Der erste Landammann der Schweiz

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17 Erinnerungstafel am Stadthaus von Louis d’Affry, angebracht zum 200-Jahr-Jubiläum der Mediation am 10. März 2003.

Am 19. August 1792 bringt der «Vertreter der Anklage der zweiten Sektion des für die Ermittlungen über die Ereignisse vom 10. August eingesetzten Gerichts» schwere Vorwürfe gegen d’Affry Vater vor: «Nach Prüfung der Aussagen der heute von der genannten Sektion des Anklagevertreters gehörten Zeugen ergibt sich, dass am 10. August die im Tuilerienschloss diensttuenden Schweizergarden sowohl mit Artilleriegeschossen als auch mit Schrot und Kugeln auf die Nationalgarde, die Föderierten, die Nationalgendarmerie sowie auf alle anderen Bürger geschossen haben, von denen viele getötet oder verwundet wurden; aus den vom genannten Vertreter erhaltenen Erklärungen und aus dem öffentlichen Aufsehen, das bis zur Demonstration reichte, ergibt sich, dass der Stab des genannten, im Schloss diensttuenden Schweizer Regiments den Befehl zur Eröffnung des Feuers erteilt hat und es die Herren d’Affry, Bachmann und Maillardoz sind, die besagten Schweizern die genannten Befehle erteilt haben. Womit die Geschworenen zu befinden haben, ob die genannten d’Affry, Bachmann und Maillardor [sic] des Feuerbefehls anzuklagen sind. Die Erklärung der Geschworenen lautet auf ja, sie sind anzuklagen.»145


18 Das Haus in Prehl in der Nähe von Murten.

Zehn Tage vor den Septembermassakern scheint für d’Affry alles verloren. Nach revolutionärer Logik stand ihm das gleiche Schicksal bevor wie seinen im September massakrierten Untergebenen, ihm, der alles darangesetzt hatte, die Entfernung der Schweizergarden aus Paris zu verhindern, welche die Nationalversammlung seit Wochen an die Grenzen zu entsenden suchte. Behörden und Presse kennen die Dickköpfigkeit, mit welcher d’Affry und sein Stab das Regiment der Schweizergarden in Paris halten wollten. Liest man den Pressebericht vom 10. August, so droht d’Affry das Schlimmste. Nach ausführlicher Schilderung der Verhaftung «dieses Schweizer Höflings» glauben Les Révolutions de Paris ankündigen zu können, «dass ihm zweifellos der Prozess gemacht werden wird; diesen blutrünstigen Greis darf man nicht aus den Augen lassen», und etwas weiter erfährt man, das Volk habe sich «in das Gefängnis L’Abbaye begeben, um d’Affry seinen hingerichteten Soldaten nachfolgen zu lassen».146 Doch am 29. August kommt der grosse Überraschungscoup; der in Paris ansässige Bankier François Gédéon Jain (1748–1819) aus Morges kann seinem Bruder berichten, dass «am 22. Herr d’Affry verhört wurde; am 23. des Monats wurde er, wie man mir eindeutig versichert, von der Anklage entlastet; ich kenne allerdings Leute, denen das nicht behagt.»147 Zu guter Letzt schreibt er ihm am 6. September, «alle in der Abbaye befindlichen Offiziere und Unteroffiziere der Schweizergarden sind hingerichtet worden, ausser Oberst d’Affry, der vom Volk gerettet und nach Hause gebracht wurde.»148 Was war geschehen? Nach einer allzu einfachen Lesart «wurde Herr d’Affry seines hohen Alters wegen als entlastet erklärt.»149 Haben etwa «seine weissen Haare» allein die künftigen Septembriseurs besänftigen helfen? Oder ist es, weil d’Affry, der am 14. Juli und auch am 10. August krank ist, «durch eine brüske Kehrtwendung der öffentlichen Meinung dem Massaker entkam und in die Schweiz flüchten konnte»?150 Eine zu simple Erklärung! Trotz dem 10. August oder gerade wegen des dadurch ausgelösten Schocks in der Schweiz musste unter allen Umständen das Symbol der französisch-schweizerischen Freundschaft gerettet werden. Zu diesem Zweck trennte die revolutionäre Macht den Fall d’Affry vom übrigen Stab ab, dem die gesamte Verantwortung für die Tragödie auferlegt wurde. Betont wurde überdies die Unschuld der einfachen Soldaten, nicht nur, weil sie immer noch nützlich sein konnten, sondern auch, weil sie aus einem traditionell mit Frankreich befreundeten Volk kamen, wie wenige Monate später der doch alles andere als freundliche Robespierre betonte. Hingegen wurden die beiden Untergebenen des alten Obristen, Bachmann und Maillardoz, erbarmungslos hingerichtet. Ende August wurden die mittlerweile im Dienst der Mächtigen stehenden Zeitungen ersucht, d’Affry positiv darzustellen.151 Da aber dennoch irgendein d’Affry als, und sei es nur virtuelles, Opfer gesucht werden musste, verfiel man auf seinen Sohn Louis, den man als gegenüber der königlichen Familie «aufgeschlossener» porträtierte, der den Schiessbefehl gegeben und dies mit dem Leben zu bezahlen habe.152 So verlieh man Louis d’Affry die Gabe der Allgegenwart und stellte ihn in die vorderste Linie. Fast niemand konnte glauben, dass sich der Sohn d’Affry bereits auf seine Güter zurückgezogen hatte. Ein auf dem Revolutionsaltar geopferter d’Affry, das war, als habe schon sein Vater für seine Haltung genug gebüsst. Am 5. September erfuhren die Nordisten, dass am 1. in Paris «die Instruktion des Prozesses von Herrn Bachmann, Major der Schweizergarden, vor dem Sondergericht begonnen hat»,153 und am 9. September, «Herr d’Affry sei vom Volk gerettet und nach Hause gebracht worden.»154

