Der Konformist

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Die Gitterstäbe waren sehr weit und gestatteten ihm, seinen Kopf in den fremden Garten zu stecken. Von irgendeiner ganz unklaren Neugier befallen, schaute er zu Boden. An dieser Stelle in Robertos Garten gab es keine Schlinggewächse, sondern eine Irishecke, die zwischen der Mauer und dem Kiesweg verlief. Gerade unter Marcellos Augen, zwischen der Mauer und den weißen und violetten Irisblüten, sah er eine große graue Katze auf der Seite liegen. Er bemerkte die unnatürliche Lage des Tieres – die Pfoten von sich gestreckt, die Schnauze an der Erde – und ein sinnloser Schrecken raubte ihm den Atem. Das dichte bläulich-graue Fell wirkte struppig, ein wenig gesträubt und dabei unbewegt – wie bei jenen toten Tieren, die Marcello vor einer Weile auf dem Marmortisch in der Küche gesehen hatte. Sein Entsetzen steigerte sich immer mehr. Er sprang von seinem Beobachtungsposten hinab, zog aus einem Rosenstrauch eine Stange, kletterte wieder empor, schob den Arm zwischen die Gitterstäbe und stach mit dem erdigen Ende seiner Stange nach der Katze. Doch diese rührte sich nicht. Mit einemmal schienen ihm die Irisblüten auf ihrem hohen grünen Stengel mit den roten und violetten Kronen, rings um den grauen, regungslosen Körper, Totenblumen zu sein, die eine mitleidige Hand für den Leichnam gebracht hatten. Er warf die Stange fort und sprang zur Erde, ohne den Efeu wieder in Ordnung zu bringen.

Marcellos Entsetzen war vielfältiger Art. Sein erster Impuls war, sich in einem Schrank, in einem Verschlag, jedenfalls irgendwo im Dunkeln einzuschließen, um sich selbst zu entfliehen. Entsetzen empfand er, weil er die Katze getötet hatte. Aber noch mehr war er entsetzt, weil er ja diesen Mord am Tag zuvor seiner Mutter bereits mitgeteilt hatte: ein unzweifelhaftes Zeichen dafür, daß ihm grausame, mörderische Taten auf schicksalhaft-geheimnisvolle Weise vorausbestimmt waren. Doch beides wurde von einem noch weit größeren Entsetzen übertroffen: ER hatte tatsächlich die Absicht gehabt, Roberto zu töten. Nur einem Zufall war es zu verdanken, daß die Katze an Stelle seines Freundes ums Leben gekommen war.

Ein Zufall, dem ein Sinn innewohnte: Es ließ sich nicht leugnen, daß ein Fortschritt stattgefunden hatte – von den Blumen zu den Eidechsen, von den Eidechsen zu der Katze, von der Katze zu dem geplanten, beabsichtigten, wenn auch nicht ausgeführten Mord an Roberto. Dieser Mord war immer noch ausführbar, vielleicht sogar unvermeidlich.

So war er also anomal, dachte er. Zu diesem Gedanken trat noch ein lebendiges, körperliches Sichbewußtwerden dieser Abnormität. Das Schicksal hatte ihn demnach ein für allemal gezeichnet und ihn auf eine einsame, bedrohliche, blutige Straße gedrängt. Keine menschliche Kraft würde ihn mehr zurückhalten können.

Unter diesen Betrachtungen ging er zwischen dem Haus und dem Gartengitter hin und her und blickte dabei manchmal zu den Fenstern der Villa empor. Er hoffte beinahe, dort die Gestalt seiner frivolen, gedankenlosen Mutter erscheinen zu sehen. Aber auch sie konnte jetzt nichts mehr für ihn tun, wenn sie überhaupt je etwas hätte tun können. Plötzlich eilte er voll Hoffnung zu der Umfriedung, kletterte an der Mauer hoch und starrte durch die Gitterstäbe. Aber er erblickte keinen leeren Fleck dort, wo er zuvor die Katze gesehen hatte. Sie lag noch immer da – grau und regungslos inmitten des Totenkranzes aus weißen und violetten Blüten. Der Tod, die beginnende Verwesung des Kadavers, hatte einen schwarzen Streifen Ameisen angelockt. Der zog sich über die ganze Hecke, bis zu der Schnauze, ja bis zu den Augen des verendeten Tieres. Marcello starrte auf dieses Schauspiel. Auf einmal sah er – wie bei einer Doppelbelichtung – an Stelle der Katze den toten Roberto zwischen den Irisblüten liegen. Die Ameisen kamen und gingen über seine gebrochenen Augen und über seinen halbgeöffneten Mund. Schaudernd riß sich Marcello von dieser Vision los und sprang wieder hinunter. Dann zog er vorsichtig den Vorhang aus Efeublättern zu. Nun trat zu dem Entsetzen über sich selbst und zur Reue auch noch die Angst, entdeckt und bestraft zu werden.

