Der erste Landammann der Schweiz

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

IM SCHATTEN DES VATERS

EINE FREIBURGER ADELSFAMILIE IM DIENST DER SCHWEIZERISCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN

Geschichtsschreibung kann je nach Epoche und Zeitgeschmack heissen: verdunkeln, wo etwas stört, oder aufhellen, wo etwas nützt, unabhängig von den historischen Fakten. Wenige Autoren haben sich in der Vergangenheit mit den d’Affrys befasst. Der letzte Kommandant des ersten Korps der «befreundeten und verbündeten Nation» blieb ebenso verkannt wie sein Sohn, der erste Landammann der Schweiz. Woher rührt dieser Mangel an Publizität? Er liegt in der Geschichte der Familie begründet. Ungewöhnlich ist die Dynastie der d’Affrys wegen der Funktionen, die sie nacheinander wahrnahmen und die in der Geschichte unseres Volkes ihresgleichen suchen. Louis Auguste Augustin d’Affry (1713–1793) war der einzige Schweizer, der das Amt des Administrators der schweizerischen Truppen in Frankreich so lange und in einem entscheidenden Augenblick der Geschichte Frankreichs ausgeübt hatte. Ebenso fiel es seinem Sohn Louis d’Affry (1743–1810) zu, die Grundlagen für die Neuregelung anhand der Mediationsakte von 1803 des Ersten Konsuls zu legen – eine Aufgabe, die sich anderen Landammännern nicht stellte.


1 Porträt von Louis d’Affry, nach seinem Tod geschaffen.

Die Familie d’Affry ist in der Schweiz seit über einem Jahrhundert ausgestorben, ihre Archive aber sind fast vollständig erhalten geblieben. Dennoch hat sich bislang niemand ernsthaft die Mühe gemacht, sich in sie zu vertiefen und eine erschöpfende Darstellung der beiden geschichtlichen Hauptgestalten dieser Familie zu erarbeiten. Der Grund dafür lag offenbar in der umstrittenen Rolle, die Louis Auguste Augustin d’Affry, der Vater des späteren Landammanns, gespielt hat. Der Vater war unter Ludwig XVI. informeller Botschafter des Corps helvétique in Frankreich. Niemand verstand es besser als er, die oft widersprüchlichen Interessen und Ansprüche der Kantone mit dem Willen des Königs und seiner Minister in Einklang zu bringen. Besser als sonst jemand brachte er es fertig, die französischen Anliegen seinem Land und umgekehrt die seines Landes Frankreich diskret zu vermitteln. Das hatte zur Folge, dass er oft als zögerlich erschien und immer wieder gute Miene zum bösen Spiel machen musste. Wobei ihm das Spielen im Blut lag: Seine Nachfahrin Adèle d’Affry, ihres Zeichens Bildhauerin unter dem Pseudonym Marcello, schreibt in ihren Memoiren, ihr «Ahnherr trat in Sceaux bei der Herzogin du Maine in Anwesenheit von Madame de Deffand als Komödiant auf. Diesem Vergnügen musste er aber entsagen, sich zu seinem Vater begeben und unter seinem Befehl den Italienfeldzug mitmachen.»1 Vater d’Affry gestaltete sein Leben als Theaterstück. Aus unseren Recherchen ergibt sich die ganze Vielschichtigkeit eines Mannes, der mithilfe des französisch-schweizerischen Bündnisses vor allem das Überleben der Eidgenossenschaft zu bewahren suchte. Dennoch muss seine Persönlichkeit auf die Verfechter des Wahlspruchs «Ehre und Treue» – die eine einseitige und an Heiligenverehrung grenzende Auffassung vom Militärdienst in Frankreich haben – gelinde gesagt verwirrend wirken. In der Freiburger Historiografie hat sich im Übrigen das Bild einer Familie festgesetzt, die Frankreich bedingungslos ergeben ist.2 Zweihundert Jahre nach der Mediationsakte soll sich die vorliegende Studie mit der Persönlichkeit von Louis d’Affry befassen, dem Mann, der in der Dynastie den höchsten Rang erreicht hat. Bis zum Tod des Vaters im Jahr 1793 lebte Louis in dessen Schatten. Er setzte dessen Werk fort, und auf seinen Schultern lastete ein schweres Erbe. Beim Tod des Vaters ist Louis fünfzig Jahre alt und hat nur noch siebzehn Lebensjahre vor sich. Ohne die unter dem Ancien Régime gewonnenen Erfahrungen und Kenntnisse hätte Louis d’Affry niemals die Rolle übernehmen können, die ihm Napoleon Bonaparte 1803 zuwies. Mit Letzterem setzte er die pragmatische Politik fort, die sein Vater begonnen hatte. Einem König, der das stillschweigende Einigungsprinzip für die Schweizer Kantone personifizierte, stand ein langjähriger Landammann als privilegierter Mittler zwischen Kantonen und König gegenüber, und diese Rolle spielte Vater d’Affry hingebungsvoll. Napoleon als ausgewiesener Mediator der Eidgenossenschaft hatte einen Landammann zum Partner, der in Frankreich als Sprecher der Schweizer und in der Schweiz als Sprecher der Franzosen auftrat – ein makelloser Mittler ohne Fehl und Tadel, wie es d’Affry Sohn, der bevorzugte Gesprächspartner der Franzosen, war. Die Geschichte der d’Affrys, Vater wie Sohn, veranschaulicht die lange französische diplomatische Suche nach einem einzigen Gesprächspartner in einer Schweiz, deren Exekutivorgane traditionell weit verzweigt, aber dennoch einigermassen handlich sind. Das Frankreich des 18. Jahrhunderts träumt von einem Präsidenten der Eidgenossenschaft mit eingeschränkten Vollmachten. Den Schweizern der damaligen Zeit graute es noch vor dieser Vorstellung.


