Der erste Landammann der Schweiz

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Drei Jahre sind für Louis d’Affry von der Gegenwart der Frau erfüllt, die fortan seinen heimlichen Herzensgarten besetzt. Doch im Sommer 1785 wird das labile Gleichgewicht, das er in sich errichtet hat, auf eine harte Probe gestellt. Während einer Reise mit seiner jungen Frau in die Schweiz erkrankt Herr de la Briche schwer an Pocken und stirbt in einem Zürcher Hotel. Der schnell unterrichtete Louis d’Affry eilt herbei, um seiner unglücklichen Freundin beizustehen. Er sorgt für sie, tröstet sie und trifft die nötigen Vorkehrungen, damit sie den Ort des Unheils verlassen kann. Adélaïde beschreibt in ihren Memoiren einen Spaziergang bei Sonnenuntergang zu einer Felswand, von der wilde Wasserkaskaden stürzen. Schweigend und gedankenversunken betrachten sie das Naturschauspiel – welch romantische Szene, beruhigend für sie, aufwühlend für ihn! Zunächst bringt er sie ins Landhaus seiner Schwester Madeleine von Diesbach in Courgevaux; um den Anschein zu wahren, begibt er selbst sich zu seiner Familie in Saint-Barthélémy, wo er sie etwas später für etwa zehn Tage willkommen heisst. Sie geniesst die familiäre Atmosphäre, das einfache, stille Leben, ‹die Freundschaft des Grafen Louis [ ], der innerlich froh ist und den seine Verwandten, seine Bauern und jeder anbetet, der sich ihm näherte›. Die wachsende Intensität von Louis’ Gefühlen für sie scheint sie noch nicht wahrzunehmen.

Wieder in Paris, empfängt sie anfänglich nur ihre engsten Freunde, darunter den bis über beide Ohren verliebten Louis d’Affry, der hofft, nunmehr werde sie seine Liebe freier erwidern können. Doch er wird grausam enttäuscht, denn der Graf de Crillon, den sie in ihrer Jugend geliebt hatte, bittet sie um ein Wiedersehen und weckt in ihr erneut Gefühle; in ihrer Not bittet sie d’Affry um Rat. Sosehr er sich bemüht, seinen Kummer zu verhehlen – es gelingt ihm nicht, und schliesslich gehen Adélaïde die Augen auf, und sie provoziert eine für ihn völlig überraschende Aussprache, die zwar nichts ins Lot bringt, aber wenigstens befreiende Wirkung hat. Sie erkennt klar, dass er sie liebt, und welche Grenzen sie seiner Leidenschaft auch unentwegt setzen mag (‹Unter einem kühlen und ruhigen Äussern verbirgt sich in mir ein glühendes Herz und ein sehr lebhafter Kopf›, gesteht er ihr), er zieht es vor, sie zu sehen und zu leiden, um wenigstens in ihrer Gegenwart zu sein. Seine mehrfachen Zeichen uneigennütziger Hingabe rühren sie zutiefst. Zu guter Letzt bremst sie den allzu forschen Grafen de Crillon, und ihre Tür steht jederzeit offen für d’Affry, den Vertrauten, den Ratgeber, den engen Freund, für den sie schliesslich selbst mehr als Freundschaft empfindet. Sie lässt es ihn spüren, und er ist glücklich. Die Jahre 1787/88 bilden den Höhepunkt ihrer Liebesfreundschaft, sodass Louis ihr sogar schreiben kann: ‹Endlich liebt Ihr mich so, wie ich es brauche. [...] Seien wir das ungewöhnliche, aber schlagende Beispiel, dass die Liebe in zwei ehrlichen und empfindsamen Herzen die Tugend nicht zerstört.› Dieses Glück währt indes nicht lange, denn schon Anfang 1790 erobert ein jüngerer und skrupelloserer Mann das Herz von Madame de La Briche, die nunmehr ihrerseits die Stacheln der Leidenschaft erlebt. Für Louis ist dies das Ende eines existenziellen Abschnitts seines Gefühlslebens, der seine Persönlichkeit mit Sicherheit unauslöschlich geprägt hat.»98 Nach der Zeit der Liebesblitze folgte nun der Moment, kriegerische Blitze zu schleudern. Die Revolution katapultierte d’Affry, den Administrator der Schweizer Truppen, ins Rampenlicht und setzte seinen Sohn dem Grauen der immer neuen politischen Turbulenzen aus, ausgerechnet ihn, der zu dieser Zeit nur von Ruhe und Zufriedenheit träumt.