Er fürchtete sich vor dieser Entdeckung und Bestrafung, fühlte aber gleichzeitig, daß er sie herbeiwünschte – nicht zuletzt deshalb, weil er hoffte, von der abschüssigen Bahn zurückgehalten zu werden, solange dazu noch Zeit war. Von dieser abschüssigen Bahn, an deren Ende unabwendbar der Mord stand. Soweit er sich erinnern konnte, hatten seine Eltern ihn sehr selten bestraft. Sie folgten allerdings nicht irgendwelchen Erziehungsgrundsätzen, die eine Strafe ausschlossen, sondern waren, wie er dunkel begriff, nur gleichgültig. Deshalb litt er jetzt nicht nur unter dem Bewußtsein, ein Verbrechen begangen zu haben und überdies noch zu weit Schlimmerem fähig zu sein, sondern auch darunter, daß er niemanden hatte, der ihn bestrafen würde. Er hatte nicht einmal eine Ahnung, worin diese Strafe bestehen müsse. Derselbe Mechanismus, der ihn dazu getrieben hatte, sich Roberto anzuvertrauen, drängte ihn jetzt dazu, seinen Eltern ein Geständnis abzulegen – darüber war sich Marcello halbwegs im klaren. Von Roberto hatte er hören wollen, daß seine vermeintliche Schuld gar keine Schuld, sondern etwas ganz Alltägliches sei. Von seinen Eltern hoffte er, daß sie in Entrüstungsrufe ausbrechen und erklären würden, diese unerhörte Tat verdiene eine angemessene Strafe. Im ersten Fall wäre die Absolution Robertos für ihn ein Ansporn zu neuen ähnlichen Taten gewesen. Von seinen Eltern erhoffte er eine strenge Verurteilung. Dieser Unterschied machte ihm allerdings wenig aus. In Wirklichkeit ging es ihm, wie er sehr wohl begriff, nur darum, aus der erschreckenden Isolierung, in der er sich befand, wieder auszubrechen – mit jedem Mittel und um jeden Preis.

Vielleicht hätte er sich schon am selben Abend während des Essens dazu entschlossen, seinen Eltern die Tötung der Katze zu gestehen. Aber er hatte plötzlich den Eindruck, daß seine Eltern bereits alles wußten. Sobald er nämlich am Tisch Platz genommen hatte, stellte er mit einer Mischung aus Angst und kaum verhehlter Erleichterung fest, daß Vater und Mutter feindselig und übellaunig wirkten. Die Mutter hatte ihrem kindischen Gesicht einen Ausdruck übertriebener Würde verliehen, saß mit niedergeschlagenen Blicken steif und schweigend da. Der Vater, ihr gegenüber, legte durch verschiedene deutliche Zeichen seine ebenso üble Laune an den Tag. Der Vater war um viele Jahre älter als die Mutter. Oft gab er in bedrückender Weise Marcello das Gefühl, er sei mit seiner Mutter in ein und dieselbe kindische Welt verbannt und seine Mutter sei gar nicht seine Mutter, sondern seine Schwester. Der Vater war hager, hatte ein trockenes und faltiges Gesicht, auf dem nur selten ein kurzes freudloses Lachen sichtbar wurde. Seine hervortretenden Augen funkelten ausdruckslos, wie Minerale; auf seiner Wange erschien häufig ein nervöses Zucken .– beides Dinge, die sicher zusammenhingen. Er liebte die kontrollierten, knappen Bewegungen, wahrscheinlich deshalb, weil er lange Jahre im Militärdienst verbracht hatte. Marcello wußte jedoch, daß er Selbstbeherrschung und Präzision immer übertrieb, wenn er zornig war. Sie verwandelten sich dann in eine seltsame Heftigkeit, die jede noch so einfache Geste mit Bedeutsamkeit erfüllte. An diesem Abend bei Tisch bemerkte Marcello sofort, daß der Vater jede gewohnte und belanglose Handlung unterstrich, als wolle er die Aufmerksamkeit der anderen darauf lenken. Zum Beispiel griff er nach dem Glas, trank einen Schluck, stellte es klirrend wieder hin. Oder er suchte nach dem Salzfaß, nahm etwas Salz heraus, knallte es auf den Tisch zurück. Nicht minder lärmend brach er das Brot in Stücke und legte sie auf den Tisch. Dann schien ihn eine plötzliche Leidenschaft für Symmetrie erfaßt zu haben: Er schob Teller und Bestecke so lange hin und her, bis Messer, Gabel und Löffel genau rechtwinkelig um den Suppenteller gruppiert waren.