2 Ansicht der Stadt Freiburg Ende des 18. Jahrhunderts nach Emmanuel Curty.


3 Das grosse Schloss der d’Affry in Givisiez ausserhalb von Freiburg ist um 1539 erbaut worden. Es ist heute eine Altersresidenz.

Die Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz sind durch eine grosse Besonderheit gekennzeichnet: Jeder verdankt dem andern derart viel, dass wir vielleicht die Erinnerung daran scheuen. Ist der gewichtige Beitrag des Auslands zum Bau unserer eidgenössischen Geschichte auch der rote Faden unserer Nationswerdung, so verschweigen wir ihn doch gerne. Dennoch lag die Neutralisierung eines natürlichen Raums zwischen Rhein und Rhône, Alpen und Jura schon seit dem 13./14. Jahrhundert im Interesse aller europäischen Grossmächte – insbesondere Frankreichs. Lange bevor sich Napoleon Bonaparte den Titel zulegte, übten die Könige Frankreichs die Rolle von Mediatoren in der Eidgenossenschaft aus. Doch an der Wende zum 19. Jahrhundert reiht sich in der Schweiz eine Gründungsetappe an die andere. Der Vertrag von Lunéville vom 9. Februar 18013 ist ein aussergewöhnlicher Augenblick in der Existenz der Schweiz, der sich durchaus mit dem Westfälischen Frieden vergleichen lässt. Hatte der Vertrag von 1648 dank der guten Dienste Frankreichs die Eidgenossenschaft vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation faktisch getrennt, so musste sich Österreich mit dem Frieden von Lunéville endlich dazu bequemen, die Unabhängigkeit der Schweiz in aller Form anzuerkennen. Es ist offensichtlich, dass der «General Erster Konsul» damit in der Eidgenossenschaft das Werk zu Ende führte, das die französischen Könige schon mit dem Westfälischen Frieden in Angriff genommen hatten, der zwar nicht die Unabhängigkeit der Schweiz anerkannte, die Frankreich im Sinne hatte, aber doch eine fast völlige Freiheit und Herausnahme aus dem Reich bewirkte. Tatsächlich ging mit der Revolutionszeit und ihren Folgen das offizielle Ende des österreichischen Einflusses auf Schweizer Boden einher: Abschaffung der verbliebenen Hoheitsrechte des Reiches über die Klöster und Bischöfe, Eingliederung des Fricktals und der österreichischen Enklaven des Fürstentums Tarasp im Unterengadin und der Baronie von Rhäzüns in die Schweiz. Die schon 1648 faktisch erreichte Lostrennung war endlich auch de jure besiegelt.