RETTET DEN SOLDATEN D’AFFRY!

Kaum war die neue Staatsgewalt etabliert, erwies sie sich insofern als würdige Nachfolgerin des verblichenen monarchischen Regimes, als sie keinerlei Interesse daran hatte, mit den Schweizern zu brechen. Wenn schon nicht weniger als vier Deputationen der Pariser Kommune nötig waren, um die Nationalversammlung zur Schaffung eines Gerichts zu zwingen – die Brissot vergeblich bis zur Einrichtung der Convention zu verhindern suchte –, war es durchaus natürlich, dass der Vertreter der Schweizer Interessen in Frankreich Gegenstand aufmerksamer bis intensiver Fürsorge war. Nach der Überlieferung wurde d’Affry am 2. September 1792 im Triumph zu seiner Wohnung getragen von demselben Volk, das an diesem Tag in den Gefängnissen brutal wütete. Diese unglaubliche Randnotiz zu den Septembermassakern wird von ernstzunehmenden Dokumenten bezeugt, so etwa dem Bulletin du tribunal criminel vom 10. August, das zu diesem Thema nichts anderes aussagt, als was im Freispruch vom 18. Oktober nachzulesen ist.155 So fielen die Zeitgenossen zwar nicht über d’Affry her, aber seine erstaunliche Rettung entging ihrer Aufmerksamkeit nicht. Am 3. September 1792 um 11 Uhr morgens, wenige Stunden nach der Hinrichtung des Majors der Schweizergarden, schickte Madame Pacquement Bachmanns Bruder dessen letzten Brief. Die Massaker kommentierte sie so: «Von unserem Seelenzustand spreche ich nicht. Er entspricht dem uns umgebenden Unheil. 6000 [sic] Gefangenen wurden diese Nacht die Köpfe abgeschnitten. Als Einziger entkam Herr d’Affry. Das wütende Volk hat es so gewollt, ohne das Urteil abzuwarten.»156

Was ging an dem berüchtigten 2. September 1792 vor sich? D’Affry verdankte seine Rettung der Staatsraison. Hier ist zu betonen: Eine Beseitigung d’Affrys wäre einem Bruch mit den Schweizer Kantonen gleichgekommen. Die Abtrennung seines Falles vom übrigen Stab trug zur Wahrung der Überreste der mehrhundertjährigen Allianz mit den Eidgenossen und zur Erleichterung der stillschweigenden Entlassung von rund zehn noch in Frankreich stationierten Schweizer Regimentern bei.