Wäre Marcello weniger um sich selbst besorgt gewesen, hätte ihm schnell klarwerden können, daß alle diese mit bedeutsamer, pathetischer Energie geladenen Bewegungen seines Vaters nicht ihm, sondern der Mutter galten. Die tauchte bei jedem neuen Lärm immer tiefer in ihre Würde ein, seufzte nachsichtig und hob mit dem Ausdruck einer Dulderin die Augenbrauen. Aber Marcello war überzeugt, seine Eltern wüßten alles. Sicher hatte Roberto, dieser Hase, den Zuträger gemacht. Zwar sehnte Marcello eine Bestrafung herbei, als er aber die üble Laune seiner Eltern sah, befiel ihn plötzlich ein Ekel vor der Heftigkeit, derer sein Vater, wie er wußte, fähig war.

Seine Mutter bezeigte ihm nur gelegentlich und sozusagen zufällig ihre Zärtlichkeit – mehr aus Reue als aus Liebe. Der Vater wiederum war nur hin und wieder streng, dann aber unmäßig und ohne wirklichen Grund. Offenbar wollte er nach langen Pausen der Zerstreutheit dann und wann seiner Rolle als Erzieher irgendwie gerecht werden. Erst wenn sich die Mutter oder die Köchin über Marcello beschwert hatten, erinnerte sich der Vater plötzlich, daß er einen Sohn hatte: Er brüllte und tobte und verprügelte den Jungen. Besonders vor den Schlägen hatte Marcello Angst: Der Vater trug am kleinen Finger einen Ring mit einem massiven Stein, der während solcher Szenen stets nach innen gedreht war und zu der erniedrigenden Härte der Ohrfeigen noch einen durchdringenden Schmerz fügte. Marcello vermutete, daß der Vater den Ring absichtlich nach innen drehte, war dessen aber nicht sicher.

Verschüchtert und verschreckt baute er jetzt in aller Eile ein glaubhaftes Lügengebäude auf: Nicht er hatte die Katze getötet, sondern Roberto. Die Katze befand sich ja in Robertos Garten. Wie hätte er sie über die Mauer hinweg, durch den Efeu hindurch, töten können? Dann aber fiel ihm plötzlich ein, daß er ja am Abend zuvor selbst seiner Mutter die Tötung einer Katze gestanden hatte. Er erkannte, daß ihm der Ausweg der Lüge verschlossen war. Wahrscheinlich hatte die Mutter trotz ihrer Zerstreutheit dem Vater sein Geständnis wiedererzählt. Und dann hatte dieser zwischen dem Geständnis und den Anschuldigungen Robertos einen Zusammenhang hergestellt. Da gab es nun keinerlei Ausrede.

 

An diesem Punkt schlugen Marcellos Gedanken wieder um.

Heftig wünschte er aufs neue eine rasche und entscheidende Strafe herbei. Doch was für eine Strafe? Er erinnerte sich: Roberto hatte eines Tages von Instituten gesprochen, wohin Eltern ihre mißratenen Söhne zur Strafe schickten. Zu seiner eigenen Überraschung wünschte er jetzt, zur Strafe in ein solches Institut geschickt zu werden. In diesem Wunsch kam unbewußt der Widerwille gegen das ungeordnete Familienleben zum Ausdruck. Er ließ ihn das herbeiwünschen, was die Eltern für eine Strafe hielten. Er betrog sich selbst mit der schlauen Berechnung, in so einem Institut seine Reue beschwichtigen und vielleicht sogar sein Schicksal ändern zu können.