DIE ZEIT DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION99

DIE D’AFFRYS ERLEBEN DIE ANFÄNGE DER REVOLUTION IN VORDERSTER REIHE

Am Vorabend der Revolution bleibt Louis d’Affry keine Gelegenheit mehr, das süsse Pariser Leben zu geniessen. Am 1. April 1788 übernimmt er das Kommando einer Infanteriebrigade in der Franche-Comté im Rahmen der 10. Militärdivision unter dem Oberbefehl von Generalleutnant Graf de Chambert. Gerade will er seinen Posten in Besançon antreten, da beschliesst die Regierung nach dem vorrevolutionären Tag von Tuiles am 7. Juni 1788, ihn mit zwei zur Brigade unter seinem Kommando zusammengefassten Schweizer Regimentern (Sonnenberg und Steiner) zur 11. Division in die Dauphiné zu entsenden, mit dem Ziel, die örtlichen Aufstände einzudämmen und den revolutionären Geist im Keim zu ersticken. Schon im Juni 1788 hatte sich gezeigt, dass man der Truppen nicht mehr sicher sein konnte, sodass die Schweizer nach Grenoble zu Hilfe gerufen werden mussten.100 Auf den Marktplätzen werden die Schweizer weitgehend dazu eingesetzt, die völlig überforderten Polizeiwachen zu unterstützen. Nach dem 28. Juni 1788 zieht das Regiment Sonnenberg in Grenoble ein, wo am 2. Juli 1788 das Regiment Steiner zu ihm stösst.101 D’Affry nimmt seinen Sohn Charles als Adjutanten mit. «Im Fort Barreau errichtete er sein Hauptquartier und befriedete das Land mit mehreren geschickten Manövern. Seine Aufgabe war ungemein schwierig. Zusammenstösse sowohl mit der Menge als auch mit aufrührerischen französischen Einheiten waren an der Tagesordnung. Eine eiserne Hand im Samthandschuh war vonnöten. D’Affry war tolerant und höflich, wusste sich aber zu behaupten. Mal stellte er seine Stärke zur Schau, um sich ihrer nicht bedienen zu müssen, mal gab er nach, um in mehreren erfolgreichen Schritten wieder die Oberhand zu gewinnen.»102 Am 3. Oktober musste das Regiment Steiner den Abmarsch von 200 Mann des Burgunder Regiments decken, «die die Volksmasse nicht weglassen wollte.» Ein anderes Mal wird er von Luckner beauftragt, drei Meilen von Grenoble entfernt den Staatsanwalt von Nogaret zu verhaften, was die Schweizer «nicht ohne Mühe erledigten, da sie mehrfach von Horden von Bauern und Bäuerinnen angegriffen wurden, die sie mit Kolben- und Bajonettstössen zurücktrieben». Im November 1790 wurden Truppenteile zur Grenzkontrolle nach Savoyen entsandt, insbesondere nach Echelles, um den heimlichen Getreideexport zu unterbinden. Am 24. Dezember 1790 schreibt der Syndikus und Generalprokureur an den Verwalter des Distrikts Grenoble, Margot, und bittet ihn, nach Entre-Deux-Guiers zu kommen, wo auf Befehl des Departementdirektoriums eine Schweizer Abteilung lagert, die den Getreideschmuggel mit Savoyen verhindern soll. Er teilt ihm mit, die Bevölkerung und die Behörden der Gemeinde versuchten, «den Schweizern dieser Garnison das Leben schwer zu machen, indem sie ihnen die nötigen Lieferungen verweigern [ ], anstatt die braven Soldaten, die man ihnen geschickt hat, dankbar aufzunehmen». Da «wir wissen, wie wichtig es ist, diese Abteilung an der Grenze zu halten», fordert er ihn auf, den Schweizern alles Nötige zukommen zu lassen.103 Unter diesen problematischen Umständen spielt d’Affry Sohn eine höchst diskrete Rolle. Ganz wie sein Vater schickt er sich an, dem revolutionären Sturm zu trotzen, ohne sich zu exponieren.

