Der erste Landammann der Schweiz

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Louis Auguste Augustin d’Affry wird mit Ehren überhäuft. So erfahren wir am 26. Juni 1757: «Seine Majestät, in Kenntnis des Eifers und der Klugheit, die der Graf d’Affry, sein ausserordentlicher Gesandter bei den Generalstaaten der Vereinigten Provinzen, unter Beweis gestellt hat, seitdem er sich in Holland befindet, und da seine Dienste eines Zeichens der Zufriedenheit bedürftig erscheinen, hat Seine Majestät ihm die Summe von 4000 Pfund als Jahres- und Witwerpension zuerkannt und geschenkt, die ihm zeit seines Lebens gezahlt werden sollen.»47 Als Auszeichnung für seine Verdienste in Holland gelangt d’Affry 1771 in den Genuss einer weiteren Pension von 3625 Pfund, dazu kommt am 24. November 1771 eine zusätzliche Pension von 6041 Pfund, 13 Sols und 4 Deniers, zahlbar in Paris.48 Am 27. November desselben Jahres vermacht «Seine Majestät, in der Absicht, den Grafen d’Affry, Oberst des Schweizergarderegiments, in Anbetracht sowohl seines Eifers und seiner Dienste, als auch der Hingabe, die seine Vorfahren nacheinander der Krone unter Ausschluss jeglicher anderer Macht seit über zwei Jahrhunderten erwiesen haben, dem genannten Louis d’Affry persönlich und unumkehrbar eine Pension von 10 000 Pfund Silber Frankreichs, die Sie verlieh, unbeschadet der Fonds, die Sie in Solothurn den Schatzmeistern der Schweizer Vereinigungen übergab.»49 Am 15. Januar 1772 hatte ihm der König «die Detailaufgaben eines Generalobersten der Schweizer» anvertraut, «bis Monsieur le Comte d’Artois das Alter erlangt, sie selbst ausüben zu können»; gleichzeitig setzt Ludwig XV. für ihn «eine Sonderzuteilung» für die Dauer der Ausübung dieser Funktion aus. So kann d’Affry über «eine Jahressumme von 24 000 Pfund aus den Kriegsmitteln für den Unterhalt des Schweizergarderegiments» verfügen.50 Eine am 1. September 1779 zu seinen Gunsten ausgesetzte Pension von 16 000 Pfund verschönt seine alten Tage zusätzlich. Zudem gewährt ihm der König ab 1. Januar 1773 «einen jährlichen Betrag von 4 000 Pfund für die Wohnungnahme in Paris».51 Dieses Geld kommt ihm umso gelegener, als seine in der Schweiz verbliebene Frau Schulden über Schulden macht, worüber er sich 1768/69 mehrfach bei seiner Tochter, der Gräfin von Diesbach, beklagt.52 Vater d’Affry hatte eine fälschlicherweise «für sehr reich gehaltene von Alt» geheiratet, erzählt seine Enkelin Marie, die etwas später fortfährt: «Madame d’Affry widmete sich ganz und gar ihrer wohltätigen Neigung; sie machte Schulden, um schenken zu können; aber diese überzogene Grosszügigkeit wurde durch ihre Kinder und Enkelkinder belohnt, die allesamt wohlhabende Ehen eingingen.» Marie geht sogar so weit, aus ihrer Mutter eine Art Sankt Martin zu machen, denn nachdem sie alles verschenkt hatte, «nahm sie Bettvorhänge ab und brachte sie einem Armen, damit er sich daraus eine Kleidung schneidere.»53 Der Administrator der Schweizer Truppen muss sich auch mit dem Treiben seines jüngeren Bruders Jean Pierre54 auseinandersetzen, der, wie uns seine Nichte Marie berichtet, «Mademoiselle de Garville, Tochter eines französichen Financiers, ehelichte, die für sehr reich galt. Mein Onkel war sehr verschwenderisch veranlagt; binnen zweier Jahre zehrte er seine ganze Habe auf, und mein Vater und meine Tante sahen sich gezwungen, seine Schulden zu begleichen.»55 Seine Frau war nicht weniger ausgabefreudig, wie uns ihre Schwägerin belehrt: «Sie war von den Personen, die ihr zu schmeicheln verstanden, so hingerissen, dass sie in keiner Angelegenheit mehr klar sah. Sie starb in Armut.» Hier ist festzustellen, dass die Geschicke der Familie d’Affry lange vor Ausbruch der Französischen Revolution vielfachen Prüfungen ausgesetzt waren.