Diese Gedankenkette führte ihn zu einigen Phantasiebildern, die zwar beängstigend wirkten, aber zugleich auch angenehm waren: ein strenges, kaltes, graues Gebäude mit vergitterten Fenstern. Eisige, schmucklose Schlafsäle mit Reihen von Betten und hohen, weißgekalkten Wänden. Freudlose Klassenzimmer voller Bänke, vorn ein Katheder. Nackte Korridore, finstere Treppen, massive Türen, unpassierbare Gitter. Alles – mit einem Wort – wie im Gefängnis! Und doch zog Marcello so ein Institut der haltlosen, beängstigenden, unerträglichen Freiheit des Elternhauses vor. Sogar der Gedanke, in einer gestreiften Uniform zu stecken und mit rasiertem Kopf umherzugehen, wie das jene Internatszöglinge taten, die er bisweilen auf der Straße vorbeimarschieren gesehen hatte, sogar diese demütigende und beinahe ekelerregende Vorstellung war ihm jetzt willkommen. Denn er sehnte sich verzweifelt nach irgendeiner Norm und Ordnung.

Während er solchen Phantasien nachging, sah er nicht seinen Vater an, sondern hielt den Blick auf das blendendweiße Tischtuch geheftet. Dann und wann fielen Insekten darauf, die am Lampenschirm abgeprallt waren. Einmal hob er die Augen. Da sah er hinter seinem Vater auf dem Fensterbrett das Profil einer Katze auftauchen. Ehe er jedoch ihre Farbe ausmachen konnte, war sie bereits heruntergesprungen. Sie durchquerte das Speisezimmer und verschwand in Richtung Küche. Obzwar Marcello seiner Sache keineswegs sicher war, weitete sich sein Herz doch bei dem freudigen Gedanken, dies sei die Katze, die er wenige Stunden vorher im Garten Robertos liegen gesehen hatte. Allein die Hoffnung, sie könne es sein, befriedigte ihn. War es nicht ein Beweis dafür, daß ihm das Schicksal dieser Katze näherstand als sein eigenes?

»Die Katze!« rief er laut. Dann warf er die Serviette auf den Tisch, schob ein Bein vor und fragte: »Ich bin fertig, Papa. Darf ich aufstehen?«

»Du bleibst sitzen«, sagte der Vater mit drohender Stimme.

Verschüchtert meinte Marcello: »Aber die Katze lebt doch …«

»Ich habe dir gesagt – bleib sitzen!« befahl der Vater nochmals. Dann, als seien Marcellos Worte für ihn das Signal gewesen, das lange Schweigen zu durchbrechen, wandte er sich an seine Frau: »Also – sag etwas! Sprich!«

»Ich habe nichts zu sagen«, erwiderte sie mit betonter Würde, die Augen niedergeschlagen, einen verächtlichen Zug um den Mund. Sie trug ein schwarzes, ausgeschnittenes Abendkleid. Marcello bemerkte, daß sie zwischen den mageren Fingern ein kleines Taschentüchlein hielt und oftmals an die Nase führte. Mit der anderen Hand griff sie dann und wann nach einem auf dem Tisch liegenden Stück Brot, und zwar mit den Fingerspitzen und den Nägeln, wie ein Vogel, der Krumen aufpickt.

»Sag schon, was du zu sagen hast! Sprich! Zum Donnerwetter!«

»Dir habe ich nichts zu sagen …«

Marcello begriff erst jetzt, daß nicht sein Katzenmord den Ärger der Eltern verursacht hatte. Dann, plötzlich überstürzte sich alles. Der Vater sagte nochmals: »Sprich! Zum Donnerwetter!« Als einzige Antwort zuckte die Mutter mit den Schultern. Da ergriff der Vater das vor ihm stehende Kelchglas und schrie: »Willst du sprechen? Ja oder nein?« Er schmetterte das Glas auf den Tisch, es zerbrach und der Vater führte mit einem Fluch die verletzte Hand zum Mund. Erschrocken erhob sich die Mutter und eilte zur Tür. Beinahe wollüstig sog der Vater das Blut aus seiner Wunde, die Brauen hatte er zu einem dichten Bogen zusammengezogen. Als er sah, daß seine Frau davonlief, unterbrach er sich in seiner Beschäftigung und schrie: »Ich verbiete dir, zu gehen! Verstanden?« Darauf warf die Mutter heftig die Tür ins Schloß. Der Vater sprang auf und lief nun ebenfalls zur Tür. Erregt durch die Heftigkeit der Szene, rannte Marcello hinterher.