Man weiss nicht recht, wer zu Beginn der Revolution tatsächlich das Schweizergarderegiment befehligte, Vater d’Affry oder Major Karl Joseph von Bachmann (1734–1792), denn Baron de Besenval ist seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis kaum noch im Rennen. Ohnehin stirbt er im folgenden Jahr. Um die administrative Seite kümmert sich im Wesentlichen Oberstleutnant Jean-Roch de Maillardoz. Als sich im Spätsommer 1789 der Sturm einigermassen gelegt hat, bemüht sich d’Affry, sein Regiment nicht vorzeitig abziehen zu lassen. Wenn Major Churchill vorbringt, «der alte Graf d’Affry, der den neuen Ideen zuneigt und offenbar zu den Freimaurern gehört, [habe] praktisch das wirkliche Kommando über sein Regiment abgelegt»,104 übersieht er, dass d’Affry seine Funktionen delegiert, aber dennoch über die Elite der Schweizer Truppen in Frankreich die Oberhand behält, denn sie ist sein bester Trumpf. So weigert sich d’Affry, als das Schweizer Regiment von Unruhen erfasst wird, es trotz der «allgemeinen Verwirrung», wie Hauptmann de Loys schreibt, aus Paris abzuziehen.105 D’Affry verfügte über ein engmaschiges Netz familiärer, persönlicher und obrigkeitlicher Beziehungen. Seine ganze Familie wird herangezogen. Sein Sohn Louis, der künftige Landammann, soll als Mittelsmann zwischen ihm und Lafayette gedient haben, der die Nationalgarde befehligt und mit dem er in Briefwechsel tritt, um Befehle «für das Regiment» zu erlangen, während Marquis de Maillardoz, ein Neffe d’Affrys, darauf beharrt, sie persönlich auszuführen.

Alles in allem spielt Louis eine zurückhaltende Rolle. Aus Grenoble zurückgekehrt, nimmt er seinen Dienst bei den Schweizergarden wieder auf, wo er die 2. Kompanie des 2. Bataillons kommandiert. Man glaubt, eine gewisse Enttäuschung zu spüren. Als gewiefter Beobachter immer schwerer zu beherrschender Ereignisse entdramatisiert er, gibt sich aber keiner Täuschung hin. Am 4. November 1789 schreibt er aus Paris an seine Schwester, die Gräfin von Diesbach, nach Courgevaux: «Die Nationalversammlung hat dekretiert, der Besitz des Klerus gehöre der Nation. Das erweckt grosses Aufsehen. Die Nationalversammlung hat den Parlamenten des Königreichs jede weitere Funktion untersagt. Auch das erregt grosses Aufsehen. [...] Über vieles tröste ich mich mit den italienischen Possenreissern hinweg, die die Weltbesten sind, aber wegen Dir und der Meinigen bin ich in grosser Sorge. Radau ist mir verhasst, und ich befinde mich mitten drin», klagt er wenig später. «Ich rauche meine Pfeife und bleibe zu Hause, soviel ich kann. Es regnet in Strömen, und gleich reite ich los. Wir nähern uns der Entscheidung. Noch weiss ich nicht, welche Rolle ich in dem sich abzeichnenden Stück spielen werde.»106 Louis d’Affry scheint sich abwartend zu verhalten. Inzwischen legt er Distanz zwischen sich und Paris und kehrt erst Anfang Oktober 1790 aus dem Urlaub zurück. Am 4. Oktober lässt er seine Schwester wissen, er habe den Vater «im Grunde bei guter Gesundheit, aber doch sehr geschwächt» angetroffen. «Er braucht Ruhe, und ich hoffe, er kann sie sich verschaffen.» Doch noch ist das Schlimmste nicht vorüber. Oberst d’Affry kann fortan allmählich auch auf seinen Enkel Charles Philippe, 3. Graf d’Affry, zählen, der am 7. April 1772 in Freiburg als Freiburger Bürger geboren wurde und 1786 seine militärische Laufbahn als Kadett bei den Schweizergarden beginnt. Dort wird er am 7. April 1787 Fähnrich und danach Adjutant seines Vaters in der Dauphiné (1788/89), am 8. Juni 1789 2. Unterleutnant der Oberstenkompanie, am 22. Mai 1791 1. Unterleutnant der Generalkompanie. Anfang August 1792 wird er sich bei der Lenkung der in die Normandie entsandten Abteilung der Schweizergarden besonders hervortun.

 