4 Guillaume d’Affry (1425–1493).

WURZELN UND FAMILIÄRES UMFELD

Die Familie d’Affry stammt aus Avry-sur-Matran im Kanton Freiburg und nicht etwa, wie der Dictionnaire historique de la Suisse4 irrtümlich vermerkt, aus Avry-devant-Pont. Seitdem sich Guillaume d’Affry 1476 in der Verteidigung Murtens gegen die Heere Karls des Kühnen hervorgetan hatte, ist der Bekanntheitsgrad der Familie unablässig gestiegen. In seinem Adelsbuch des Schweizer Militärs schreibt Abbé Girard 1787 über die Familie d’Affry, «man zählt sie zu Recht zu den erlauchtesten der Schweiz»,5 «den ältesten Häusern Freiburgs», die über eine «lange militärische Erbfolge»6 verfüge, denn schon seit dem 16. Jahrhundert waren die Geschicke der d’Affrys mit dem Dienst in Frankreich verwoben. Louis Auguste Philippe d’Affry war ein Nachfahre von drei Freiburger Schultheissen, Louis und François d’Affry und Peterman de Praroman, und eines Schultheissen von Solothurn, Wilhelm von Steinbrugg, sowie zweier Gouverneure von Neuenburg. Beaujon, Genealoge der Orden des Königs, wird am 8. April 1766 über diese Familie sagen, ihr eigne «vor allem der in diesem Volk seltene und vielleicht einmalige Vorteil, seit 230 Jahren ununterbrochen für Frankreich die Waffen getragen und niemals einer anderen Macht gedient zu haben.»7 Louis Nicolas Hyacinthe Chérin, Genealoge der Orden des Königs von 1787 bis 1790, schreibt seinerseits, «das Haus d’Affry im Kanton Freiburg in der Schweiz ist seit 1181 bekannt und hat sich seit 244 Jahren durch steten Dienst um Frankreich verdient gemacht».8 Nach der zur besonderen Auszeichnung verliehenen Ehrenwürde als Staats- und Kriegsrat im Jahre 1756 bescheinigt der Staat Freiburg am 15. November 1760 «die Anciennität des Hauses» und erklärt, «die Familie zählt zu jenen, denen die Republik den Adelsstand einräumt».9

 


5 François Pierre d’Affry (1667–1734).

Schon ab Ende des 17. Jahrhunderts dienten die d’Affrys Frankreich in sehr hohem Rang. François-Pierre d’Affry, geboren am 6. Mai 1620 in Freiburg, tritt 1648 im Rang eines Leutnants der Kompanie von Praroman in die Schweizergarden ein und wird 1659 Hauptmann einer Kompanie im Dienste Frankreichs. 1666 erhält er eine Freikompanie, danach wird er von 1670 bis 1679 und von 1682 bis 1686 Gouverneur von Neuenburg. Der Vater von sieben Kindern stirbt am 14. Mai 1690.10 Sein Sohn François Pierre Joseph d’Affry (1667–1734)11 trat sechzehnjährig als Kadett dem Regiment der Schweizergarden bei. Er wird Major im Regiment von Surbeck, sodann Oberstleutnant im Regiment Braendlé, Oberst im Regiment Greder, schliesslich Generaladjudant des Herzogs von Burgund und befehligt dann endlich ein Regiment, das seinen Namen trägt. Nach der Aufteilung der Güter seines Vaters in Freiburg am 8. Juli 1699 wird er Eigentümer der in Granges und Freiburg (Place Notre-Dame) gelegenen Häuser und der Hälfte der Wälder und Zehnten von Givisiez und Granges.12 Am 31. Juli 1700 ehelicht er Marie Madeleine von Diesbach-Steinbrugg (1678–1755),13 Tochter von Jean Frédéric von Diesbach, Bürger von Freiburg, und Marie Elisabeth von Steinbrugg aus Solothurn.


6 Der Vater des Landammanns: Louis Auguste Augustin d’Affry (1713–1793), Oberst der Schweizergarde in Paris und Gesandter von König Ludwig XV. in den Niederlanden.

1719 wird er zum Maréchal de Camp (Brigadegeneral) ernannt und dient unter Luxembourg und de Villars. Bei Beginn des polnischen Erbfolgekriegs wird er am 1. August 1734 Generalleutnant der Königlichen Armeen und nimmt an der Seite des Königs von Sardinien am Italienfeldzug gegen die Kaiserlichen teil. Am 19. September 1734 fällt François Pierre d’Affry «beim letzten Sturmangriff in der Schlacht von Guastalla, der weitgehend den Sieg in dieser Schlacht bewirkte», wie sein Sohn feststellt.14 Am 20. September wird er in der Kollegkirche St-Pierre von Guastalla beigesetzt.15


7 Marie Elisabeth d’Alt (1714–1777), Gattin von Louis Auguste.

LEHRJAHRE

EINE BEISPIELHAFTE MILITÄRISCHE LAUFBAHN

Man kann sich dem Leben des künftigen Ersten Landammanns nicht zuwenden, ohne zuvor die herausragende Persönlichkeit seines Vaters zu beleuchten. Manchmal wurden die beiden verwechselt, weil ihre Vornamen so ähnlich klingen. Einige Vornamen wiederholen sich in dieser Familie, so etwa Guillaume, Louis oder François. Man begegnet ihnen schon im 15. Jahrhundert, noch ehe sie in Frankreichs Dienst eintreten. Dennoch darf man annehmen, dass die Wahl des Vornamens Louis 1713 für den Vater und 1743 für den Sohn nicht nur in der Familientradition begründet war, sondern auch eine Hommage an die Könige von Frankreich sein sollte.