Der Vater befand sich auf der Treppe, hatte eine Hand auf dem Geländer, schien sich aber merkwürdigerweise gar nicht zu beeilen, obwohl er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Es schien, als schwebe er schweigend zum Erdgeschoß hinab. Marcello mußte an den gestiefelten Kater denken. Er zweifelte gar nicht daran, daß der Vater auf seine Art schneller sein würde als die Mutter, die mit ihren kleinen, unordentlichen Schritten vor ihm die Treppe hinunterlief und dabei von ihrem engen Rock behindert wurde.

Jetzt bringt er sie um! dachte Marcello, der dem Vater folgte.

Im Erdgeschoß angelangt, eilte die Mutter zu ihrem Zimmer. Es gelang ihrem Mann, sich hinter ihr durch den Türspalt zu zwängen. Das alles sah Marcello, während er mit seinen kurzen Knabenbeinen die Treppe hinunterlief, der weder wie sein Vater zwei Stufen auf einmal nahm, noch wie seine Mutter hüpfen konnte. Schließlich unten angelangt, stellte er fest, daß plötzlich auf den Lärm der Verfolgung eine seltsame Stille eingetreten war. Die Tür zum Zimmer seiner Mutter war angelehnt geblieben. Marcello trat zögernd auf die Schwelle.

Zunächst sah er in dem halbdunklen Zimmer nur die beiden großen duftigen Vorhänge an den Fenstern, rechts und links von den Betten. Ein Luftzug wehte sie gerade in die Höhe, sie berührten fast den Deckenlüster. Diese weißen, schweigenden Vorhänge gaben dem halbdunklen Zimmer einen Anstrich von Verlassenheit – als wären die Eltern auf ihrer Verfolgung durch die geöffneten Fenster in die Sommernacht hinausgeflogen. Dann entdeckte Marcello in dem aus dem Korridor hereindringenden Lichtstreifen endlich seine Eltern, das heißt, er sah nur den Rücken des Vaters, unter dem die Mutter fast völlig verschwand. Ihre Haare lagen auf dem Kissen, mit einem Arm tastete sie nach dem Kopfende des Bettes. Krampfhaft suchte sich dieser Arm irgendwo festzuklammern, ohne daß ihm dies gelang. Der Vater, der die Mutter unter sich zu erdrücken schien, vollführte mit Schultern und Händen Bewegungen, als wolle er sie erdrosseln.

Er bringt sie um! dachte Marcello. Er stand immer noch auf der Schwelle und empfand eine seltsame kämpferische und grausame Erregung und den Wunsch, in diesen Kampf einzugreifen. Ob er dem Vater helfen oder die Mutter verteidigen wollte, das wußte er eigentlich nicht. Auf einmal hoffte er, daß durch dieses sich hier anbahnende, viel schlimmere Verbrechen sein eigenes ausgelöscht werde. Was bedeutete schon die Tötung einer Katze, gemessen an der Tötung einer Frau?

Als Marcello gerade sein letztes Zögern überwunden hatte und sich fasziniert und voller Kampfeslust ins Zimmer hineinbewegte, ertönte die Stimme seiner Mutter – nicht wie die eines Menschen, der erdrosselt wird, sondern fast zärtlich. Sie murmelte: »Laß mich …« Doch ihr erhobener Arm, der bis jetzt immer noch das Kopfende des Bettes gesucht hatte, senkte sich und umschlang den Nacken des Mannes. Verwundert und beinahe enttäuscht tat Marcello ein paar Schritte zurück und trat auf den Korridor hinaus.

Langsam und vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, wandte er sich dem Untergeschoß und der Küche zu. Schon quälte ihn wieder die Neugier: War die Katze, die vom Fenster gesprungen war, mit der identisch, die er im Garten hatte liegen sehen? Als er die Küchentür aufstieß, bot sich ihm ein Bild häuslichen Friedens: In der weißen Küche saßen zwischen dem elektrischen Herd und dem Eisschrank die ältliche Köchin und das junge Stubenmädchen beim Essen an ihrem Marmortisch. Und auf dem Fußboden, unter dem Fenster, hockte die Katze und leckte mit rosafarbener Zunge Milch aus einer Schüssel. Doch es war, wie Marcello sofort enttäuscht feststellte, keineswegs die bewußte graue Katze, sondern ein ganz anderes, gestreiftes Tier.