DIE UMSTRITTENE ROLLE DER FAMILIE D’AFFRY WÄHREND DER REVOLUTION

Um den Mann, den ein Berner Offizier des Regiments Ernst 1791 «Papa d’Affry» nannte, ranken sich zahlreiche Legenden.107 Eine der hartnäckigsten, die den Beteiligten selbst während der Revolution ergötzte und die er mit Vergnügen kolportierte, ist die vom ruhmreichen, gichtgeplagten alten Trottel, der seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen konnte. Wenn der sieche d’Affry seine Krankheit dazu benutzte, um bei Besuchern Eindruck zu schinden, hatte er sich offenbar Voltaire zum Vorbild genommen. Bis zum letzten Atemzug besass d’Affry weitgehend seine geistige Klarheit, wie Augustin de Forestier, Schatzmeister und Quartiermeister der Schweizergarden, in einem Brief vom 20. Juni 1793 an Beat Fidel Zurlauben bestätigte.108 Der kränkliche Greis verstand es hervorragend, sein Alter und seine Gichtanfälle so zu dosieren, dass er sich nicht kompromittierte oder – neben seinen persönlichen Belangen – seinen Auftrag gefährdete, nämlich die Schweizer Interessen in Frankreich zu verteidigen, kurzum: das französisch-schweizerische Bündnis, die territoriale Integrität und die Neutralität der Eidgenossenschaft inmitten des aufgewühlten Europa zu bewahren. Am 1. April 1791 wurde ihm die schwere Aufgabe übertragen, die Militärdivision von Paris und der Ilede-France zu befehligen. Wie auch immer, 1792 fiel das Alter des Generalleutnants im Verhältnis zur Unersetzlichkeit seiner Persönlichkeit kaum ins Gewicht, war er doch der einzige Schweizer, der die unterschiedlichen Tendenzen, die sowohl Frankreich wie seine Heimat spalteten, zu meistern verstand. In einem Schreiben des französischen Aussenministeriums vom 25. April 1792 (fünf Tage nach der Kriegserklärung an Österreich) wurde vorgeschlagen, «d’Affry zum Marschall Frankreichs zu ernennen und ihm die Administration der Schweizer Regimenter zu übertragen, die gegebenenfalls die Grenzen zu verteidigen haben.»109 So war dieser unersetzliche Freiburger von Versailles praktisch der einzige Schweizer, dem diese höchste Ehre für einen Soldaten zuteil wurde.110

D’AFFRYS ENTSENDUNG NACH HUNINGUE IM JANUAR 1791111

Damals wünschte sich Louis ein Kommando, das seinem Dienstgrad entsprach, wobei er zum Generalleutnant aufzusteigen hoffte, wie er am 12. Januar 1791 von Paris aus seine Schwester wissen liess. Er schrieb: «Die Ungewissheit des Schicksals von Herrn de B[esenval] bedeutet eine grosse Unsicherheit für das meinige. Ich werde mich je nach den Umständen verhalten.» Er reichte seinen Rücktritt aus der 17. Militärdivision ein. Am 9. Dezember 1790 wandte sich der des Stationsdienstes überdrüssige d’Affry an Kriegsminister Du Portail (Duportail) mit der Bitte um Ernennung in der Armee und er erhielt am 1. Januar 1791 die Beauftragung als Brigadegeneral in der XVIII. Militärdivision beim Oberbefehl über die im Departement Haut-Rhin stationierten Truppen. Damit befand er sich am Samstag, 22. Januar 1791, an der Spitze der Militärregierung von Haut-Rhin in Huningue. Er war dem Marquis de Bouillé unterstellt, dessen Hauptquartier sich in Metz befand und der die Rhein- und Mosel-Armeen befehligte. Du Portail empfahl ihm, «dem, was im Ausland geschieht, ebenso viel Aufmerksamkeit zu widmen wie den Grenzvorkommnissen», denn man befürchtete Umtriebe des Grafen von Artois. Bouillé seinerseits arbeitete insgeheim einen Fluchtplan für die königliche Familie nach Osten aus. Ein d’Affry in Huningue bot praktisch die Gewähr, dass sich auf dieser Seite nichts Illegales tat, aber im Fall, dass der König Erfolg gehabt hätte, konnte man sich immer noch auf die Seite des Siegers stellen. Mit der Abriegelung der Grenze zu Basel wurde sichergestellt, dass die Schweiz nicht etwa einen nunmehr verfemten König aufzunehmen brauchte, dessen Anwesenheit das subtile, regimeunabhängige Bündnis der Schweiz mit Frankreich gefährden konnte. Auf gleiche Weise reagierte Basel, als es sich im September 1792 kategorisch weigerte, das im Dienst der Fürsten stehende Regiment Châteauvieux passieren zu lassen. Die Entsendung des Freiburgers auf die französische Grenzseite war für die Basler eine momentane Beruhigung. Am 14. Januar vertraute d’Affry seiner Schwester an: «Ich reise ins Oberelsass ab, dessen Kommando ich innehabe. Die Sache ist heikel.» Fred von Diesbach schrieb dazu: «Als sich Louis d’Affry in Huningue niederlässt und dort sein Hauptquartier aufschlägt, brodelt es in der Region. Ihm obliegt es, die Ordnung aufrechtzuerhalten und gleichzeitig die Grenze zu überwachen. Unverzüglich trifft er seine ersten Massnahmen und schickt in die Grenzdörfer Detachemente, die am Flussufer entlang patrouillieren. Gleichzeitig organisiert er die Nachrichten- und Befehlsübermittlung. Es müssen Unterkünfte, Wachkorps, Küchen bis hin zu Feldlazaretten eingerichtet werden, denn wenn der Soldat beim Einwohner logiert, sind die Einheiten verstreut.»112 Von Amts wegen musste er, wie er Bouillé am 13. Januar 1791 brieflich mitteilte, «sich Übelwollenden widersetzen, deren Umtriebe im Departement Haut-Rhin der Aufrechterhaltung der Ruhe schaden könnten.»113 Augenblicklich stellte er fest, dass die Bewohner «sehr geteilter Meinung» seien und die Garnison «schwach», denn dem königlichen Regiment «mangelt es an Disziplin». Am 23. Januar 1791, einen Tag nach seiner Ankunft, bat er Bouillé um die Entsendung eines Schweizer Regiments. Nun waren damals die Schweizer im Elsass ganz und gar nicht willkommen. Am 13. Oktober erklärte der Strassburger Abgeordnete in der Nationalversammlung, Etienne François Joseph Schwendt, in einem Schreiben an den Kriegsminister, zwar wünsche er sehr wohl die Verstärkung der Garnisonen im Elsass, «um dort die öffentliche Ruhe, die Eintreibung der Steuern und die Einhaltung der Gesetze sicherzustellen», doch sei er der Meinung, «diese weise und vielleicht notwendige Massnahme würde für die Bewohner unheilvoll, wenn diese Garnisonen aus Schweizer Regimentern bestünden, die alle nötigen Handwerker bis hin zu den Marketendern mitbringen und [somit] den ortsansässigen Handwerkern keinerlei Ressourcen bieten.»114