8/9 François Pierre von Diesbach-Torny und seine Ehefrau Madeleine d’Affry, Schwester von Louis d’Affry.

Der am 28. August 1713 unter dem Versailler Ludwig XIV. geborene Louis Auguste Augustin d’Affry,16 erster Graf d’Affry, ist der Sohn des Brigadegenerals in Frankreich, François Pierre d’Affry, mit Marie Madeleine Alexis von Diesbach-Steinbrugg. Er macht eine aussergewöhnliche militärische Karriere.17 Am 15. April 1725 tritt er zwölfjährig als Kadett ins Regiment der Schweizergarden ein und erlebt einen schnellen Aufstieg: 1729 wird er Fähnrich, im Februar 1733 Hauptmann der Obristenkompanie des Regiments d’Affry, am 21. Januar 1734 Hauptmann zu Fuss bei den Schweizergarden. Er nimmt an zahlreichen Feldzügen und Schlachten teil. 1733 ist er bei der Belagerung der Festung Kiel dabei. Während des polnischen Erbfolgekriegs befindet er sich in Italien beim Angriff auf Colorno, bei den Schlachten von Parma und Guastalla. Am 3. Oktober 1734 übernimmt er das durch den Tod seines Vaters frei gewordene Kommando über die Halbkompanie der Schweizergarden und die Kompanie des Regiments Wittmer. Am 21. Mai 1740 zum Ritter von Saint-Louis ernannt, nimmt er am österreichischen Erbfolgekrieg teil, kämpft am 27. Juni 1743 in Dettingen. Am 2. Mai 1744 wird er zum Brigadier ernannt, befehligt 1745 ein Bataillon der Schweizergarden, ist bei der Belagerung von Tournai und der Schlacht von Fontenoy dabei, wo er das erste Gardebataillon befehligt, und wird am 11. April 1746 zum Oberstleutnant befördert. Am 16. Juli 1745 wird der damalige Gardehauptmann und Brigadier für eine Pension vorgeschlagen: «Ein sehr verdienter und mutiger Offizier. Er befehligte das Regiment in der Schlacht von Fontenoy und zeichnete sich dabei besonders aus.»18 Schon verkehrt d’Affry mit Literaten und ist mit Voltaire gut bekannt, der ihm 1745 ein Exemplar seiner Bataille de Fontenoy schenkt.19 Anstelle von Jean Henry de Salis20 wird vom Fürsten des Dombes, Sohn des Herzogs von Maine, «als die Position des Oberstleutnants durch Rücktritt des Sieur de Bachmann wegen Dienstunfähigkeit frei geworden ist, dem König der Lagerhauptmann Sieur d’Affry als Ersatz vorgeschlagen, obwohl dieser in der Anciennität dem Sieur de Salis nachsteht».21 Er nimmt in der Eigenschaft als Brigadegeneral, die ihm am 1. Januar 1748 verliehen wurde, an der Belagerung von Maastricht teil. Nun erlangt er am 1. Mai 1758 den Grad eines Generalleutnants. 1759 ernennt ihn Ludwig XV. zum Botschafter bei den Generalstaaten der Vereinigten Provinzen; diese Funktion übt d’Affry bis 1762 aus. Anschliessend wird er im Rang eines Generalleutnants zur Hessen-Armee entsandt, wo er seinen Ruf uneingeschränkt wahrt.22 Er begnügt sich mit dem Höflichkeitstitel eines Grafen, der, wie bei Nichttitelträgern üblich, mit der Ernennung zum Botschafter einhergeht.23 Der Adelsstand war d’Affry durch Freiburg am 15. November 1760 zuerkannt worden.24 A. Daguet zufolge «hätte d’Affry mehr als Louis Pfyffer den Titel als König der Schweizer im Dienste Frankreichs verdient.»25 Darauf bedacht, die ohnehin schon das Gleichgewicht des Corps helvétique störende Macht Berns nicht noch weiter zu verstärken, wacht d’Affry über die Belange des Freiburger Gegengewichts. So übermittelt er beispielsweise 1767 nach Choiseul die Freiburger Befürchtungen wegen einer möglichen Einverleibung von Neuchâtel und Valangin, weil diese eine vollständige Einkreisung des Kantons Freiburg zur Folge hätte.26 Mit der Ernennung zum Administrator der Schweizer und Graubündner Truppen erlangt er 1771 die denkbar höchste Würde, die einem Schweizer zuteil werden kann. Am 22. Dezember 1771 vertraut ihm Ludwig XV. die Administration im Rang eines Generalobersten der Schweizer für die Dauer der Minderjährigkeit des Grafen von Artois an.27 In Ausübung dieser Eigenschaft als Generaladministrator der Schweizer und Graubündner dient er von 1775 bis 1789 dem Grafen von Artois als «Berater und Stellvertreter».28 Tatsächlich wollte sich der Bruder des Königs nicht mit einer schweren Aufgabe belasten und begnügte sich mit der Unterzeichnung der Vorlagen, inspizierte auch einmal im April 1773 das Schweizergarderegiment in seiner Kaserne in Courbevoie29 und nahm einmal jährlich dessen Parade in der Sablons-Ebene ab.30