Da er nicht wußte, wie er sein Auftauchen in der Küche rechtfertigen sollte, ging er zu der Katze, beugte sich hinab und streichelte ihren Rücken. Das ließ sie sich, ohne ihre Mahlzeit zu unterbrechen, schnurrend gefallen. Die Köchin erhob sich und schloß die Tür. Dann öffnete sie den Eisschrank, nahm einen Teller mit einem Tortenstück heraus, stellte ihn auf den Tisch, schob einen Stuhl heran und sagte zu Marcello: »Willst du ein Stück Torte? Von gestern abend? Ich hab es eigens für dich aufgehoben.« Marcello gab keine Antwort, ließ die Katze, setzte sich und begann zu essen.

Das Stubenmädchen sagte: »Gewisse Dinge verstehe ich einfach nicht. Da haben sie den ganzen Tag Zeit und soviel Platz im Haus – warum müssen sie gerade bei Tisch in Gegenwart des Jungen streiten?«

Die Köchin erwiderte belehrend: »Wenn man sich um seine Kinder nicht kümmern will, soll man sie nicht in die Welt setzen.«

Nach einem kurzen Schweigen bemerkte das Stubenmädchen: »Er könnte seinem Alter nach ihr Vater sein … Natürlich kann das nicht gut gehen.«

»Wenn’s sich nur darum drehte …« meinte die Köchin und warf einen bedeutsamen Blick auf Marcello.

»Außerdem«, fuhr das Stubenmädchen fort, »ist dieser Mann meiner Meinung nach nicht normal.«

Marcello aß zwar weiter, spitzte aber bei dieser Bemerkung die Ohren. »Auch sie ist der gleichen Ansicht«, schwatzte das Mädchen. »Wissen Sie, was sie mir vor kurzem gesagt hat, als ich sie am Abend auskleidete? ›Giacomina‹, hat sie gesagt, ›früher oder später wird mich mein Mann umbringen.‹ Da hab ich gefragt, warum gehen Sie denn dann nicht von ihm fort? Und sie …«

»Psssttt …« unterbrach die Köchin und deutete auf Marcello. Das Stubenmädchen verstand und fragte den Jungen: »Wo sind denn Papa und Mama?«

»Oben im Zimmer«, erwiderte Marcello. Und dann, wie von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, fügte er hinzu: »Papa ist wirklich nicht normal. Wißt ihr, was er getan hat?«

»Nein, was denn?«

»Er hat eine Katze getötet.«

»Eine Katze? Wie denn?«

»Mit meiner Schleuder. Ich hab gesehen, wie er im Garten eine graue Katze verfolgte, die auf der Mauer entlangging. Dann nahm er einen Stein, schoß ihn nach der Katze und traf sie. Die Katze fiel hinunter in den Garten Robertos. Ich habe später nachgeschaut und festgestellt, daß sie wirklich tot war.« Während des Sprechens ereiferte sich Marcello, behielt aber den Ton eines unschuldigen Jungen bei, der ahnungslos und naiv von einer Missetat erzählt, deren Zeuge er gewesen ist.

»Nein so was!« rief das Stubenmädchen und schlug die Hände zusammen. »Eine Katze! Ein Mann dieses Alters, ein Herr, nimmt die Schleuder seines Sohnes und bringt damit eine Katze um! Wenn das nicht verrückt ist!«

»Wer schlecht zu den Tieren ist, der ist auch schlecht zu den Menschen«, sagte die Köchin. »Erst erschlägt man eine Katze und zuletzt einen Menschen.«

»Warum?« fragte Marcello und hob plötzlich die Augen von seinem Teller.

»So sagt man«, erwiderte die Köchin und streichelte ihn. »Obwohl es nicht immer wahr ist …« fuhr sie zu dem Stubenmädchen gewandt fort. »Der Mörder aus Pistoja, der die vielen Leute umgebracht hat … Das hab ich in der Zeitung gelesen, wissen Sie … Haben Sie eine Ahnung, was er jetzt im Gefängnis tut? Er hält sich einen Kanarienvogel!«

Die Torte war zu Ende. Marcello stand auf und verließ die Küche.

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