"Und ihr wollt das Land besitzen?" (Ez 33,25)

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Z serii: Forschung zur Bibel #124
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Daß eine gegenwärtige geschichtliche Situation durch die Redensarten eine volkstümliche Deutung erfährt, macht ihre charakteristische Eigenschaft aus. Eine solche Deutung schließt auch die inneren Gedanken, Gefühle und Stimmungen mit ein, die die Sprecher in bezug auf die zugrundeliegenden Situationen haben.

Schwierig wird es sein, einen allgemeinen Sitz im Leben für diese Redensarten zu rekonstruieren. Am Ende bleibt nichts übrig, als die Exilszeit selbst als diesen Sitz anzunehmen. Die Exilszeit ist nicht bloß eine einmalige historische Situation, sondern besitzt auch, wie für einen Sitz im Leben gefordert, allgemeine typische Eigenschaften, wie sie sich in vergleichbaren Krisensituationen wiederholen und das bis auf den heutigen Tag. Zu diesen Eigenschaften dürfte auch die besondere Hellhörigkeit der Exulanten gezählt werden, die in dem Maß, wie sie selbst zur Untätigkeit verdammt sind, auf umgehende Meinungen und Ansichten vermehrt achtgeben, um daran die Zukunft des aufgegebenen Heimatlandes abzulesen.11 Hinzu kommt der leicht verständliche, leidenschaftliche Versuch, auch über Räume hinweg mit dem Heimatland oder anderswohin verstreuten Volksgenossen in Kontakt zu bleiben.

Man braucht nur auf die jüngere deutsche Geschichte zu schauen und wird um Parallelen nicht verlegen sein. Die politische Emigration zur Zeit des dritten Reiches hat ähnliche Erscheinungsformen hervorgebracht. Die Situation war natürlich in manchem eine andere, insofern Deutschland zunächst nicht von außen erobert wurde, sondern eine selbstverschuldete Diktatur heraufbeschwor. Die Verhaltensweisen der emigrierten Intellektuellen lassen aber manchen unmittelbaren Vergleich zu. Neben der fiebrigen Suche nach Informationen über die Entwicklung im Heimatland gab es auch Entfremdungen zu denen, die als Regimegegner im Land geblieben waren. Selbst nach der Rückkehr mit Beendigung des Krieges schwelte der Streit weiter. Die Rückkehrer aus dem Exil beschuldigten die Daheimgebliebenen automatisch der Kollaboration mit der überwundenen Diktatur. Die Schriftsteller wiederum, die nicht emigriert waren, sprachen den Heimkehrern jedes Recht zu urteilen ab, weil sie die schwierige Situation im Lande nicht kennengelernt hätten. Aus einer etwas abgeklärteren und weniger parteiischen Perspektive versucht der Dichter Bergengruen den Konflikt zu schildern und läßt doch gerade dadurch ahnen, wie tiefgreifend er gewesen sein muß.12 C. Zuckmayer vertrat eine ähnlich abgeklärte Position aus Sicht der Emigranten.13 Daß diese Haltung jedoch alles andere als selbstverständlich war, bezeugt der heftige Briefwechsel zwischen K. Mann und G. Benn. Er hat so nachhaltig gewirkt, daß Günter Grass ausdrücklich auf ihn Bezug nahm, als er Anna Seghers in einem öffentlichen Brief dafür rügte, nicht gegen den Mauerbau in Berlin Protest einzulegen.14 Dieser Mauerbau erzeugte kein Exil im buchstäblichen Sinn, aber doch die erzwungene Trennung eines kulturell zusammengewachsenen Volkes mit tiefgreifenden Folgen für die Zukunft. Auch zwei Jahrzehnte nach der sog. Wiedervereinigung zeigt sich, daß sich auf rein organisatorische Art und Weise nicht jene innere Einheit eines Volkes herbeizwingen läßt, wie sie Ez 37,15-28 als eine durch Gottes Wirken zustandezukommende beschwört. Gegen die Voreiligkeit von Politikern haben es Schriftsteller und Propheten gewöhnlich nicht leicht, sich Gehör zu verschaffen.