10 Courgevaux, Landsitz der von Diesbach, 1796.

Louis Auguste Augustin wird am 22. März 1776 in die Akademie für Architektur aufgenommen. Den Höhepunkt seines Ruhms erreicht er im Jahrzehnt vor der Revolution, das sich für den angesehenen Schweizer Soldaten ungemein segensreich anlässt. May de Romainmôtier zufolge war er der einzige Schweizer, der je das «Blaue Band»31 des Ordens vom Heiligen Geist erhielt; dies geschah am 1. Januar 1784 in der königlichen Kapelle von Versailles.32


11 Brief von Louis d’Affry an seine Schwester Madeleine vom 3. Februar 1803 anlässlich der Consulta in Paris.

KINDHEIT IN FREIBURG, JUGEND IN PARIS

Louis Auguste Augustin d’Affry ehelicht mit Vereinbarung vom 2. Juli 1738 Marie Elisabeth Françoise, Baronin von Alt (1714–1777), Dame de Saint-Barthélémy und Prévondavaux, Tochter eines Regimentsobersten im Dienst des Königs von Sardinien, Joseph Prothais, Baron von Alt von Prévondavaux aus Freiburg, und Marie Françoise de Malliard. Damit wird d’Affry Herr von Prévondavaux, Brétigny und Saint-Barthélémy in der Vogtei Echallens, der Güter also, die seine Gemahlin als Mitgift einbrachte.33 Das Schloss von Prévondavaux wird am 21. Januar 1779 verkauft. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor: Marie Madeleine (1739–1822), die 1762 François Pierre, Fürst von Diesbach Torny, heiratet, der im vorliegenden Buch behandelte Louis sowie ein zweiter Sohn, Jean Pierre (1751–1782), der, was in der Familie selten ist, eine Französin ehelicht: Adélaïde de Garville.

Am 8. Februar 1743 erblickt Louis Auguste Philippe Frédéric François in Freiburg das Licht der Welt, «wird am selben Tag zu Hause getauft» von Kaplan Vullerette. Louis d’Affry wird später schreiben: «Ich wurde schwächlich geboren; mein erstes Lebensjahr war schwierig, und wegen ziemlich seltener Umstände konnte man mich erst 1744 in die Kirche Saint-Nicolas zur Taufe tragen»34 – genauer: am 6. April 1744. Taufpate war kein Geringerer als Louis, Fürst des Dombes und General der Schweizer, der vertreten wurde von Frédéric, Graf von Diesbach, Brigadegeneral und Oberst eines Regiments im Dienste des Königs, Komtur des Militärordens von St. Louis; als Patin fungierte die «Edeldame Victoire Lora Thérèse, Gräfin de Pharaone aus Messina, Fürstin von Diesbach».35

«Von mütterlicher Seite fliesst ihm die Erbmasse eines Staatsmannes, Diplomaten und Administrators zu. Die aus Cormagens in der unmittelbaren Umgebung Freiburgs stammende Familie von Alt, die dort noch Velliard hiess, verdeutschte ihren Namen zu Beginn des 15. Jahrhunderts, als sie in die Bürgerschaft der Stadt der Zähringer aufgenommen wurde. Die von Alt waren zunächst Tuchmacher, wurden dann Venner und Ratsherren. Der Ururgrossvater von Louis d’Affry, Porthais von Alt, war Kanzler der Republik und gehörte zu der Gesandtschaft, die 1663 mit Ludwig XIV. die Erneuerung des Ewigen Bundes unterzeichnete. Sein Urgrossvater Jean Jacques Joseph von Alt, Oberst eines Regiments im Dienste Savoyens, Ritter der Hl. Moritz und Lazarus, erhält Anfang des 18. Jahrhunderts den Titel eines Barons des Hl. Römischen Reiches. Sein Grossonkel ist François Joseph Nicolas von Alt, Schultheiss von Freiburg und Chronist; er ist der Verfasser der zehnbändigen Histoire des Helvétiens, connus aujourd’hui sous le nom de Suisses».36