Die neu etablierte Staatsmacht wollte den Anschein und den möglichen Rest des Bündnisses mit den Schweizern wahren, und darum versah sie den Freispruch d’Affrys mit besonderem Glanz, um den schädlichen Eindruck der Septembermassaker auf die öffentliche Meinung in der Schweiz zu mildern, gleichzeitig aber auch die fanatischen Revolutionäre zu besänftigen. Ein Grossteil der Soldaten wurde diskret gerettet, die Offiziere wurden augenfällig geopfert, der Regimentsoberst namens der Staatsraison ausgespart und seine Befreiung prompt mit grossem Gepränge verkündet. Am 10. September 1792 präzisierte Lebrun sorgfältig: «Von den 9 oder 10 in Haft befindlichen Schweizer Offizieren war Herr d’Affry der einzige, der verschont blieb und vom jubelnden Volk nach Hause begleitet wurde.»157 Der Fall d’Affry veranschaulicht die Vielschichtigkeit dieser Septembertage. Dass d’Affry unter dem Deckmantel des Vorspiels zum Massaker, des Happy Beginning – wenn man diesen Neologismus zur Beschreibung eines Grossereignisses nutzen darf, das hier seinen Anfang nimmt (und nicht sein Ende findet) –, aus der Conciergerie herauskam, lässt einerseits den Schluss zu, dass die Behörden die Dinge kaum in der Hand hatten. Andererseits ist die Tatsache, dass d’Affry im letzten Moment gerettet wurde, nachdem die Nachricht von seiner Befreiung schon seit einer Woche kursierte, ein Hinweis darauf, dass die provisorischen Behörden mindestens teilweise überrascht wurden. Sie konnten weder die einfachen, in der Abbaye vergessenen Schweizer Soldaten – von denen manche an den Ereignissen vom 10. August gar nicht beteiligt waren – noch die in der Conciergerie inhaftierten Stabsoffiziere retten. Immer vorausgesetzt, dass die neuen Machthaber sie wirklich der Wut des Volkes entziehen wollten.

Doch wie bei Besenval 1790 musste man die Spannungen sich erst legen lassen, ehe am 18. Oktober 1792 das endgültige Urteil gefällt werden konnte. Indem sie den Freispruch d’Affrys um einige Wochen verzögerte, behielt die Regierung der blutjungen Französischen Republik zudem einen d’Affry in der Hand, der ihr gegenüber umso willfähriger war, als er ungeduldig auf die Genehmigung zur Rückkehr in die Schweiz wartete. Der Freispruch vom 18. Oktober, der ihm in aller Ruhe die Heimreise anzutreten erlaubte, besagt, nach Bezeugung von 180 Personen habe d’Affry sein Regiment gar nicht wirklich befehligt. Das Urteil huldigte geradezu jenem, der Grösse und Verfall des Dienstes in Frankreich symbolisierte, und legte den Grundstein zu einer höchst erstaunlichen Biografie. Der als völlig unschuldig anerkannte d’Affry wurde gewissermassen als ein über den Parteien stehender Weiser dargestellt, den das vom ehrwürdigen Staatsdiener erbaute Volk selbst unter seinen Schutz stellte.

 

DIE REAKTION IN DER SCHWEIZ

Der Fall des Obersten der Schweizergarden entfesselte im Patrizierkreis einen Sturm der Entrüstung. Seine scheinbare Haltung erbitterte Henri Meister (1744–1826), dem es am 10. September gelang, Paris zu verlassen, und der in einem Brief vom 21. Baron Zurlauben fragt: «Was halten Sie, M[onsieur], vom Verhalten des M[onsieur] d’Affry? Ich kenne Ihre Meinung.»158 Sehr freundlich dürfte diese nicht gewesen sein, sodass Forestier, der Schatzmeister der Schweizergarden, der am 10. August immerhin einen Sohn verloren hatte, sich dem berühmten Zuger Offizier am 18. September 1792 zu schreiben veranlasst fühlte, er setze sich «allen gegenüber» für d’Affry ein, den er für «untadelig» halte: «Eifersucht und Neid gebären eine ungeheure Verleumdung; wie können Sie, teurer General, angesichts Ihrer Erfahrung mit dieser Wahrheit den Absurditäten über diesen unglücklichen Greis Glauben schenken, die bis zu Ihnen durchgedrungen sind. Wer dem auch nur die geringste Aufmerksamkeit schenkt, verkennt völlig seine Überlegenheit. Glauben Sie mir, seine Seele ist viel zu edel, als dass sie sich so gemein beschmutzen würde. Gewiss verdankt er seine Rettung nur seiner allseitigen Beliebtheit und der Überlegenheit seines Verhaltens. Seien wir vor solchen Absurditäten auf der Hut.»159