An Arbeit fehlt es Vater d’Affry jedenfalls nicht. Von Versailles aus erläutert er seiner Tochter am 31. Mai 1759, er habe «ein so ruheloses Dasein, dass mir auch ohne grosse Aufgaben kaum ein Moment für mich bleibt.»56 Ein Blick in die travail du Roi belehrt uns, welche Überzeugungskraft d’Affry besitzt, der die Macht gewonnen hat, Karrieren aufzubauen oder zu zerbrechen und Dynastien von Berufssoldaten in Gang zu setzen.57 In diesen Bänden wird die wahre Macht deutlich, die der Administrator der Schweizer und Graubündner Truppen ausübt, speziell d’Affry zwischen 1772 und 1792. Dank seinen zahlreichen Funktionen in unmittelbarer Umgebung von König und Hof ist d’Affry faktisch, wenn auch nicht de jure, Minister der Schweizerischen Militärangelegenheiten in Frankreich, informeller Botschafter der Schweizer Nation in Frankreich. Die Eidgenossenschaft selber unterhält keinerlei diplomatische Missionen im Ausland. D’Affry, offiziöser Vertreter der Kantone, begnügt sich entgegen einer häufig vertretenen Meinung nicht damit, den immerhin ausschlaggebenden Teil des Bündnisses zu verwalten. Keiner versteht es besser als er, die oft widersprüchlichen Interessen und Ansprüche der Kantone mit dem Willen des Königs und seiner Minister in Übereinstimmung zu bringen. Als Motor der Vereinheitlichung einer nur lose verbundenen Konföderation, die zu der Zeit nicht im Traum daran denkt und es auch technisch nicht vermocht hätte, einen Botschafter zu entsenden, der offiziell im Namen der gesamten Eidgenossenschaft handelte, übt d’Affry diskret, aber wirkungsvoll die Rolle des Vertreters der schweizerischen Interessen in Frankreich aus. Allein die Lektüre der diplomatischen Korrespondenz der die Eidgenossenschaft bildenden Orte mit Frankreich lässt uns die Bedeutung seines Handelns erkennen. D’Affrys Briefwechsel mit dem Tagsatzungskanton Zürich enthält nicht nur militärische Informationen. So ist es beispielsweise d’Affry, der in einem Schreiben vom 23. Dezember 1791 den neuen Botschafter Barthélemy vorstellt, der Ende Januar 1792 in Basel eintrifft.58 Er unterrichtet die Orte über alles, was in Frankreich passiert. Am 19. März 1792 informiert er die Schweizer von den neuesten Veränderungen im Kabinett. Da er professionelles diplomatisches Arbeiten gewohnt ist, eignet er sich in besonderer Weise dazu, seinen Landsleuten verständlich zu machen, was Frankreich ihnen zu sagen hat. Um nur ein Beispiel zu nennen: Als Dumouriez am 27. März 1792 seinen Botschafter in der Schweiz auffordert, den Freiburger Patriziern «die gerechte Erregung der Nation und des Königs wegen ihres übereilten Entwurfs einer Antwort auf die Schreiben der aufrührerischen Fürsten» zu verdeutlichen, antwortet Barthélemy, man solle die Sache lieber über den Grafen d’Affry erledigen, mit dem er vor Übernahme der Botschaft in der Schweiz bewusst zusammengetroffen sei.59 D’Affry ist ein alter Bekannter von Barthélemy, der 1779 beim Grafen d’Artois eine Pension von 2000 Pfund «für die Einkünfte und Bezüge seiner Aufgabe als Generaloberst der Schweizer und Graubündner» locker gemacht hat.60 D’Affry Sohn wird diese wertvolle Beziehung zu seiner Zeit zu nutzen wissen. Barthélemy, der von 1792 bis 1796 in der Schweiz weilte, weiss besser als sonst jemand, wie wenige Staatsmänner die Schweiz besitzt, die in der Lage wären, die Angelegenheiten des Landes insgesamt zu regeln. Als man anlässlich der Consulta einen sucht, muss Barthélemy dazu raten, auf die Karte des Sohnes des so bewährten Mannes zu setzen. Der mit Ehren und Auszeichnungen des Königs überhäufte Graf d’Affry wird gegen Ende des Ancien Régime Gegenstand schweizerischer Eifersüchteleien. Die Tagsatzung verdächtigt ihn des übermässigen Entgegenkommens gegenüber Frankreich, das den Privilegien der Fremdendienst-Regimenter abträglich sei. Sie fordert ihn auf, künftig energischer auf der Aufrechterhaltung dieser Vorteile zu bestehen, ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass sich die Schweizer Positionen in Frankreich völlig unabhängig vom Willen ihres Vertreters unablässig weiter aushöhlen.