Der Dienst war alles andere als ein Spaziergang. Auf einen Brief vom 28. Januar 1791, in dem sich das Direktorium des Departements Haut-Rhin besorgt zeigte wegen «der Ansammlung gefährlicher Leute in der umliegenden Gegend», antwortete d’Affry, «im Interesse des Landes und seiner Sicherheit» halte er es für «geboten, nicht von den Befehlen von Mr Bouillé abzugehen und ohne dringende Notwendigkeit keinerlei Waffen auszuliefern». Bei gleicher Gelegenheit betonte er, «dass der Patriotismus die Grundlage meines militärischen Vorgehens bildet und ich keine Gelegenheit ungenutzt lasse, dies augenfällig unter Beweis zu stellen».115 Der Basler Peter Ochs bemerkte am 2. Februar 1791 in einem Brief an seinen Freund Meister: «Die Franzosen trauen ihm nicht recht über den Weg. Ich halte ihn im Grunde für einen guten Aristokraten, habe aber keinen Zweifel, dass er stets als seiner Pflicht und seinem Eid treuer Beamter handeln wird.»116 Am 27. Februar 1791 verlangte Louis d’Affry von den Behörden des Departements Haut-Rhin, dass sie den am Rhein gelegenen Gemeinden befehlen, dafür zu sorgen, dass in der Nacht kein Kahn den Fluss überquert.117