Neben dieser jüngeren Entwicklung des deutschen Staates würde auch das Migrationsschicksal so vieler Menschengruppen in Gegenwart und jüngerer Geschichte vielleicht interessante Parallelen bieten können, je nachdem wie sich das jeweilige Verhältnis zur neuen Umgebung und zur alten Heimat darstellt.

Das auffallend häufige Aufgreifen von volkstümlichen Redensarten an thematisch wichtigen Stellen bei Ezechiel ist schon immer aufgefallen. Für Zimmerli zeugt es vom seelsorgerlichen Ansatz des Propheten,15 für Keel von seiner Volksnähe.16

Sehr ausführlich geht Sedlmeier in der Einleitung zu seinem Kommentar auf die Verwendung dieser Redensarten ein. Er nennt sie geflügelte Worte17, bei denen ihn nicht nur der Umgang des Propheten damit interessiert, sondern auch das Volk selbst, das in ihnen mit seinen Stimmungen und Erfahrungen zu Wort kommt.18 Nach kurzen Besprechungen der wichtigsten Beispiele benennt er zum Abschluß auch die geistig-religiöse Landschaft der Zeit Ezechiels, die in ihnen ausgedrückt werde.19 Hiermit ist ein zusätzlicher Aspekt umrissen, der zu den Stimmungen und Lebenserfahrungen hinzukommt. Die in den Redensarten ausgesprochenen Lebenserfahrungen haben unmittelbaren Einfluß auf die wichtigsten Glaubensfragen, und das dürfte wohl der entscheidende Grund dafür sein, warum sich ein Prophet wie Ezechiel so sehr durch sie herausgefordert fühlt. In einem Artikel unterscheidet Sedlmeier als Haltungen und Strategien zur Krisenbewältigung, wie sie in den Redensarten vorkommen: Naiver Optimismus (Ez 33,24); Verharmlosen und Harmonisieren (Ez 11,3; 12,22; 12,27); Nutznießung der Krise (Ez 11,15); Resignation (Ez 33,10; 37,11); Lust nach Sensation und Erleben (Ez 33, 30-32); Bitterkeit und Zynismus (Ez 18,2; 20,32).20 Auch in anderen Prophetenbüchern kommen vereinzelt Redensarten des Volkes vor, die dann aber eher als Bericht spontaner und nicht so sehr typischer Reaktionen erscheinen. Sehr nahe kommen den ez Redensarten allerdings Stellen wie Jes 40,27 und 49,14 beim sog. Deuterojesaja,21 ebenfalls einem Exilspropheten. So hier wie bei Ez geben die Redensarten Einblick in die Ansichten des Volkes, das sich angesichts des Zusammenbruchs des Staates seine eigenen Gedanken zu machen anfängt, statt immer nur passiv zu reagieren.

Zusammenfassend lassen sich die Redensarten also folgendermaßen charakterisieren. Durch die Einleitung werden sie zu Zitaten von konkreten Sprechern bestimmt, für deren Einstellung und Wesensart sie einen repräsentativen Charakter haben. Sie gehen über eine bestimmte, sie veranlassende Situation hinaus, indem sie eine allgemeine Deutung derselben bringen, durch die sie einer grundsätzlichen Lebensauffassung dienen sollen. Eine solche Deutung fordert entsprechende Stimmungen, Ansprüche und Selbsteinschätzungen heraus, soweit nicht schon vorausgesetzt, und hat damit zu guter Letzt auch Einfluß auf die religiöse Einstellung.

1 W. Zimmerli, Ezechiel, 55*: „Die rein illustrierenden Zitate, die in 8 12 9 9 27 32b. 34a 33 30 36 20. 35 38 11. 13 zu finden sind, gehören ebensowenig zu der hier besprochenen Redeform wie die schon früher erwähnten Zitate der Leute (in 12 9 18 19 21 12 24 19 37 18, auch 21 5).“ Für die statt dessen angesprochene Redeform findet sich bei Zimmerli sowohl der Ausdruck „Disputationswort“ (S. 54*) als auch der synonyme „Diskussionsworte“ (S. 55*).