Louis d’Affry harrte in seinem Prehler Zufluchtsort der Dinge. Er wusste, dass sich der Vater gegen Wind und Wetter für die Schweiz eingesetzt hatte. In diesem Beispiel würde er die Kraft finden, es ihm zu gegebener Zeit unter völlig anderen Gegebenheiten gleichzutun. So würde er zehn Jahre später die Schweiz der Mediationsakte begründen und aufbauen. Vorderhand aber war wohl der Ruf seiner Familie auf immer ruiniert, weil sich die Vorwürfe gegen seinen Vater zu verfestigen schienen. Durch einen Glücksfall hatten die Schweizer alles Interesse, das schmerzliche und heikle Kapitel vom 10. August 1792 abzuschliessen. Erst während der Restauration wurde es wieder aufgeschlagen. Bis dahin schwieg man sich über d’Affry am besten aus und verhinderte damit gleichzeitig ein Aufheizen der Rolle eines Teils der herrschenden Elite. D’Affry gegenüber übte man sich in der alten Kunst der damnatio memoriae. Man begnügte sich mit der schamhaften Feststellung, der die Schweizer Truppen im Dienste Frankreichs befehligende d’Affry sei im August und September auf offenbar unerklärliche Weise dem Massaker seines Schweizergarderegiments entkommen. Für die d’Affrys war der Augenblick gekommen, sich ein paar Jahre lang möglichst still zu verhalten. Die Freiburger Patrizier vergassen sie trotzdem nicht.

D’Affry wurde eher wegen seiner gemässigten Haltung während der Revolution verurteilt als wegen seiner Nichtteilnahme am 10. August. In diesem Zusammenhang wird übrigens übersehen, dass sowohl der am 2. September massakrierte Oberstleutnant Jean Roch Frédéric de Maillardoz als auch der am 3. September guillotinierte Major Charles Leodegar von Bachmann den König zur Nationalversammlung begleiteten und danach nicht ins Schloss zurückkehrten, um sich an die Spitze ihrer Männer zu stellen. Manche Autoren geben vor, diese seien bei der Ankunft in der Nationalversammlung verhaftet worden, was nicht zutrifft. Desgleichen behaupten sie, diese höheren Offiziere seien verpflichtet gewesen, bei ihrem König zu bleiben. Doch am 20. Juni 1792 waren sie nicht dort, denn da war der König nur von seinen schlimmsten Feinden umgeben. Wenn hingegen der von den französischen Patrioten verabscheute Baron Bachmann als Hauptverantwortlicher für die Verteidigung der Tuilerien galt, so zu Recht. Er drängte den König, Widerstand zu leisten, und verwechselte seine politischen Überzeugungen mit den Interessen seines Landes. Diese hätten ihn zu viel mehr Zurückhaltung in seiner konterrevolutionären Haltung veranlassen sollen.

IM SEPTEMBER 1792 1ST D’AFFRY WIEDER AUF SEINEM POSTEN

Wider alles Erwarten tritt Administrator d’Affry vorübergehend wieder in seine alte Funktion ein, ein Aspekt seiner Laufbahn, der gemeinhin schweigend übergangen wird. Kaum sind die Septembermassaker in der Hauptstadt zu Ende, ist Kriegsminister Servan in einem Schreiben an d’Affry vom 5. September damit einverstanden, dass er seinen Auftrag wieder wahrnimmt: «Ich habe, M[onsieur], den Brief erhalten, mit dem Sie mich am 29. letzten Monats beehrten und der französischen Nation anbieten, noch in Paris zu bleiben, falls man Ihre Anwesenheit für die späteren Vorkehrungen hinsichtlich der Entlassung der Schweizer Regimenter für erforderlich hält. Dieses neue Dienstangebot habe ich eiligst dem Provisorischen Exekutivrat vorgelegt, der ihm zustimmt und mich ermächtigt hat, Sie zu bitten, mit den Personen Ihres Büros weiterhin die Einzelheiten der Administration zu regeln, mit der dieses Büro beauftragt war. Insoweit verlässt sich der Exekutivrat auf den Patriotismus, die Klugheit, den Eifer und die Hingabe, die Sie bei allen Anlässen an den Tag gelegt haben, die Ihnen die Möglichkeit boten, sich um die Belange Frankreichs bei den Schweizer Kantonen zu kümmen. [ ...] Demzufolge wird vorgeschlagen, dass der Kriegsminister ausdrücklich beauftragt wird, Herrn d’Affry zu schreiben, man bitte ihn, mit den sein Büro bildenden Personen weiterzumachen.»160 D’Affry selbst wollte sich möglichst schnell zurückziehen. Am 4. September schreibt Aussenminister Lebrun an den französischen Botschafter in der Schweiz, Barthélemy, und teilt ihm die Befürchtung Frankreichs mit, Bern könnte den österreichischen Truppen ein Durchmarschrecht gewähren, und bittet ihn, der «derzeit versammelten» Tagsatzung «die Absicht der französischen Nation nahezubringen, die glückliche Harmonie aufrechtzuerhalten, die bislang zwischen den beiden Völkern herrschte.»161