Die Kindheit in Freiburg, die Jugend in Paris, diese beiden Bestandteile des seelischen und geistigen Erwachens, die Verwurzelung im Land seiner ersten zehn Lebensjahre und die Heranbildung in der Kulturmetropole des Ancien Régime werden ihn ein Leben lang prägen.37 In einer autobiografischen Aussage38 meint er schnörkellos:

 

«Ich wurde am 8. Februar 1743 in Freiburg als adliger Sohn von Louis Auguste d’Affry, Hauptmann bei den Schweizergarden des Königs von Frankreich, und Elisabeth von Alt aus Freiburg in der Schweiz geboren. Meine Familie reicht weit zurück und wurde noch vor dem Beitritt Freiburgs zur Eidgenossenschaft als adlig anerkannt. Meine Vorfahren waren fast immer mit der Familie Diesbach verbunden, die vor der Reformation in Bern wohnte, sowie mit der Familie Praroman in Freiburg [...]. Meine Kindheit war wie alle Kindheiten, eine Zeit des Dahinvegetierens und der Bedeutungslosigkeit. Als die Zeit der Bildung erreicht war, wurde ich zu Hause in die Hände eines Geistlichen gegeben, des Ortspfarrers. Dieser brave Mann stammte aus dem Dorf Corserey und hiess Abbé Prin. [...] Da er sich im Wesentlichen mit dem Wissen seines Berufsstandes befasst hatte, besass er nur wenige Kenntnisse anderer Wissensgebiete [...] Er lehrte mich lesen, schreiben und Religion; als ich diese drei Dinge beherrschte, wusste ich darin genauso Bescheid wie er.»

Louis verbrachte die Kindheit zusammen mit seiner älteren Schwester Madeleine, mit der ihn ein Leben lang tiefe Zuneigung und Einverständnis verband, wie nachstehende muntere Episode ihrer kindlichen Spiele auf dem Lande veranschaulicht:

«Ich fühlte mich besonders zu Pferden hingezogen und hatte mir ein bizarres Spiel mit ihnen angewöhnt, an dem auch meine Schwester mit gutem Erfolg teilnahm. Wir begaben uns gemeinsam auf die Wiesen, auf denen die Pferde des Dorfes weideten; jeder von uns beiden hielt etwas Brot in der Hand, und in der Tasche versteckten wir ein kleines Zaumzeug. Wir waren noch zu klein, um auf die Pferde zu springen, die sich vom Brot anlocken liessen, von dem wir zwei Stücke auf den Boden legten; sobald sie es aufnahmen, setzten wir uns ihnen rücklings auf den Hals, und wenn sie den Kopf hoben, sassen wir auf. Dann trabten wir, mit oder ohne Zaumzeug, auf ihnen kreuz und quer, solange sie Lust hatten; wollten sie nicht mehr oder waren wir müde, sprangen wir ab, fest entschlossen, das Spiel am nächsten Tag zu wiederholen. Die braven Tiere gewöhnten sich problemlos an den vorübergehenden Verlust ihrer Freiheit, und wenn sie uns kommen sahen, rannten sie schon herbei, weil sie sich an unser Brot gewöhnt hatten. Diese Fabel kann den Menschen eine Lehre sein, sie haben es im Allgemeinen nötig.»

Wen wundert es, dass Madeleine und Louis ihr Leben lang eine Vorliebe für die Freuden eines einfachen Landlebens im Schoss der Familie bewahrten? Während seiner militärischen Laufbahn in Frankreich wird Louis auf seinem Halbjahresurlaub bestehen, der es ihm erlaubt, zum Heuen und zur Weinlese in die Schweiz zu kommen, sogar im tragischen Sommer 1792, der die Vernichtung des Regiments der Schweizergarden mit sich bringt.