2 Mit Beziehung auf Wolff, „Zitat“, bemerkt D.R. Clark, Citations, 16: „Most of those he labels genuine ‘represent’, rather than reproduce precisely or authentically the attitudes of the speakers.“

3 F. Fechter, Bewältigung, 142, äußert in bezug auf 28,2 mit der darin befindlichen Redensart: „Es ist […] kaum von der Hand zu weisen, daß hier tyrisches ‘Lokalkolorit’ im Hintergrund steht[…].“ Möglichen Zweifeln gegenüber macht er das gesellschaftliche Milieu Ezechiels für ein solches Wissen verantwortlich, 142 Anm. 129: „immerhin aber ist mit gewisser Detailkenntnis über religiöse Praktiken bei den Nachbarn Israels gerade in priesterlichen Kreisen zu rechnen.“

4 O. Keel, „Zeichensysteme“, vergleicht die unterschiedliche Symbolsprache Jeremias und Ezechiels. Während Jeremia seine Vergleiche aus der palästinischen Alltagswelt bezieht, holt sie Ezechiel aus der mesopotamischen und ägyptischen Bildwelt. So kommt er, 46, zu dem Schluß: „Ezechiel scheint […] [im Gegensatz zu Jeremia, A.R.] der obersten Schicht der Jerusalemer Priesterschaft angehört zu haben, die sich auf Zadok zurückführte (Ez 40,46; 43,19; 44,15; 48,11). […] In Babylon scheint er mit gelehrten Kreisen Kontakt gehabt zu haben. Zumindest würde das sein detailliertes Wissen über diese Welt erklären.[…]

5 Vgl. die Einteilung bei D.R. Clark, Citations, 60. Clark unterscheidet außerdem noch Zitate zur Ergänzung eines Prophetenwortes. Die übrigen beiden Arten, die prophetischen wie die göttlichen Selbstzitate, haben bei der somit fünf Gruppen umfassenden Einteilung für diesen Gegenstand keine Bedeutung.

6 Vgl. F. Fechter, Bewältigung, 41-48, hier bes. 42-43 Anm. 112.

7 H.W. Wolff, „Das Zitat“, 48: „Es fällt auf, wie selten innerhalb der prophetischen Rede eine Stimme angeführt wird, die das prophetische Zeugnis bekräftigt. Jahwe selbst steht für sein Wort ein. […] Die Zitate feindlicher Stimmen stehen dem wie die Regel der Ausnahme gegenüber.“

8 Vor allem entspricht dem der kollektive Charakter der Sprecher. Vgl. H.W. Wolff, „Zitat“, 48: „Wer kommt als Gegner zu Worte? Kaum sind es einzelne Personen, vielmehr treten meist Gruppen auf, die als solche Jahwes und darum seines Boten Gegnerschaft sind.“

9 Auf diese Unterschiede im Zeitbezug macht besonders F. Fechter, Bewältigung, 42 Anm. 112, aufmerksam. Einleitung durch Partizip oder Infinitiv werden von ihm durch Gedankenstrich als fehlender Zeitbezug eingestuft. Fechter gibt, 42, jedoch zu bedenken, daß „sich auch Texte finden lassen, in welchen ein solcher Zeitbezug nicht gegeben ist. Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn ein unbestimmtes Redesubjekt im Blick ist (‘man’, ‘Haus Israel’) und/oder im allgemeinen Sprachgebrauch häufig wiederkehrt. Klassische Beispiele dieser Gruppe sind Sprichworte oder Redensarten (z.B. 18,2).“ Da in dieser Arbeit besonders der redensartliche Charakter der Zitate hervorgehoben wird, versteht es sich, daß der absolute Zeitbezug gegenüber den Aspekten eine geringere Rolle spielen wird.

 

10 P. Joüon, Grammaire, § 112f: „Le qatal s’emploie pour une action instantanée qui, s’accomplissant à l’instant même de la parole, est censée appartenir au passé […]. Les exemples sont surtout fréquents avec les verba dicendi et leurs équivalents …“.