LOUIS D’AFFRY VERSUCHT AB DEM FRÜHJAHR 1791, HAUT-RHIN ZU VERLASSEN

Konnte sich d’Affry in Ostfrankreich wirklich auf seinen Sohn verlassen?118 Der Junior fühlte sich in der Umgebung so unwohl, dass Graf Mirabeau schon am 5. Februar 1791 aus Basel schrieb: «Herr d’Affry, unser Nachbar, hat grosse Angst, vor 4 Tagen war er in Colmar, wo er so übel empfangen wurde, dass er unentwegt glaubte, das ganze Elsass sitze ihm im Nacken.»119 Welch ein Unterschied zu seinem Vater, der sich im Übrigen in einem Brief vom 4. Februar 1791 an seine Tochter wegen seines Sohnes beunruhigt zeigte: «Ich habe keine Ahnung, wie die allgemeine und meine Lage in zwei Monaten aussehen werden. Am besten, ich nehme jeden Tag, wie er kommt. Ich hatte Glück, dass sich alles zum Guten wendete, ohne die geringste Sorge. Die habe ich nur wegen der Lage meines Sohnes, die nicht gut ist, aber er hat sie sich gewünscht, er ist tapfer und hat mich bei meinem Weggang vor allem gebeten, wegen der Ereignisse absolut ruhig zu sein.»120 Der mutige, aber keineswegs verwegene Sohn d’Affry fühlte sich in seiner Funktion nicht wohl. Er versuchte, den Posten schnell loszuwerden, während ihm sein Vater, wie er ihn am 29. April hoffen liess, offiziell einen weniger exponierten Posten zu verschaffen suchte, beispielsweise im Departement Nord. Am 18. April vertraute Oberst d’Affry seiner Tochter an: «Mein Sohn ist nicht so stark, wie ich es mir gewünscht hätte, was mich sehr verärgert, aber es ist unmöglich.»121 Dennoch weist die Korrespondenz zwischen Vater und Sohn auf eine tiefe gegenseitige Zuneigung oder auch eine gewisse Komplizenschaft hin. Der Vater zeigte sich aufmerksam, beruhigte ihn nach Kräften und sagte zu ihm ganz offen: «Ihr teilt das Vergnügen, das es mir bereitet, Euch bei mir zu haben in einer recht mühseligen Laufbahn, in der Ihr mich aber entlastet und in die mich starke Motive gezwungen haben.»122 Am 23. Mai 1791 erhielt er von Minister Du Portail eine negative Antwort: «Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass es mir derzeit sehr ungelegen käme, Ihren Herrn Sohn aus dem Departement Haut-Rhin abzuziehen. Seine Talente und seine Umsicht haben ihm die Hochachtung und das Vertrauen der Bürger eingebracht, und es erscheint mir richtig, ihn noch einige Zeit dort zu lassen.»123 Schon am folgenden Tag, am 24. Mai, stellte ihm Vater d’Affry eine Beförderungschance in Aussicht: «Es kann sein, dass Ihr bald Generalleutnant werdet. Falls dieses Glück eintritt, kommt es wesentlich darauf an, ununterbrochen einsatzbereit zu sein. Lasst mich möglichst schnell Eure Wünsche hinsichtlich einer dieser drei Möglichkeiten wissen: eine Division im Elsass, eine an Maas oder Mosel oder eine der meinigen benachbarte.»124 (Generalleutnant wurde er freilich nie, entgegen der Behauptung einiger Autoren.125) Einige Zeit noch musste er an seinem Posten ausharren, trotz seinen mehrfachen Versetzungsgesuchen. Diese Provinz, die den mit den Schweizern im Kontakt stehenden Kaiserlichen gegenüberliegt, musste unbedingt gehalten werden, zumal Graf d’Artois von Turin aus gemeinsam mit Antraigues unter Ausnutzung der Agitation seitens der «princes possessionnés» einen Generalaufstand im Elsass angezettelt hatte.126 François d’Uffleger hält fest, sein Verhalten in Huningue erscheine «verdächtig, während er sich in seine Heimat zurückzieht und von fast niemandem gesehen wird». Uffleger ging hart mit ihm ins Gericht: «Er wagte nichts zu unternehmen, ohne sich vorher mit seiner Schwester, der Gräfin Diesbach, beraten zu haben, die in Paris als geistvolle und zugleich höchst intrigante Frau bekannt ist.»127 Nach der fehlgeschlagenen Flucht der Königsfamilie, an der er offenbar keinerlei Anteil hatte, war seine Anwesenheit an den Pforten Basels nicht mehr von Nutzen. Charles schien noch einige Zeit in der Gegend geblieben zu sein, wenn man Peter Ochs glauben darf, der damals in Paris weilte und am 27. Juli 1791 den Basler Behörden in einem Brief mitteilt: «Gestern sah ich im Lager der Freiwilligen, die sich auf den Weg zur Grenze machen, den jungen d’Affry mit drei anderen Leutnants der Schweizergarden – allesamt in Uniform – rauchen und Bier trinken.»128 Dieser Dickschädel nahm unruhige Zeiten gelassener als sein Vater, wusste seine Schwester Marie: «Mein Bruder Charles, der Älteste in der Familie, hatte eine nicht leichte Art; er war so lebhaft wie mein Grossvater, freilich weniger diplomatisch und militärischer; eine Kleinigkeit konnte ihn aufregen, eine Kleinigkeit beruhigen.»129

 

LOUIS D’AFFRY ZIEHT SICH IM JUNI 1792 ZURÜCK

Nach dem völligen Fehlschlag der Flucht des Königs reichte Louis d’Affry seine Demission ein und erhielt am 1. Juli die schon drei Monate zuvor erbetene Ernennung zum Ersten Gardehauptmann des Schweizergarderegiments. Darum begab sich d’Affry nach Paris, beneidete allerdings gleichzeitig Garville, der in die Schweiz zurückreiste. So vertraute er seiner Schwester am 2. November 1791 von Paris aus an:

«Ich neide ihm sein Schicksal und stöhne übers meinige. Ich halte Wache am Schloss, und was ich dort am besten bewache, ist meine Ecke am häuslichen Feuer, die ich keinem abtrete. Der Winter ist in Paris eingekehrt, von dem Ihr sicherlich in der Schweiz ein Gutteil abbekommt [...]. Tag für Tag erhalten wir recht ungute Nachrichten, aber am heimischen Feuer besänftigt sich alles. Mein Vater ist überlastet. Das spürt er sehr wohl und will dennoch keine Entlastung. Insoweit denken wir nicht gleich.»