Die Rolle d’Affrys ist ein weiteres Mal unklar. Soll er die Rückkehr der Soldaten seines Landes in die Schweiz ermöglichen oder aber ihre Einbeziehung in die neuen Armeen der Republik erleichtern? Das Verbleiben d’Affrys auf seinem Posten scheint allen Parteien recht zu sein. Denn auch aus Schweizer Sicht ist d’Affry im Augenblick unersetzlich. Die am 3. September in Aarau eröffnete ausserordentliche Tagsatzung schickt d’Affry ein Schreiben und beauftragt ihn, «Ihren Aufenthalt in Paris zu verlängern, um sich um das Wohl und den ehrenvollen Abzug aller Schweizer Truppen in Frankreich zu kümmern».162 In Unkenntnis seines momentanen Aufenthaltsorts schickt ihm die Tagsatzung der Schweizer Eidgenossenschaft am 5. September den Abberufungsbefehl für die im Dienste Frankreichs stehenden Schweizer Regimenter einschliesslich der Überreste des Garderegiments. Am 9. September teilt d’Affry Zürich seinen lebhaften Wunsch nach Heimkehr mit. Dies umso schneller, als er am 25. August vom Entlassungsdekret vom 20. Kenntnis erhielt. Er schreibt: «Von diesem Augenblick an war ich der Meinung, dass ich nach Erlöschen aller Funktionen als Generaladministrator und Oberst der Schweizergarden nur noch auf diesbezügliche Gewissheit oder Erklärung wartete, um die Freiheit zur Rückkehr in die Schweiz zu erbitten.»163 Wieder einmal führt d’Affry seine herausragende Funktion ins Feld, um die Freiheit zu erlangen, aber ebenso seinen Gesundheitszustand, um endlich seine Ruhe zu haben. Doch bei aller Erwartung der Heimkehr bleibt er keineswegs untätig. Insbesondere bemüht er sich um die Entfernung der Siegel im Wohnsitz des Schatz- und Quartiermeisters der Schweizergarden.164 Auf seiner 27. Sitzung macht sich der Provisorische Exekutivrat am 12. September die Mühe, sich diesbezüglich zu äussern: «Der Kriegsminister verlas ein Schreiben des Herrn d’Affry, vordem Oberst der Schweizergarden, der hinsichtlich der Entlassungsmassnahmen seine guten Dienste anbietet und darum ersucht, die auf den Registern und Papieren der Regimentsverwaltung sowie an der Kasse angebrachten Siegel möglichst bald zu beseitigen. Der Rat beschliesst, dass der Kriegsminister sich diesbezüglich an die Pariser Kommune sowie an den Allgemeinen Sicherheitsrat der Nationalversammlung wendet.»165 Am 13. September erklärt d’Affry in einem Schreiben an die Tagsatzung in Aarau, er habe «keine Mühe gescheut, um die französische Regierung zu veranlassen, die am schnellsten wirksamen Massnahmen zu treffen, damit die Unglücklichen, die vom Schweizergarderegiment noch übrig sind, geschützt werden und ihre Heimkehr gesichert wird.»166

Seinen Wunsch nach schnellstmöglicher Rückkehr in die Schweiz beantwortet die Tagsatzung mit der Bitte, seinen Aufenthalt in Paris zu verlängern und «sich um das Wohl und den ehrenhaften Abzug aller unserer Truppen in Frankreich ebenso wie all der Schweizer, die sich ihnen anschliessen, zu kümmern».167 Wenigstens kann sich d’Affry dank diesem amtlichen Mandat von dieser Seite her abdecken. Fortan kann ihm niemand mehr vorhalten, er sei in Frankreich, das seinen König abgesetzt hat, geblieben. D’Affry will sich nicht mehr als nötig mit der eben eingesetzten Regierung der Republik einlassen und präzisiert am 21. September in einem Brief nach Freiburg: «Ich fange an, mich für ein paar unselige Überreste des Regiments nützlich zu machen, will mich aber bewusst in nichts einmischen, sondern werde von Herrn de Servan zwei Kommissare der Versammlung erbitten, um die Siegel beim Major, an der Schatztruhe und an den Kontrollbeständen zu entfernen. Sie werden, jeder zu seinem Teil, das Nötige tun.»168 Am 28. September erfährt nunmehr der Kanton Solothurn, dass d’Affry der Frage der Nachfolge Besenvals nicht mehr nachgehen kann: «Meine Gesundheit wird so schwach, dass ich, sobald ich das für das Schweizergarderegiment Nützliche erledigt habe, darum bitten werde, heimkehren und dort die Ruhe finden zu können, derer ich dringendst bedarf.»169