DER ERGEBENE SOHN

Ganz wie sein Vater und sein Grossvater beginnt der junge d’Affry 1753 offiziell eine militärische Laufbahn als Kadett der Schweizergarden.61 Gleichzeitig bildet er sich weiter. Als sein Vater von seinem Auftrag in den Niederlanden nach Frankreich zurückkehrt, hat Louis d’Affry sein Studium abgeschlossen. Ohne seinen Vater hätte der junge d’Affry seine glänzende Militärkarriere nicht gemacht. Am 18. Februar 1758 lässt ihn der Vater als ausserplanmässigen Fähnrich in die Oberstenkompanie der Schweizergarden eintreten.62 Eine Gefälligkeit, denn seit dem Vorjahr ist die Zahl der Fahnen auf zwei Bataillone reduziert worden. Es erstaunt nicht, dass der Einfluss von Vater d’Affry immer grösser wird. Manchmal tut er zugunsten seines Sohnes auch des Guten zu viel. In einem Aide-Mémoire, das er Ludwig XV. am 8. März 1761 vorlegt, äussert Graf d’Affry «den angelegentlichen Wunsch, Eure Majestät möge die Güte haben, den Befehl über Seine Oberstleutnant-Kompanie zwischen seinem Neffen, dem Chevalier de Maillardoz, der ihn bereits ausübt, und seinem ältesten Sohn, Sire Louis-François, aufzuteilen, der seit drei Jahren überplanmässiger Fähnrich im Regiment ist und zwei Feldzüge als Adjutant absolviert hat. Der junge Mann ist im 18. Lebensjahr; er ist vielversprechend und man versichert mir, dass er eine Truppe führen kann.»63 Der Rapport stützt sich weitgehend auf die Verdienste des Vaters; «Abwarten» lautet die Marginalie. Der Siebenjährige Krieg liefert Graf d’Affry eine letzte Gelegenheit zum Kampf und Louis eine der seltenen Chancen, sich selbst auszuzeichnen. Der Vater verlässt Holland am 4. Juni 1762 und dient im Bas-Rhin als Generalleutnant. Louis zieht 1759 ins Feld. 1760 befindet er sich in Aire-sur-la-Lys. Anschliessend dient er sich in der Rheinarmee hoch. Er wird Adjutant des Generalleutnants Graf von St. Germain64 und nimmt an den Feldzügen von 1759 bis 1762 in Deutschland im Regiment der Schweizergarden teil. Der Sohn d’Affry setzt seine Karriere im Schatten des Vaters fort, aber die lange Friedenszeit, die nach 1763 einkehrt, bietet ihm keine Möglichkeit, sich im Feld zu bewähren. Am 19. Februar 1766 wird er befehlsführender Hauptmann im Rang eines Obersten, am 6. November 1774 Hauptmann zu Fuss und erhält die Grenadierkompanie von Reynold und am 5. November 1775 nach dem Tod von Rodolphe-Ignace de Castella die der Füsiliere. Am 21. Januar 1772 wird der Befehlshabende Hauptmann der Oberstenkompanie mit dem Ritterkreuz des Königlichen Militärordens von St. Louis ausgezeichnet. Am 5. November 1775 schlägt Graf d’Affry seinen ältesten Sohn zum Hauptmann der Grenadiere vor, damit er die Kompanie von Rodolphe-Ignace de Castella wieder übernehmen kann: «Die Kompanien des Garderegiments sind keinem Kanton zugeordnet, und Seine Majestät besitzt alle Freiheit, sie bei Freiwerden dem Offizier der Schweiz oder eines mit der Schweiz verbündeten Landes zu übertragen, die Seine Majestät für richtig befindet.» Ludwig XVI. nimmt d’Affrys Vorschlag an, womit der Kanton Freiburg eine dritte Kompanie erhält.65 Dennoch muss Louis bis zum 1. März 1780 warten, bis er zum Brigadier ernannt wird, und bis zum 1. Januar 1784, bis ihm der Rang eines Brigadegenerals verliehen wird. Am 30. Mai 1779 erhält er eine Pension von 1000 Pfund aus der königlichen Schatztruhe, wie ihm sein Vater mitteilt, «aufgrund des Berichts, den ich dem König über Eure Verdienste und Eure Anciennität als Hauptmann der Schweizergarden [...] erstattete. Ihr werdet sicherlich das Vergnügen abschätzen können, das ich empfinde, Euch diese Gnade verkünden zu dürfen, und ich beglückwünsche mich dazu, Euch dazu mit verholfen haben zu können.»66 Über Ludwigs «Reifejahre» gibt es wenig Bedeutsames zu berichten. Nach einem Leben entsprechend seines Gesellschaftsstandes verkehrt er in langen Zeiten der Musse in der guten Gesellschaft. Er ist gerade zwanzig Jahre alt, als Frankreich am Ende des Siebenjährigen Krieges in eine lange Friedenszeit auf dem Kontinent eintritt, und als 1792 wieder Krieg ausbricht, beeilt sich Louis d’Affry, in die Schweiz heimzukehren. Beim Antritt seines Urlaubs in Freiburg nimmt er, wie es sich für einen Edelmann seines Zuschnitts gehört, seinen Sitz im Grossen Rat ein.