Der Sohn schien dem Vater wahrlich keine grosse Hilfe zu sein. Am 17. Februar 1792 gab sich Louis offen fatalistisch:

«Wir geniessen das Glück der Anarchie, aber bei vollem Bewusstsein betrachtet, ist es ein gemeines Glück. Trotzdem hindert es mich an nichts, heute Abend speise ich wie gewohnt in der Stadt. Man gewöhnt sich an alles. Allerdings wäre ich froh, wenn das alles endlich vorbei wäre.»

Am 22. Februar teilte er seiner Schwester mit, «hier wird der Wirrwarr von Tag zu Tag schlimmer». Und stellt ironisch fest, «die Morde vervielfachen sich in Paris, dass es eine wahre Freude ist.» Am Ende drückte er die Hoffnung aus, bald wieder bei der lieben Schwester zu sein: «Gott weiss wann! Ich wünschte, man wendete in Prehl das Heu nicht ohne mich.» Am 7. März 1792 erhielt Brigadegeneral d’Affry gleichzeitig mit Maillardoz das Grosskomturkreuz des Ordens von Saint Louis oder, wie man es damals nennt, den zweiten militärischen Auszeichnungsgrad.130 Und wie üblich unterrichtete er davon am 11. März den Grossrat von Freiburg und empfing dessen Glückwünsche. Zu der Zeit verhielt er sich derart diskret, dass Pierre de Zurich anlässlich seiner Recherchen über Louis d’Affry am 6. Januar 1932 im Historischen Dienst nachfragte, was Louis zwischen dem 29. Juni 1791, als er den Posten in Huningue verliess, um nach Neubreisach zu gehen, und dem 10. August 1792, wo er zum Urlaub in seinem Anwesen in Prehl bei Murten eintraf, denn wohl getrieben haben könnte.131

Am 4. April 1792 verkündete Louis seiner Schwester, sein Vater habe «allerdings noch gesundheitlichen Kummer, der einzig mit seinem Alter zu tun hat. Der Lauf der Dinge und seine Position sind ihm ein Horror. Er möchte alles in der Hand behalten, aber die Ereignisse überrollen ihn.» Höchste Zeit, sich vom Pariser Sumpf zu lösen, schrieb Louis seiner Schwester am 25. April: «Ich habe immer noch vor, am 2. Mai abzureisen, sofern, wie ich hoffe, nichts dazwischenkommt. Ich warte wie auf heissen Kohlen aus Sorge, ich könnte mich nicht auf den Weg machen. [...] Wir befinden uns in einer ernsthaften Krise.» Als er von der ersten französischen Niederlage bei Tournai erfuhr, bedauerte d’Affry am 2. Mai, nicht schon weg zu sein. Am 9. Mai befand er sich immer noch in Paris und «tobt innerlich». Am 16. Mai teilte er seiner Schwester mit, die Nationalversammlung versuche, das Schweizergarderegiment aus Paris zu entfernen: «Ich weiss nicht, wie das alles noch enden wird, bin aber darauf gefasst, dass es für uns bald etwas Neues gibt.»

Der Sohn d’Affry war von den Ereignissen höchst enttäuscht und wurde von ihnen überrollt. Vielleicht begriff er nicht, warum sein Vater unbedingt in Frankreich bleiben wollte, und zweifellos entgingen ihm teilweise auch die Feinheiten seiner Politik. Der Administrator der Schweizer Truppen regelte allein die wesentlichen Aspekte des Frankreichdienstes und schien seinen Sohn nur selten ins Vertrauen zu ziehen, vielleicht aus Angst, ihn zu kompromittieren. Ob er damals grundsätzlich anderer Meinung war als sein Vater, lässt sich nicht sagen. Der zwangsläufig bald ins 19. Jahrhundert eintretende Sohn d’Affry schien den neuen Ideen gegenüber nicht so aufgeschlossen gewesen zu sein wie sein Vater. Wobei man die Modernität des Letzteren auch nicht überbewerten darf.

Zu guter Letzt traf d’Affry Sohn, der es nicht erwarten kann, sich endlich zu «erholen» – sprich, sich auf seine Ländereien zurückzuziehen, um dort über das Unglück seiner Zeit nachzudenken, am 24. Juni 1792 in Freiburg ein.132 Soeben hatten die Revolutionäre den Tuilerienpalast gestürmt und damit gewissermassen die Generalprobe zum 10. Mai geliefert. Wie heiss kündete sich der Sommer in Paris an, und wie strahlend an den Ufern des Murtensees! Louis würde in aller Ruhe heuen können.

