Gehsteig halten. Langsam ging er an dem Wagen vorüber. Sogleich öffnete sich, wie ein Signal, der Schlag. Lino, ohne Mütze, beugte den Kopf heraus und fragte: »Marcello, willst du einsteigen?«

Marcello konnte nicht umhin, sich über den Ernst dieser Einladung zu wundern – nach allem, was bei ihrer ersten Begegnung besprochen worden war. Es erschien ihm geradezu komisch, wie Lino genau das tat, was er nicht zu tun sich geschworen hatte. Marcello ging weiter, als hätte er nichts gehört, und bemerkte mit dunkler Genugtuung, daß sich der Wagen wieder in Bewegung setzte und ihm nachfuhr. Links und rechts in der menschenleeren Allee erhoben sich die gleichförmigen Villen mit ihren vielen Fenstern und die dicken, schrägen Stämme der Platanen. Das Auto folgte ihm im Schritt – mit einem leisen Summen, das sich wohlig anhörte. Nach etwa zwanzig Metern fuhr der Wagen vor, hielt an, der Schlag öffnete sich von neuem. Ohne auch nur den Kopf zu wenden, ging Marcello unbeirrt weiter und vernahm die flehende Stimme: »Marcello – steig ein! Ich bitte dich, vergiß, was ich vorgestern zu dir gesagt habe … Marcello, hörst du mich?«

Marcello konnte nicht umhin, zu denken, daß diese Stimme einigermaßen widerwärtig war. Was hatte Lino denn so zu wimmern? Beinahe hätte sich Marcello für ihn geschämt.

Immerhin wollte er Lino nicht völlig entmutigen. Also wandte er sich nach ein paar Schritten halb um, ermunterte Lino auf diese Weise, die Verfolgung fortzusetzen. Der Blick, den er hinter sich warf, hatte einen lockenden Ausdruck – das fühlte Marcello sofort. Und plötzlich empfand er unverkennbar das gleiche, das er empfunden hatte, als ihm die Kameraden das Röckchen umbanden: eine Erniedrigung, die nicht ganz unangenehm war, eine Unwahrhaftigkeit in der eigenen Haltung. Hatte er vielleicht doch nichts dagegen, lag es vielleicht doch in seiner Natur, die Rolle eines hochmütigen, koketten weiblichen Wesens zu spielen?

Inne książki tego autora