 

Es überrascht wenig, dass seine militärische Laufbahn ebenso wie seine Ehe vom väterlichen Willen diktiert erscheinen. Im 18. Jahrhundert spielte sich das Gefühlsleben nicht notwendig im familiären Rahmen ab. So ist es kaum erstaunlich, dass weder zwischen Louis’ Eltern noch zwischen ihm und seiner Gemahlin (die Vernunftheirat ist fraglos an der Tagesordnung) besonders tiefe Gefühlsbande zu bestehen scheinen; hingegen weist ein ganzer Briefwechsel auf ein ausgeprägtes geschwisterliches Einvernehmen zwischen Louis und seiner Schwester Madeleine, Gräfin von Diesbach, ebenso auf eine spätere Empfindung des Vaters für seine jüngste Tochter Minette hin. Wann immer ein Heim gegründet werden soll, wenden sich die d’Affrys ihrem Heimatland, der Schweiz, zu. Louis hat sich in ein acht Jahre jüngeres Mädchen verliebt, Louise Charlotte von Diesbach; warum kommt es nicht zu dieser passenden Verbindung? Hat Vater Louis d’Affry eine grosse französische Heirat im Sinn, und hat sich der Sohn widersetzt? Louise Charlotte ist nicht vemögend – vielleicht ist das eine Erklärung. Jedenfalls ehelicht Louis d’Affry am 4. Juni 177067 eine seiner Kusinen, Marie Anne Constantine von Diesbach-Steinbrugg.68 Ghislain von Diesbach meint dazu grimmig: «Die Rasse musste schon ungewöhnlich solide sein, um solcher Inzucht zu trotzen.»69 1771 wird der Sohn Charles geboren, dem zwei Mädchen folgen: Julie 1774 und Elisabeth 1775, und 1779 kommen der zweite Sohn Guillaume und schliesslich 1781 Marie, die Minette gerufen wird. Zu Beginn der Ehe wohnt die gesamte Familie – der Vater, die junge Familie und der zweite Sohn Jean Pierre – im Winter im väterlichen Stadthaus in der Rue du Bac. Sie führen ein spendierfreudiges und prunkvolles Leben. Im Sommer geniessen sie die Landluft von Saint-Barthélémy. Aber in seinen Gefühlen leidet Louis d’Affry weiterhin, denn wie es das Schicksal will, heiratet die Frau, die er liebt, den Bruder seiner Ehefrau, wodurch sie einander wieder näherkommen und ihre Empfindungen neu geweckt werden. Eine Situation wie in einer klassischen Tragödie: Alle Welt ist unglücklich, aber die Ehre ist gerettet. Das Ganze löst sich auf traurige, damals allerdings nicht ungewöhnliche Weise auf: 1773 stirbt Louise Charlotte70 bei der Geburt eines Sohnes.71