DIE D’AFFRYS AM 10. AUGUST 1792

Louis d’Affry verfolgte die letzten Monate der alten Monarchie aus der Ferne, während sein Vater ihrem dramatischen Sturz in vorderster Reihe beiwohnte. Louis, der Sohn des Obristen, und Charles, dessen Enkel, wurden rechtzeitig vom Schauplatz der Ereignisse entfernt. Louis d’Affry hatte Frankreich in der zweiten Maihälfte 1792 verlassen, während sein Sohn Charles am Vorabend des 10. August in die Normandie entsandt wurde. Kein d’Affry fand also den Tod in den Tuilerien. Wie ist es nach den Ereignissen vom 10. August zu verstehen, dass der Regimentsoberst und die übrigen Familienmitglieder, die doch alle wichtige Funktionen im Garderegiment ausübten, nicht als «wahre Patrizier»133 an der Spitze ihrer Truppen starben? Der Vater von Oberst d’Affry, Generalleutnant François d’Affry, hatte beim siegreichen Angriff an der Spitze seines Regiments in der Schlacht von Guastalla am 19. September 1734 den ruhmreichen Heldentod erlitten. Dass seinen Sohn 1792 nicht das gleiche Schicksal ereilte, hätte nicht ins Bild gepasst. Darum galten die d’Affrys, einer nach dem andern, lange Zeit logischerweise als im Kampf gefallen.134 So sehr kam es Revolutionsfreunden wie -feinden gleichermassen anfänglich gelegen, sie für tot auszugeben. Aufseiten der Revolutionäre, die dem Volk den Umfang des, wie es damals hiess, «Verrats» der Schweizer vor Augen führen wollten, ging es gar nicht anders, als deren Chef mit einzubeziehen.135 Auf Schweizer Seite schmälerte das Überleben des Schiffskapitäns den Opfergang der Offiziere. Nach den September-Massakern wurde d’Affry Vater in der Schweizer Presse erneut als gefallen ausgegeben.136


16 Das Stadthaus in Freiburg erwarb Louis d’Affry im Jahr 1777. Es war die offizielle Residenz des ersten Landammanns der Schweiz.

Die Erwähnung des Todes eines d’Affry-Sohns am 10. Mai reichte bis in eine anonyme, maschinenschriftliche Seite im persönlichen Dossier des Generalleutnants d’Affry im Kriegsarchiv in Vincennes hinein.137 Diese Legende hielt sich so hartnäckig, dass sogar der Autor der Notiz über seinen Sohn, der künftige Landammann der Schweiz, berichtete, «von Gefühl und Schmerz über den Verlust eines seiner beim Angriff auf die Tuilerien gefallenen Sohnes gebrochen, zog sich Augustin d’Affry in sein Schloss in Saint-Barthélémy zurück.»138 Nun hatte d’Affry nur zwei Söhne, von denen einer 1782 starb. Der am 4. November 1751 geborene Vicomte Jean Pierre Nicolas Charles Joseph d’Affry war am 15. Juli 1766 als 2. Unterleutnant in der Kompanie Castella ins Regiment der Schweizergarden eingetreten und hatte dann am 12. Oktober in die Generalleutnantskompanie gewechselt.139 Er heiratete mit Ehevertrag vom 4. Oktober 1780140 in Paris die 1763 geborene Adélaïde Louise Perrette Gigot de Garville, die ohne Nachkommen 1799 in Créssier starb; sie war die Tochter von Pierre François Claude Symphorien Gigot de Garville und Marguerite Charlotte Justine Soubeyran.141 Am 16. Januar 1780 erhielt er das Patent als Hauptmann der nach Graf d’Affry fortbestehenden Obristenkompanie des Regiments.142 War er wie geschaffen für das angebliche Opfer des 10. August? Unmöglich, denn er starb am 23. Oktober 1782 in Bern und wurde am 25. Oktober in Freiburg in der Familiengruft der d’Affry im Franziskanerkloster Freiburg beigesetzt.143 Es war also sehr wohl der künftige Landammann, den man für am 10. August 1792 gefallen ausgab. Nun befand sich aber Louis d’Affry während des ganzen Sommers offiziell auf Urlaub am Murtensee, während sein Sohn Charles an einer Eskorte in die Normandie teilnahm. Was Generalleutnant d’Affry anbelangt, so befand er sich am 10. August nicht etwa in den Tuilerien, sondern im von ihm gemieteten Haus von «Pont l’abbé» in der rue des Saint-Pères Nummer 9.144 Vermutlich meinten die Augenzeugen beim Anblick der Ordensbänder von Maillardoz und Bachmann, einer der beiden könne nur der Gardeoberst sein. D’Affry wurde zu seinem Schutz zum Sektionskomitee der Vier Nationen geschickt, wo man ihm riet, sich im Gefängis Abbaye als Gefangener zu stellen. Am selben Abend wurde d’Affry verhaftet, wiederum, um ihn vor dem wütenden Volk zu schützen, und an einen geheimen Ort verbracht.