11 W. Zimmerli, Ezechiel, 251 : „Es ist wohl nicht zufällig einer der im Osten von der Heimat Getrennten, der für diese anderen [von Jeremia nicht wahrgenommenen, A.R.] Stimmen besonders hellhörig ist.“

12 W. Bergengruen, Dichtergehäuse, 157: „In der Schweiz habe ich manche Beispiele erlebt, daß von seiten der Emigranten die Forderung erhoben wurde, jeder Nichtemigrierte habe sich wegen seines Verbleibens in Deutschland zu verantworten und zu rechtfertigen. […] Ich habe es mir nie herausgenommen, den Fortgang eines Mannes zu kritisieren, der Grund hatte, sich vom ersten Tage der nationalsozialistischen Machtergreifung an unmittelbar bedroht zu fühlen, und für den auch keine Möglichkeit gegeben schien, seine geistige Arbeit in Deutschland fortzusetzen. Ich habe seine Motive und Entschlüsse respektiert, und ich kann sagen, daß ich in vielen schwachen Stunden die Emigranten, und mochten sie noch so jämmerlich daran sein, beneidet habe. Allein wie übergroß auch die Sehnsucht nach einem Aufatmenkönnen jenseits unserer Zuchthausmauern war, ich hätte es, in meinem Falle, doch nicht für richtig gehalten, fortzugehen und damit eine geistige Position, und sei sie noch so bescheiden gewesen, solange sie sich irgend halten ließ, meinen Todfeinden zu überlassen. So etwas wurde also zuletzt als Kollaborationismus bezeichnet. Unsere naive Vorstellung, es werde eine freundschaftliche, ja herzliche Wiederbegegnung zwischen lange Getrenntgewesenen geben, war ad absurdum geführt.“

13 C. Zuckmayer, Geheimreport, 21: „Suhrkamp lehnte den Gedanken an Auswanderung ab: vor allem weil er, wie Viele, die Überzeugung hatte, dass man die besseren Kräfte in Deutschland nicht einfach allein lassen könne und dürfe, dass Leute da bleiben müssten um etwas Vorhandenes zu verteidigen und durch die Zerstörungszeit zu retten, und daß für solche, die nicht fliehen mussten, der verantwortliche Platz in Deutschland sei. Dieser Standpunkt ist bei Vielen der in Deutschland Gebliebenen […] durchaus ehrlich und m.E. auch richtig gewesen.“

14 Nachzulesen bei G. Grass, Werkausgabe, Bd. IX, 33-34: „Ich bin nicht Klaus Mann, und Ihr Geist ist dem Geist des Faschisten Gottfried Benn gegengesetzt, trotzdem berufe ich mich mit der Anmaßung meiner Generation auf jenen Brief, den Klaus Mann am 9. Mai 1933 an Gottfried Benn richtete. Für Sie und für mich mache ich aus dem 9. Mai der beiden toten Männer einen lebendigen 14. August 1961: Es darf nicht sein, daß Sie, die Sie bis heute vielen Menschen der Begriff aller Auflehnung gegen die Gewalt sind, dem Irrationalismus eines Gottfried Benn verfallen und die Gewalttätigkeit einer Diktatur verkennen, die sich mit Ihrem Traum vom Sozialismus und Kommunismus, den ich nicht träume, aber wie jeden Traum respektiere, notdürftig und dennoch geschickt verkleidet hat.“

15 W. Zimmerli, Ezechiel 1-24, 103*: „ Man möchte hier in besonderer Weise geneigt sein, von einem seelsorgerlichen Ansatz der Antwort des Propheten zu reden.“ Mit diesem seelsorgerlichen Ansatz versuche der Prophet eine Antwort auf die Frage zu geben: „Was sollen wir denn heute tun?“ (102*). Die Charakterisierung Ezechiels als Seelsorger ist allerdings schon älteren Ursprungs: vgl. C.H. Cornill, Der israelitische Prophetismus, 120: „Ist die religiöse Persönlichkeit das wahre Subjekt der Religion, so ergiebt sich daraus der unendliche Werth einer jeden einzelnen Menschenseele: hier muß der Hebel angesetzt werden, und so gestaltet sich in Ezechiel die Prophetie zur Seelsorge um.“

16 O. Keel, „Zeichensysteme“, 45: „Die Disputationsworte zeigen, daß er dem Volk aufs Maul schauen konnte. Diese Disputationsworte knüpfen an sprichwortähnliche Redensarten an, mit denen sich sein Publikum gegenüber seiner Botschaft zu immunisieren versucht hat. […] So kommt auch im Ezechielbuch nicht nur seine Bildungs-, sondern auch seine Alltagswelt zum Zug.“

17 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 25: „Im Ezechielbuch findet sich eine Reihe von geflügelten Worten, die während der Exilszeit im Umlauf waren, sei es unter den Exilierten in Babylon, sei es in der judäischen Heimat.“