Gab es einen verdeckten oder offenen Vater-Sohn-Konflikt? Bildete die unerlaubte Liebe von Louis zu Louise Charlotte den Zankapfel in der Familie? Jedenfalls enthalten zwei Briefe von 1779 Andeutungen von «jugendlichen Verirrungen» und lassen seitens des Sohnes eine Mischung aus Liebe und Furcht erkennen. In einem Brief vom 20. November 1779 aus Saint-Barthélémy erweckt Louis den Anschein, als wolle er sich gegenüber seinem Vater rechtfertigen: «Ich hoffe, dass Euch mein Verhalten seit langem keinen Anlass zur Unzufriedenheit bietet und ich nicht zu befürchten brauche,72 dass Ihr Euch je über mich zu beklagen habt. Die ungestümen Zeiten meiner Jugend sind längst vorbei. Ihr wart so gütig, meine Fehler zu vergessen (die ich korrigiert zu haben glaube),73 und das Unrecht, das ich in meiner Jugend beging, ist wiedergutgemacht (dank Eurer Güte).»74 Der Vater spricht ihm am 9. Dezember 1779 umgehend seine Zuneigung aus: «Ihr wisst, dass ich Euch versprach, gewisse Verirrungen der Jugend voll und ganz zu vergessen, und ich habe Wort gehalten; im Übrigen ist Euer Verhalten in jeder Beziehung gut, seitdem die aufrichtigste Freundschaft und wahre Hochachtung meinerseits an die Stelle der kleinen Unzufriedenheiten getreten sind, die mir die Jugend, der Leichtsinn und Unvorsichtigkeiten verursacht haben mögen, und ich Euch seit mindestens zehn Jahren als meinen Freund ebenso wie als meinen Sohn empfinde.»75 Was für «Unvorsichtigkeiten», welche «Verirrungen»? Belassen wir den Protagonisten das Geheimnis ihrer Meinungsverschiedenheiten.

DIE ROLLE VON LOUIS D’AFFRY WÄHREND DER FREIBURGER UNRUHEN

Der im Wesentlichen oligarchische Stadtstaat Freiburg war eine auf einige wenige alteingesessene Familien beschränkte Gemeindedemokratie. Bis in die 1780er-Jahre hinein, schrieb Fred von Diesbach, «kümmerte sich Louis d’Affry kaum um die Angelegenheiten seiner Geburtsstadt. Seine Pariser Laufbahn nahm ihn vollkommen in Anspruch. Zumal der französische Hof unvergleichlich prächtiger war als die kleine Freiburger Republik [...]. Freilich gab er sein Land weder auf, noch vergass er es. Bislang hatte er das Nötigste unternommen, indem er im Alter von zwanzig Jahren, wie vordem schon sein Vater und Grossvater, sein Bürgerrecht erneuerte und damit zum Mitglied im Rat der Zweihundert ernannt wurde, in dem sein Vater gedanklich in den Reihen der ‹Bürger und souveränen Herren des Banners von Neuveville› sass. Die d’Affrys hatten auch den Besitz des Gebäudes am Place Notre-Dame erneuert, Louis Auguste Augustin d’Affry wurde während seiner Zeit in Holland zum Mitglied des Kriegsrats der Republik ernannt, und 1765 wurde sein Sohn Mitglied des Rats der Sechzig, dem er bis zur Revolution 1798 angehörte. Darauf beschränkten sich die offiziellen Funktionen beider.»76


12 Das Schloss Saint-Barthélémy unweit von Echallens auf einer Ansicht von 1796. Der Stammsitz der Familie der Ehefrau von Louis August Augustin d’Affry, Marie Elisabeth d’Alt, wird Landsitz der Familie d’Affry.


13 Das kleine Schloss der d’Affry in Givisiez, Ansicht aus dem frühen 19. Jahrhundert.

Die Schweizer Kompanien in Frankreich konnten zur Not als Abschreckung auch innenpolitisch wirksam werden. So bat beispielsweise Freiburg am 8. April 1782 den französischen Botschafter, wegen der Unruhen in der Stadt bei Hofe einen Verlängerungsurlaub für die Offiziere zu erwirken, die sich vor Ort befanden. Die Verfügungsgewalt über diese Truppen lag bei Graf d’Affry, der sich bereithielt, die Männer nach Freiburg zu entsenden, die der Stadtregierung nützlich sein konnten. Fürsprech Blanc sagte auf der Consulta: «Einzig die Macht Frankreichs verhinderte Aufstände oder erstickte alle Forderungen, vor allem jene, die 1781 und 1782 gewaltsam ausbrachen, und es wäre äusserst falsch, anzunehmen, die Völker des Kantons hätten sich dem freiwillig ergeben.»77 Die d’Affrys wollten unter keinen Umständen, dass sich die in Freiburg herrschende politische Struktur änderte, wenngleich sie eine Aufwertung der Position des Adels wünschten. Diese herkömmliche Machtverteilung stand allerdings rechtlich auf schwachen Füssen, wie Fürsprech Blanc zwanzig Jahre später betonte: «Die gänzliche Usurpation der Rechte aller durch die Einzelpersonen einiger Familien wurde 1627 entworfen und 1681 endgültig gekrönt. Man glaubte, ein halbes Jahrhundert zuwarten zu müssen, ehe man dieses ungewöhnliche Dekret veröffentlichte, das von Anfang an als Geheimbourgeoisie qualifiziert wurde [ ]. Ab dem Jahre 1681 war das Interesse der Regierenden und der Regierten nicht mehr dasselbe.» Erstere «kümmerten sich nur um die Ausweitung ihrer Privilegien; alles, was der Kanton nach innen und aussen, insbesondere Frankreich, leisten und beschaffen konnte, betrachteten sie als ihr exklusives Eigentum. Gesetzgebung, Handel, Erziehung, Landwirtschaft – alles wurde verächtlich beiseite geschoben; es galt einzig, Positionen und Patriziat, von denen sie lebten, zu wahren und ihre Untertanen daran zu hindern, sich die Mittel zu verschaffen, mit denen sie das erniedrigende Joch hätten abschütteln können; all das stand im Widerspruch zu den Prinzipien, die sich aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entwickeln sollten.»78