DIE HEIMKEHR VON D’AFFRY VATER IM OKTOBER 1792

Nun ist auch das letzte noch verbliebene Schweizer Regiment, das Zürcher, in guter Form entlassen. Offiziell verbleibt keine Schweizer Truppe mehr in der Republik. D’Affry braucht nur noch zu packen und muss niemandem mehr seine Aufwartung machen. Sobald die Verwaltungsdinge liquidiert sind, verlässt d’Affry am 20. Oktober 1792 Paris, wohin er nie mehr zurückkehrt, und findet eiligst procul negotiis (fern der Angelegenheiten) zu sich selber. Louis d’Affry und seine Schwester reisen am 24. Oktober ab und gesellen sich zu ihrem Vater in Saint-Barthélémy, wo er am 28. erwartet wird.170 Am 30. Oktober finden wir ihn bei seinem Sohn im Schloss der Vogtei d’Echallens, um dort endlich seinen, wie man zu sagen pflegt, wohlverdienten Ruhestand zu geniessen. Am 2. November teilt d’Affry von dort aus dem Staat Freiburg mit, sein Gesundheitszustand gestatte ihm nicht, nach Freiburg zu kommen, und äussert die Hoffnung, dass Ihre Exzellenzen ihn von der Anwesenheit dispensieren.171 Er weiss, dass er in der Stadt der Zähringer nicht gerade willkommen ist. D’Affry kommt nicht nach Freiburg und die Patrizier gehen ihm aus dem Weg. Auch ihm liegt nicht besonders viel daran, sie wiederzusehen. Seine letzten Lebensmonate scheint er friedlich verbracht zu haben, wobei er sich über die Heimkehr seines Enkels Charles freut, nachdem das am Vorabend des 10. August in die Normandie entsandte Detachement der Schweizergarde am 17. September 1792 in Dieppe entlassen wurde.172 Bis zum letzten Atemzug ist d’Affry weitgehend im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten, wie seine Korrespondenz und die Aussage de Forestiers, des Schatzmeisters der einstigen Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fridel Zurlauben bestätigen. Darin beschreibt er seinen letzten Besuch beim einstigen Obersten vor einigen Tagen in dessen Schloss von Saint-Barthélémy, «wo wir den Chef in einem Zustand antrafen, dessen Zerfall trotz aller Kunst Tissots bevorzustehen scheint. Aber er besitzt immer noch seine Fröhlichkeit, seine Geistesruhe und sein volles Gedächtnis.»173 Ein klarer Widerspruch zur Legende eines d’Affry, der sein Leben von allen geächtet und von Gewissensbissen geplagt beendet habe. Anfang Mai erleidet er einen Schlaganfall, aber gegen Ende des Monats scheint sich sein Zustand wieder zu bessern. Am 10. Juni 1793 stirbt er friedlich in seinem Bett, auf den Tag genau zehn Monate nach der schrecklichen Niederlage seines Regiments. Er wird nicht an dem für die d’Affrys reservierten Ort in der Klosterkirche in Freiburg beigesetzt, sondern «in der Pfarrei St-Germain in Assens, Landvogtei d’Echallens, den Kantonen Bern und Freiburg unterstellt.»174 Als Jean Nicolas Elie Danse,175 sein treuer Pariser Mitarbeiter, die Nachricht erfuhr, schrieb er am 21. Juni an Louis d’Affry: «Er starb in der Gewissheit, in seiner Heimat vor allem viele glücklich und nicht wenige undankbar gemacht zu haben. Seine einzige Sorge war, leidend zu sterben, denn den Tod hat er nicht gefürchtet. Gott hat seine Bitte erhört, denn er starb, ohne leiden zu müssen.»176