18 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 25: „Diese Redewendungen geben Einblick in die Art und Weise, wie Ezechiels Zeitgenossen mit dem allmählichen Zusammenbruch ihrer Hoffnungen zurechtzukommen suchten.“

19 Fr. Sedlmeier, Ezechiel, 28: „Diese vielfältigen Stimmen, die im Ezechielbuch laut werden, geben einen Einblick in die geistig-religiöse Landschaft der Zeit Ezechiels.“

20 Fr. Sedlmeier, „Füchse“, 298-300.

21 Jes 40,27: „Wozu sagt Jakob und spricht Israel, verborgen ist mein Weg vor JHWH, an meinem Gott zieht mein Recht vorbei?“ Jes 49,14: „Es sagt Zion, verlassen hat mich JHWH, der Herr hat mich vergessen.“ Man achte auf die chiastische Struktur in bezug auf die Stellung der Gottesbezeichnungen, die auch bei ez Redensarten nicht selten ist. Zum Unterschied ist bei Deuterojesaja die stärkere Subjektivierung feststellbar. Bei Ez findet sich allenfalls die 1. P. Pl. (wenn von Redensarten unter den Fremdvölkersprüchen abgesehen wird, die zuweilen einem einzelnen Fürsten in den Mund gelegt werden). Unterschiedlich ist auch der Umgang, insofern Deuterojesaja nur den Klagecharakter heraushebt, um ihn zum Anlaß für ein Trostwort zu nehmen.

3. Methodische Überlegungen

Die zur Untersuchung der Redensarten benutzte Methode kann in Abwandlung eines Wortes von Berges als diachron reflektierte und Diachronie reflektierende Synchronie bezeichnet werden.22 Dieser Grundsatz schließt drei Schritte ein.

3. a) Synchronie, sofern diachron reflektiert.

Jeder Redensart wird eine knappe Darstellung des unmittelbaren Kontextes vorangestellt. Hier können Hinweise auf Literarkritik und diachrone Analyse nicht völlig vernachlässigt werden, auch wenn für eine ausführliche Diskussion kein Raum bleibt. Dafür wird im Wesentlichen auf Zimmerli zurückgegriffen werden. Sein Kommentar23 ist nach wie vor unerreicht hinsichtlich der Vollständigkeit seiner Angaben und der Ausgewogenheit seiner Interpretation, die literarkritische Beobachtungen mit dem einheitlichen Charakter des Buches zu verbinden weiß.24

Sein Fortschreibungsmodell, das einen Grundbestand des Buches von Ezechiel herkommen läßt, den übrigen Teil des Buches aber einem Erweiterungsprozeß zuschreibt, von welchem wiederum ein Teil noch vom Propheten selbst angehängt worden sein konnte, ein anderer aber auf den Kreis seiner Prophetenschüler zurückzuführen ist, hat im allgemeinen Schule gemacht.25 Dieses Modell empfiehlt sich wegen seiner relativen Offenheit und Dehnbarkeit, wodurch es noch einer großen Zahl von Möglichkeiten Raum gibt, wie diese Fortschreibung entsprechend aktueller Erkenntnisse im Einzelnen zu erklären und beschreiben ist.

Natürlich teilen nicht alle Exegeten den Ansatz Zimmerlis. Greenberg26 verzichtet weitgehend auf Literarkritik und verlegt sich auf synchrone Strukturanalysen. Becker geht von einem pseudoepigraphischen Werk der Nach-Exilszeit aus. Er wurde ursprünglich von der Beobachtung geleitet, daß die redaktionellen Teile des Buches meistens gerade die theologisch bedeutsamsten sind und dem Redaktor möglicherweise der Löwenanteil des Buches zukommt.27 Von dort bis zu der Ansicht, daß der Redaktor selbst der eigentliche Autor sei, ist nur ein kleiner Schritt, den einzuschlagen Becker nicht gezögert hat. Positiv ist an seinem Ansatz das Interesse zu vermerken, die eigentliche theologische Aussage des Buches hervorzuheben und der theologischen Reflexion über Prophetie genauso viel Gewicht beizulegen wie dieser selbst.28 Für die Einordnung der zitierten Redensarten in das Buchganze wird dieser Aspekt zu berücksichtigen sein, weil deren Aufgreifen der Suche nach einer angemessenen Interpretation der prophetischen Botschaft verdankt sein könnte. Elemente einer weitergehenden Reflexion sind unverkennbar auch beim Umgang mit den Redensarten zu spüren. Sie zeigen sich schon rein äußerlich in der Formelhaftigkeit der Einleitungen, die auf eine gewisse Distanz zu den unmittelbaren Ereignissen hindeuten könnte. Mehr als die darin angedeuteten faktischen Ereignisse scheint den Propheten deren Einordnung im Verständnis der Leute zu interessieren.