Jahrelang wachte Versailles aufmerksam über alle Vorgänge in Freiburg, wie uns Hunderte Seiten von Agentenberichten lehren.79 Vater d’Affry dürfte die wahre Lage im Kanton Freiburg gekannt haben und sich der Anfälligkeit bewusst gewesen sein, die diese Berichte hervorheben, die aber von Amtes wegen ignoriert wurden. Er wusste besser als sonst wer, dass gewisse Reformen unerlässlich waren, wenn man das an den Ufern der Saane geltende Regime erhalten wollte. Sein Sohn würde sich diese Lektion zu Herzen nehmen und in seinem Kanton die Mindestneuerungen durchführen, die es brauchte, um das Regime am Ruder zu halten. Eine erste Gelegenheit dazu bot sich schnell, ganz als handle es sich um einen Probegalopp, mit dem Louis erstmals alle Vorteile aus den Aktivitäten des Vaters zog.

Als die Affäre Chenaux ausbrach (benannt nach dem Greyerzer Aufrührer, der an der Spitze eines Bauernaufstandes beinahe die Stadt Freiburg eingenommen hätte), befand sich Louis d’Affry in Paris. Doch gleich nach der Heimkehr im Mai 1781 «spielt er eine Schlüsselrolle in den anschliessenden Unruhen in der Stadt Freiburg, bei denen sich Adel, Patrizier und gemeine Bürger gegenüberstanden».80 Am 17. Mai 1781 warnte er den Schultheiss und Rat Freiburgs, Fürsprech Castella, einer der Anführer der Verschwörung habe soeben die Franche-Comté durchquert. Sodann stellte er gemeinsam mit anderen jungen Adligen und Patriziern seinen Degen in den Dienst der Republik. Diese als «Messieurs d’Etat» bekannte improvisierte Garde verteidigte, «um jeder Überraschung vorzubeugen»,81 am 12. November 1781 das Rathaus. Dann wechselt d’Affry das Fach. Im Anschluss an die Chenaux-Revolte übernahm er 1781/82 den Vorsitz in den Versammlungen des Adelskorps und intervenierte bei den Mediationskantonen Bern, Luzern und Solothurn. Fred von Diesbach schrieb: «Das Adelskorps, wie man es damals nannte, beriet über die Berufung ihrer Sprecher. Auf diese Weise wurde Louis d’Affry ihr Hauptvertreter kraft seiner bekannten Qualitäten: Erfahrung (er ist schon 38 Jahre alt), Sinn fürs Geschäft, Takt, Mässigung; obwohl nicht in Freiburg anwesend, ging es ihm in dieser Angelegenheit weniger um den Eigennutz als den Adligen, die für gewöhnlich dort wohnten.» Der ihm eingeräumte Rang und die bei diesen heiklen Aufträgen unter Beweis gestellten Fähigkeiten brachten ihm allerdings in einer von Kleinlichkeit geprägten Kaste, aber auch in der Familie allerlei Eifersüchte ein. Sein Neffe Baron Marie François von Alt, Sohn des Schultheissen von Alt, stellt Louis d’Affry in seinen unveröffentlichten Erinnerungen vom Herbst 1792 als «einen ehrlichen Mann, hochmuterfüllt und für eine ruhmreiche Rolle wie geschaffen» dar, der «mit seiner ganzen Süffisanz» an die Spitze des Adels trat.82 Er fügt hinzu: «Sie betrachteten ihn als ihren Retter und waren ihm und seinen Fehlern zugetan, wie Ertrinkende sich an jeden Strohhalm klammern.»83 Fred von Diesbach meinte dazu: «Halten wir von diesem von offenkundiger Böswilligkeit diktierten Urteil lediglich die herausragende Rolle fest, die d’Affry in den Unterhandlungen spielte. Er wusste sich durchzusetzen, und gewillt, sich nützlich zu zeigen, ging er augenblicklich ans Werk.»84 D’Affry nahm an der Versammlung der Adligen Freiburgs teil.85 Angesichts der Böswilligkeit von Schultheiss Werro «schickten die Adligen am 7. Dezember 1781 ihre Vertreter, je zwei pro Familie, zum Grafen von Diesbach-Steinbrugg, d’Affrys Schwiegervater». Die Versammlung, in der 33 Personen tagten, darunter Louis d’Affry und sein Schwager François Pierre von Diesbach, der in die Unterdrückung der Unruhen verwickelt war, zog Bilanz über den Adelsstand und verabschiedete einen Antrag, in dem sie «Gleichheit der Aufteilung der Mandate im Einklang mit der Gerechtigkeit und dem Wohl der Republik forderte».86 Adel und Patrizier beharrten auf ihrer Position. «In dieser eigenartigen Phase der Geschichte Freiburgs» spielte d’Affry «eine beträchtliche Rolle».87 Ihm werden die heikelsten Aufgaben übertragen. So «beschlossen die neunundzwanzig Vertreter der Versammlung der Adligen, als ihnen die Schmähreden, die sich ihre Gegner im Rat der Zweihundert gegen sie erlaubten, zu viel wurden, dem Schultheissen mitzuteilen, bei der nächsten Beleidigung sollte man die Schandmäuler mitten in der Sitzung am Kragen packen, und Louis d’Affry wurde gebeten, dieses sonderbare Ansinnen im Verein mit dem vom sächsischen Hof heimgekehrten Kammerherrn Philippe Griset de Forell auszuführen.»88 D’Affry riet seinen Amtskollegen zu mehr Flexibilität und Diplomatie.