 

Ein Grabstein an der Mauer der Kirche von Assens im Kanton Waadt ruft den Mann in Erinnerung, der sich diese Beschriftung erbeten hatte: Hic quies. Nach 80 Jahren auf Erden starb ich am 10. Juni 1793 in meinem Schloss Saint-Barthélémy umgeben von meinen Kindern und Enkeln. Gratus exivi. Louis Auguste d’Affry. «Gratus exivi» – was will diese Inschrift genau besagen? Der erste wahrhaft helvetische Botschafter in Frankreich und letzte Oberst der Schweizergarden verblich in Seelenfrieden. Glücklich, gelebt, und zufrieden, seinen Auftrag erfüllt zu haben, sieht er nun furchtlos den Vorhang fallen über einem Leben, das ihm alles in allem viel Abwechslung bot. Sein Sohn wird ihn nur um siebzehn Jahre überleben.

DER EDELMANN VON MURTEN (1792–1802)

VON DEN TUILERIEN NACH PREHL

Das Ableben von Generalleutnant d’Affry befreite seinen Sohn vom Schatten des Kommandeurs. Nun war er voll und ganz Louis d’Affry, wie er fortan genannt wird. Waise war er im doppelten Sinne, denn seit je lebte seine Familie im Spannungsfeld des französisch-schweizerischen Bündnisses. Für den enttäuschten, mittellosen und seiner traditionellen Bezugspunkte beraubten Fünfzigjährigen war es höchste Zeit, auf eigenen Beinen zu stehen. Doch bevor er sich der Welt öffnen konnte, zog sich Louis zunächst auf seine Güter zurück. War der Kanton Freiburg, in den er heimkehrte, auch für die «fetten Kühe» bekannt, so brechen für d’Affry dennoch die Jahre der «mageren» an. Nach dem Tod seines Vaters verkauft Louis das Schloss Saint-Barthélémy und wohnt meist zurückgezogen in seinem Landhaus in Prehl bei Murten. War das Beste am Sohn der Vater gewesen, so war es nun auch das Schlimmste, wenn man sich die Ansichten der Zeitgenossen seiner Kaste zu eigen macht. Der in Freiburg zur persona non grata gewordene Louis nahm eine Wartestellung ein an einem Ort, von dem aus er beobachten konnte, ohne allzu nahe überwacht zu werden. Der Wohnsitz in Prehl entpuppte sich ganz offenkundig als naheliegendes Exil, wo er dafür sorgte, vergessen zu werden. Marius Michaud schreibt: «Bis 1798 verfolgt er dennoch die Entwicklung in Frankreich und in seinem eigenen Land sehr genau. Er spürt, dass sich die Revolution unausweichlich auf das übrige Europa ausbreiten wird.»177

Fred von Diesbach interpretierte d’Affrys Fernbleiben von Freiburg so: «Urplötzlich fand er sich mit allen ihm anhängenden Lasten in der Klemme. Für das, was ihm nun noch an Mitteln blieb, war Saint-Barthélémy zu drückend und zu kostspielig. Er verkaufte das Schloss zwei Jahre später und vergab einen Teil des Mobiliars sowie die Bibliothek, von der wenige Bruchstücke in Waadtländer Familien übrig sind. D’Affry ertrug diese Opfer mit viel Gleichmut und Gelassenheit. Aber er hatte kein Zuhause.»178 Zwar hatte er im Januar 1777 ein Haus in der Rue de la Préfecture179 erworben, aber es war an Emigrierte vermietet. Zuvor hatte sein Vater 1783 den Familienwohnsitz an der Place Notre-Dame verkauft. «Übrig blieben die (ihm über den Vany-Zweig überkommene) Domäne von Givisiez und der kleine Besitz in Prehl zwischen Salvagny und Murten, unweit von Courgevaux. Dort liess er sich nieder.»180 Auf Rosen ist d’Affry offenkundig nicht gebettet. Beim Sturz der Monarchie verlor er seinen Sold als Marschall und seine Pension.

Dennoch war Louis d’Affry nicht zu bedauern. Wie erwähnt, besass er ein Stadthaus in Freiburg.181 Volksnah und knapp bei Kasse, verwaltete Louis d’Affry seinen Besitz mit grosser Sorgfalt. So machte er sich beispielsweise am 14. März 1798 Sorgen um vier Weingärten, die er gemeinsam mit seiner Schwester, «Ehefrau des Bürgers Diesbach», in Aran in der Pfarrei Villette besitzt, die er eiligst bei Glayre, dem Vorsitzenden des Überwachungs- und Polizeikomitees von Lausanne,182 ebenso anmeldet wie ein Häuschen, das sein Winzer bewohnte.