Ob dies aber mit der pseudoepigraphischen Hypothese wirklich zuverlässig - und nicht bloß durch Postulat - zu erreichen ist, bleibt fraglich. Vielleicht wäre Becker besser beraten gewesen, bei der früheren gemäßigten Auffassung zu bleiben, die den theologisch denkenden Redaktor nicht gleich zum Autor macht. Der Begriff der Propheteninterpretation, als Eigentümlichkeit des Ezechielbuches aufgefaßt, könnte in manchem weiter führen als der mit vielen Mißverständnissen belastete der Pseudoepigraphie. Immerhin muß Becker zugestanden werden, für seine pseudoepigraphische Hypothese um größtmögliche Plausibilität bemüht zu sein. Wenn das Buch nicht später als 450 v. Chr. entstanden sein sollte, dann ist es zwar nicht leicht, aber auch nicht unmöglich, eine emotionale Beschäftigung mit knapp mehr als hundert Jahre zurückliegenden Ereignissen anzunehmen.29 Es ist aber auch auf die Schwierigkeit hinzuweisen, daß für Deuterojesaja die Zerstörung Jerusalems und des Tempels kein Thema mehr zu sein scheint, sowie auf den seltsamen Umstand, daß das Ezechielbuch keine direkte Kritik an den Babyloniern zu äußern wagt und sie nur als Vollstrecker des göttlichen Zornes sieht.

Einem pseudoepigraphischen Ansatz neigt auch Schöpflin zu. Mit der rein fiktiv zu verstehenden autobiographischen Darstellung wolle eine für den anonymen Autor bereits länger zurückliegende Epoche wiedergegeben werden.30

Wie bei einer, zumindest was die historische Greifbarkeit der Person Ezechiels selber betrifft, der pseudoepigrapischen nicht unähnlichen Hypothese die theologische Einheitlichkeit des Buches nachgerade entgleitet, davon gibt der redaktionskritische Ansatz von Garscha und Pohlmann Zeugnis. In Ablehnung eines vorgefaßten Prophetenbildes untersuchen sie die Intentionen des mutmaßlichen Redaktors. Sie kommen dann zu dem Schluß, daß es nicht nur einen, sondern mehrere Redaktoren gegeben haben muß, die aus unterschiedlichen und meist entgegengesetzten Perspektiven gearbeitet haben, indem sie die Interessen unterschiedlicher Gruppen, vor allem die der ersten Golah und der Diaspora, vor Augen hatten.31 Man kann fragen, ob dann gegenüber den späteren Redaktionen das ursprüngliche Prophetenbuch nicht hätte stärker gemacht werden müssen, anstatt es fast dahinter verschwinden zu lassen. Denn so wird nicht mehr deutlich, was die Redaktoren an dem Buch so fesselte, daß sie es mit aller Gewalt auf ihre Seite zu ziehen versuchten, anstatt ein neues zu verfassen. Interessant wäre in dem Sinne die Frage, ob sich ursprüngliche Prophetenworte herausschälen ließen, die noch keine Tendenz zu Gruppenegoismus zu erkennen geben.