 

Die Verhandlungen89 schlossen am 17. Juli 1782 mit der Unterzeichnung eines «Vertrags» zwischen Adel und Bürgertum in Murten. Der Adel verlor alle ausländischen Titel und erhielt Zugang zu sämtlichen Mandaten. Das Bürgertum sollte fortan diese Titel tragen, als wäre es geadelt worden. «Die Herren haben sich vergöttlicht!», meinte dazu Friedrich II., König von Preussen und Fürst von Neuchâtel. Die «Verordnung bezüglich der Einführung der Gleichstellung der Patrizierfamilien und ihre Titelführung»90 ist ein Musterbeispiel für einen Kompromiss. Ganz im Sinne eines d’Affry. Die Vertragsunterzeichner hatten begriffen, dass «die Feststellung der vollkommenen Gleichheit aller Bürger unserer Hauptstadt, die zur Regierung fähig sind», das einzige Mittel war, «gegenseitiges Vertrauen unter den Bürgern» zu wecken, heisst es in der Präambel. Dennoch: Die Mehrzahl der Forderungen seitens der Landgegend und des ländlichen Bürgertums war abgelehnt worden. 1782 schaffte das der Adel, indem er sich auf das Bürgertum stützte, «dem er sich durch seine Grosszügigkeit und seine freundlichen Manieren sympathisch zu machen verstanden hatte. Erstaunlicherweise behielt der Adel auch dann noch seine Beliebtheit, als er seine Verbündeten und Hilfstruppen im berühmten Vertrag von Murten geopfert hatte.»91 Marius Michaud stellte fest: «Obwohl ihn damals die jedem Entgegenkommen feindseligen Patrizier verfluchten, galt Louis d’Affry in den Augen der Massen als Liberaler.»92 Für den künftigen Staatsmann war es der erste Versuch des «Unternehmens Charme». Auf gleiche Weise verfuhr er in grösserem Umfang 1802/03 anlässlich der Consulta, wo es ihm gelang, einen Grossteil der Vollmachten der Patrizier wiedereinzurichten und zugleich das brave Volk einzulullen. «Wie dem auch sei, Louis d’Affry zog aus dieser politischen Erfahrung gewisse Lehren, die sich für ihn auszahlten. In dieser recht müssigen Debatte, die sich im Grunde um eine Frage des Vorrangs drehte, gewann er Einsichten, die ihm sehr nützlich werden sollten. Er kehrte zu seinem Metier, der militärischen Laufbahn, zurück. Im Herbst 1782 geht er wieder nach Paris.»93 Anlässlich dieser Abmachungen wurde eine Liste der Mitglieder der fünfzehn als adlig anerkannten Familien der Republik verfasst. Auf ihr befanden sich fünf d’Affrys: Louis Auguste Augustin, Louis Auguste und sein Bruder Jean Pierre Nicolas, der wenig später verstarb, sowie die Söhne des künftigen Landammanns, Charles Philippe und Guillaume.94