Sein in Versailles geborener Vater entscheidet, es sei an der Zeit, seinen Sohn aus dem Freiburger Landleben herauszunehmen. Die erste Phase seines Daseins beschreibt Louis so: «So lebte ich unter den Augen meiner Mutter, die mich zärtlich liebte, bis zu meinem zehnten Lebensjahr, als ich nach Paris abreisen musste, wohin mich mein Vater rief, damit ich dort meine Ausbildung beginne.» In Lons-Le-Saulnier trifft er seinen Vater, der ihm aus Paris entgegengekommen ist. Eine seltene Gelegenheit für die Familie, ein paar Tage zusammen zu erleben. In Dijon muss er sich von seiner Schwester trennen, die ins Lyzeum der Ursulinen eintritt, gleich danach von seiner Mutter, die nach Freiburg zurückkehrt. Erstmals sieht er Paris aus der Kutsche seines Vaters, in der er in die Stadt der Lichter einfährt, nicht ohne eine gewisse Beklemmung:

«Die Kutsche meines Vaters erschien uns herrlich, hatte sie doch einen goldenen Fond, wie damals üblich. Mein Erstaunen war gross, denn bis dahin hatte ich nur Pillers Freiburger Kutsche gekannt, die Jahr für Jahr Offiziere aus dem Halbjahresurlaub nach Paris zurück beförderte, und bislang hatte ich geglaubt, schönere könne es nicht geben [...]. Wir genierten uns etwas über unser Aussehen. Ich trug einen roten Plüschanzug. Auf meinem Kopf thronte eine grässliche und völlig unfrisierte Perücke, die man mir in Freiburg verpasst hatte, um meinen kahlen Schädel zu verdecken, den man mir nach einer Krätze rasiert hatte, an der ich sterben zu müssen meinte.»39

Der kleine Louis findet sich in einer komplett fremden Welt wieder. Bei der Ankunft gleich neben der Porte des Feuillants in der Rue St. Honoré, wo sein Vater damals wohnt, sieht er diesen im Gespräch mit einem sehr schönen Mann, den das Kind für den König von Frankreich hält, weil er ein blaues Ordensband trägt; es ist aber Fürst Ludwig von Württemberg, Generalleutnant im Dienste Ludwigs XV., «der mit meinem Vater sehr verbunden war, sehr gelehrt», wie Louis erkennt, aber «von philanthropischen Gedanken beherrscht». Die Naivität des Jungen veranlasst den Vater, ihm schon am Tag der Ankunft einen Streich zu spielen:

«Mein Vater, der sich an unserem Erstaunen und unserer Unwissenheit ergötzen wollte, nahm uns noch am selben Abend in seinem schönen Gefährt mit, um uns die grossartige Beleuchtung der Quais zu zeigen. Sie bestand aber aus nichts anderem als den Laternen, die damals Paris beleuchteten und nicht mehr hergaben als den Schein der armseligen Kerze, die in ihnen steckte; mit dem geringen Erstaunen, das das in uns hervorrief, war Vater ganz und gar nicht zufrieden. Er wollte es am nächsten Tag dadurch gutmachen, dass er uns ein Spektakel sehen liess, von dem wir keine Vorstellung haben konnten. Er führte uns in die Oper. Diesmal war seine Idee ein voller Erfolg. Ich verstand zwar rein gar nichts, war aber trotzdem entzückt. Abbé Prin, der an sich schon der Umgebung in unserer Loge ein Schauspiel war, meinte, die Ballette würden von Engeln getanzt, und sagte zu meinem Vater, was er sehe, vermittle ihm eine Vorstellung vom Paradies. Meinen Vater freute das überaus und er lachte sein Leben lang jedesmal, wenn die Rede darauf kam.»

Sehr erstaunt ist Louis darüber, dass man um drei Uhr isst. «Ich weiss noch, wie lächerlich ich es fand, dass man in Paris um drei Uhr dinierte, weil ich meinte, am selben Tag habe in Freiburg alle Welt um elf Uhr gespeist.» Aber «die Zeit der Vergnügungen und Abwechslungen dauerte nur ein paar Tage.» Die zwei folgenden Jahre verbringt Louis in Pension bei Herrn Renoir in Picpus. Marie, die Tochter des späteren Landammanns, hat uns eine Beschreibung des Verhaltens ihres Grossvaters in der Familie hinterlassen: «Er war ein geistvoller Zuchtmeister, verfügte über grosse Mittel und verdankte die bedeutende Stellung, die er erlangte, seiner Intelligenz und seinem Geschick. Nach den Mahlzeiten liess er seine Kinder und die Offiziere, die sich bei ihm zum Dienst befanden, seine schlechte Laune spüren.»40 Und über den Voltairianer fügt sie hinzu: «Die Angelegenheiten, mit denen er sich befasste, und die Gesellschaft der Philosophen hatten die religiösen Prinzipien seiner Kindheit geschmälert.»