Abgesehen von seinen Nachbarn de Greng und du Loewenberg, Garville und Tessé pflegte Louis nur sehr wenig Umgang mit französischen Emigranten, deren Sitten und Gewohnheiten zu wünschen übrig liessen und die sich im Übrigen auch vor ihm in Acht nahmen. Max von Diesbach dazu: «Wenngleich sich d’Affry dank seiner Bildung und den Beziehungen in der Jugendzeit in dieser gemeinhin eleganten und frivolen Welt gut zurechtfand, war er seiner Umgebung doch durch seinen gesunden Menschenverstand und die Familientradition überlegen, die ihm als Schutz dienten. Zudem hatte ihn die Natur mit einem Herzen gesegnet, das ihn schon für sich allein vor verächtlicher Voreingenommenheit bewahrte.»183 Der glänzende Soldat am Versailler Hof hatte nunmehr einem kleinen Landgutbesitzer Platz gemacht. So lautete das Zeugnis des Memoirenschreibers Norvins:

«Man muss ihn samt Frau und Kindern einmal in ihrem Landhäuschen in Prehl gesehen haben. Man hätte ihn glatt für den Sohn einer Familie von Kleinbauern gehalten. Nie hat mich eine Metamorphose mehr beeindruckt, mich, der sie als ihr Nachbar in Paris so wohlsituiert erlebt hat. Sie nahmen das Dorf ebenso zu Herzen wie vordem die Stadt und den Hof und besassen die grosse Gabe, sich in beiden doch so unterschiedlichen Positionen gleichermassen zurechtzufinden.»184

Mathieu Molé vervollständigte dieses Bild:

«Er besass eine feine Bauernart, gepaart mit viel gesundem Menschenverstand, eine Mischung aus Versailler Höfling und Berner Aristokrat, aus Grandseigneur und altem Soldaten, aus Geniesser und einfachem Schweizer, die aus ihm etwas Besonderes machten.»

Nachdem er den grössten Teil des Lebens unter dem Ancien Régime verbracht hatte, besass er eine stets äusserst würdige und feine Art; als Bourgeois des 19. Jahrhunderts liebte er die Bequemlichkeit im Interieur und war allen gegenüber, auch seinen Untergebenen, stets höflich.

Wie sein Vater entwickelte d’Affry eine schmiegsame und vielgestaltige Persönlichkeit, die Fähigkeit, gleichzeitig mehrere Rollen zu spielen. Aufrichtig den einfachen Freuden zugetan, benahm er sich wie ein «gentleman farmer», den es von Zeit zu Zeit in die Stadt zog. Dennoch kann man nicht umhin zu denken, dass er sich auf seinem Stückchen Land ein wenig isoliert vorkam, zumal sein Sohn Charles schon früh nach der Rückkehr aus Paris den Kanton Freiburg zu verlassen suchte. Es ist behauptet worden, kein d’Affry habe je gegen Frankreich gekämpft. Dennoch gibt es eine Ausnahme. In den in Vincennes geführten «Etats de services successifs de campagnes de Monsieur le comte Charles Philippe d’Affry» (Verzeichnis der Feldzüge des Grafen Charles Philippe d’Affry) ist unter dem 1. Juli 1814 nachzulesen, nach der Entlassung in Dieppe am 1. September 1792 sei Charles d’Affry nach England gegangen. Er kämpfte in Belgien und Italien gegen die Franzosen. Im November 1792 stand er mit General von Diesbach vor Lüttich. Im Mai 1793 trat er als einfacher Kadett ins ungarische Regiment von Erzherzog Anton ein; im Oktober 1793 zum Fähnrich ernannt, wurde er im Januar 1796 Leutnant. Von 1793 bis 1795 kämpfte er in Italien.185 1793 nimmt er an den Kämpfen von Dégo teil, sodann an weiteren, so zum Beispiel am 24. und 27. Juni 1794 am Col de Sept Pain und St. Jacques, an der Schlacht von Loano am 23. November 1795, im Jahre 1796 an den Kämpfen bei Savona sowie an der Überschreitung des Po bei Lodi. Im August 1796 quittierte er den österreichischen Dienst.186