Der Aufweis von Spannungen kann wertvoll sein, wenn er die Aussicht auf eine höhere Synthese, in der sie zur Einheit gelangen, steigert. Er wirkt um so unbefriedigender, wenn die Spannungen bloß ins Leere laufen und die Frage nach dem Warum und dem Wozu unbeantwortet lassen. Die Idee einer hundertjährigen Glaubensgeschichte32 ist ein schöner Gedanke, doch wenn die Redaktoren nur gegeneinander geschrieben hätten, fehlte gerade das Entscheidendste daran: das Gemeinsame und Kontinuierliche innerhalb dieses Glaubens. Indes ließe sich dieser Mangel beheben, wenn in Zukunft mehr herausgearbeitet würde, wo die Redaktoren vielleicht aufeinander aufbauen und insofern wirkliche Glaubenserfahrungen statt kollektiver Interessen zum Ausdruck bringen.33

Hossfeld hat seinerseits ein Schichtenmodell versucht, das, von der Literarkritik Zimmerlis ausgehend, doch zugleich darüber hinausgeht, insofern die Fortschreibungsidee mit ihrer Vorstellung einer organischen Entwicklung die Unterscheidung von Schichten nicht unbedingt notwendig macht. Hossfeld rechtfertigt jedoch sein Schichtenmodell mit Seitenblick auf die allzu globale Gegenüberstellung von Ezechiel und seiner Schule.34 Er bezieht dazu auch Parallelen zur deuteronomistischen Literatur und Jeremia mit ein, die Zimmerli noch mit einer größeren Zurückhaltung betrachtet hat.35 Hossfeld gibt interessante Anstöße, wie der Fortschreibungsprozess im Konkreten ausgesehen haben könnte. Um bei den kompositionskritischen Beobachtungen, in deren Verfolg der Text des Ezechielbuches in seiner Endgestalt in erster Linie mit sich selbst verglichen wird, nicht durch vorangehende Festlegungen eingeschränkt zu sein, wird auf das Schichtenmodell im Verlauf der Untersuchung nicht eigens eingegangen werden können. Erst am Ende der Untersuchung könnte überprüft werden, inwieweit die gewonnenen Ergebnisse mit dem Schichtenmodell Hossfelds in Einklang zu bringen sind, wozu in dieser Arbeit selber jedoch kein Raum mehr sein wird. Wertvoll auch für die Beschäftigung mit den Redensarten und ständig im Hinterkopf zu behalten ist Hossfelds Hinweis auf die im Buch waltende Spannung zwischen synchroner Zweiphasigkeit (Verkündigung gegenüber Exilierten bzw. gegenüber Jerusalemern) und diachroner Zweiphasigkeit (Verkündigung vor bzw. nach der Zerstörung Jerusalems).36 Insofern Phase immer schon ein diachroner Begriff ist, soll hier vereinfachend von Zweiphasigkeit (=diachroner Zweiphasigkeit) und Zweigleisigkeit (=synchroner Zweiphasigkeit) gesprochen werden.

 

Alles in Allem, da die diachrone Betrachtung hier nicht erstes Thema ist, darum auch nicht in die entsprechende Diskussion eingestiegen werden kann, soll für die Beherzigung des Kontextes zuerst von Zimmerli ausgegangen werden. Interessante Beobachtungen abweichender Ansätze werden nur hier und da ergänzungsweise herangezogen.37

Der Befund des Ezechielbuches ist doch so verwickelt, daß allzu einseitige und glatte Lösungsvorschläge nicht überzeugen können. Es ist der erlebnismäßigen Nähe zu historischen Ereignissen,38 wie der gleichzeitigen Abstandnahme durch reflektierte Aufarbeitung gleichermaßen Rechnung zu tragen. Das Zusammenspiel von Prophet und Prophetenschule bildet noch immer das natürlichste und ungezwungenste Erklärungsmodell dazu.

Es braucht nicht betont zu werden, daß Zimmerlis Ansatz als Arbeitshypothese und nicht als Dogma zugrunde gelegt wird, wie ihn wahrscheinlich schon der Urheber selbst verstanden hat. Es geht ja nur darum, nach aristotelischem Grundsatz das Bekannte, in diesem Fall den Text in seiner rezipierten Endgestalt, zum Ausgangspunkt zu nehmen, von dem aus vorsichtige Reflexionen über das Unbekannte, nämlich seine Entstehungsgeschichte, angestellt werden. Eine solche Hermeneutik des reflektierten Vertrauens könnte mit einer Hermeneutik des experimentierenden Verdachts, wie man das Verfahren der redaktionskritischen Methode nennen könnte, durchaus in einen fruchtbaren Dialog treten, solange beide Ansätze um ihre Grenze wissen und sich nicht ideologisch vermauern.39