DER LIEBE PRÜFUNG

Im Herbst 1782 kehrt Louis nach Paris zurück. «Der Vorhang geht auf für eine andere Kulisse, die der Erfahrung der Liebe. Die Präromantik liegt in der Luft. Ein seltsames Gemisch aus Sentimentalität und Vernunft scheint an die Stelle der leichten Sitten der vergangenen Jahrzehnte zu treten. Auch Louis d’Affry entgeht nicht der lieblichen und grausamen Prüfung einer romantischen Liebe.»95 Ghislain von Diesbach erinnert sich, er sei «den Reizen von Madame de La Briche erlegen, die als junges Mädchen im Grafen d’Affry und Botschafter in Holland ein lebhaftes Gefühl erweckt hatte, aber freilich nun zu alt war, um noch Gefallen zu finden. Louis d’Affry hatte mehr Glück als sein Vater, und seine von der Gesellschaft akzeptierte Liaison mit Madame de La Briche machte ihn zu einem Romanhelden ganz nach dem Geschmack der Zeit.»96 Bei aller Diskretion, die die Familienangelegenheiten umgibt, ahnt man eine Rivalität zwischen Vater und Sohn. Überlassen wir das Wort seiner Nachfahrin, die das Thema der d’Affry’schen Liebesabenteuer mit Feingefühl und Vorsicht behandelt. «Bei Beginn seiner Romanze mit Madame de La Briche ist Louis 37 Jahre alt. Sie zählt 27 Lenze und ist mit einem viel älteren Mann verheiratet, mit dem sie eine Vernunftehe schloss, nachdem auch sie eine unglückliche Liebe hinter sich hatte. Ihr Mann kann ihr nicht die Zärtlichkeit geben, die sie braucht, aber das Paar, das ein glänzendes Gesellschaftsleben führt, gehört zum Freundeskreis der d’Affrys. Adélaïde de La Briche betört nicht so sehr durch ihre Schönheit als mit der Fülle ihrer Qualitäten. ‹Sie fällt nicht durch direkten Glanz auf, aber sie bleibt nicht lange unbemerkt. Wem sie auffällt, der fühlt sich zu ihr hingezogen, verfällt alsbald ihrem Charme und beginnt sie zu lieben.› So schildert ihre Schwägerin Madame d’Houdetout die Frau, die Louis’ Herz im Sturm erobert. Natürlich ist er nicht der Einzige, der ihrem Charme erliegt; zudem beherrscht sie, wie später Juliette Récamier, meisterhaft die Kunst, Sehnsucht zu wecken, indem sie sich verweigert, und macht jenen, die sie lieben, deutlich, dass sie ihre Gegenwart – die sie zuvor genossen, ja gesucht hat – nur erlaube, wenn sie niemals die von ihr gesetzten Grenzen überschritten!


14/15 Eine akzeptierte Liaison: Louis d’Affry nach einer Zeichnung von Fouquet, gestochen 1792, zusammen mit seiner Geliebten Adélaïde de la Briche (1755–1844).

Madame de La Briche (1755–1844), geborene Adélaïde Prévost, hinterliess umfangreiche Erinnerungen und eine ebenso grosse Korrespondenz, die Graf Pierre de Zurich in der 1934 in Paris veröffentlichten Biografie verwertet hat.97 Louis d’Affry nimmt darin breiten Raum ein.

Tatsächlich schlittert er in diese Liebesgeschichte, ohne es zu merken. Er begegnet der jungen Frau häufig in den Salons, beobachtet sie und stellt fest, sie sehe traurig aus, sorgt sich darum und wagt es eines Abends, sie zu fragen, ob sie etwas bedrücke. Sie verneint, er dringt nicht weiter in sie, aber sein aufmerksames Mitgefühl hat sie angerührt. Durch diesen Vorfall gehen ihm die Augen auf: ‹Schon liebte ich sie, aber ich war mein einziger Vertrauter›, schreibt er in sein Tagebuch, das er ihr eines Tages schenkt und das Pierre de Zurich in den Archiven der Familie Barante fand. Von nun an sucht er möglichst oft ihre Gegenwart, ohne ihr freilich die Art seiner Gefühle zu gestehen.