Louis wird in das angesehene Jesuitenkolleg Louis-le-Grand eingeschult, das über 3000 Schüler hat, darunter Mitglieder des königlichen Geschlechts und Söhne sehr hoher Herren. Dort erhält er eine solide humanistische Bildung und lernt sittliche Werte achten, ebenso erlernt er die französische Redekunst und Lebensart, Höflichkeit und Raffinement, die im Übrigen seinem Charakter entgegenkommen; später heben zahlreiche Zeitgenossen sein Taktgefühl und seine «Zartheit», Diskretion und Aufmerksamkeit anderen gegenüber hervor. Während seiner Ausbildung bei den Jesuiten zusammen mit dem Prinzen de Conti setzt sein Vater seine brillante militärische Laufbahn fort, die auch seinem Sohn zum Vorteil gereichen wird. Andere Einflüsse bilden ein Gegengewicht zu denen der Jesuiten und sorgen dafür, dass sich bei ihm jener Geist der Offenheit und des Ausgleichs heranbildet, der ihm später erlaubt, schwierige Entscheidungen zu treffen. Als sein Vater 1755 zum ausserordentlichen Gesandten in Holland ernannt wird, wird Louis der Fürsorge von Madame Geoffrin41 anvertraut, die einen der grössten literarischen Salons von Paris unterhält; dort verkehrt er mit Gelehrten und Philosophen. So darf man sich den jungen Burschen vorstellen, wie er aufmerksam den Worten des 25 Jahre älteren Herrn d’Alembert lauscht. Später geht im Stadthaus der d’Affry in der Rue du Bac der gesamte Adel ein und aus, ein wahrer Reigen von Herzögen: Rohan, Cossé, Quélen, Damas, die Herren von d’Aumont, die Villequier sowie einige vielversprechende Generalpächter. Bald wird er den Umgang mit ebenso vielen Politikern und künftigen Ministern pflegen: Vergennes, Malesherbes, Turgot, Montmorin, Necker, Loménie de Brienne, mit Diplomaten, darunter einem Nuntius, mit dem Residenten von Genf in Paris, zahlreichen höheren Offizieren, unter anderem dem Grafen von Saint-Germain, mit Luckner, Narbonne, La Fayette, dem Marschall von Biron, den Louis Auguste d’Affry freitags anlässlich des militärischen Diners empfängt, des sogenannten «Wisc», an das sich Musik und Spiele anschliessen; Umgang auch mit Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern: Raynal, Mallet-Dupan, Delille, Barthélemy und Dr. Tronchin, die der Vater mittwochs empfängt. Das Konversationsvergnügen setzt sich bei Tischgesprächen fort, und allezeit gibt es Neues zu hören, das bei d’Affry nicht auf taube Ohren stösst.42 Auf diese Weise entsteht ein wertvolles, dichtes Netz, das ihm zu gegebener Zeit zugute kommen wird.

EINFÜHRUNG IN DIE DIPLOMATIE IM JAHRE 1759

Der Vater unseres Louis begnügt sich nicht damit, im Rahmen des Schweizergarderegiments, der Schweizer Elitetruppe im Dienste Frankreichs, Karriere zu machen. Seine diplomatischen Qualitäten tragen ihm 1755 die Ernennung zum ausserordentlichen Gesandten ein, sodann 1759 zum Botschafter bei den Generalstaaten der Niederlande in Den Haag43 durch Ludwig XV., womit d’Affry Gelegenheit erhält, den berühmten Casanova kennenzulernen und sich mit einem gleichrangigen Gesprächspartner in der Kunst der Manipulation zu messen.44 Casanova erwähnt ihn – grosse Ehre für d’Affry – mehrfach in seinen Memoiren. Der gerissene Casanova schafft es nicht, den pfiffigen d’Affry zu täuschen, der sogar dem Herzog von Choiseul schreibt und ihm mitteilt, Casanova sei ihm im Gespräch höchst indiskret, bei seinen Unternehmungen leichtsinnig und beim Verbergen der wahren Gründe seiner Reise höchst geschickt erschienen.45 Der königliche Botschafter nimmt das zum Anlass, seinen Sohn Louis als Kammerherrn, was etwa unseren Botschaftsattachés entspricht, in die Diplomatie einzuführen. Fred von Diesbach schreibt: «Derzeit ist die Diplomatie sein Metier, das er unter der sachkundigen Leitung seines Vaters erlernt und in dem er später brillieren wird.» Letzterer macht ihm alles vor: Demarchen beim ausländischen Hof, hartnäckiger Kampf gegen die gegnerische Diplomatie, Intrigen mit undurchsichtigen Personen, von denen man nie recht weiss, ob sie Geheimagenten Ludwigs XV. sind. Unter ihnen finden wir den Alchimisten Cagliostro sowie «einen Unbekannten, der sich Graf von Saint-Germain nennt»,46 ein berühmter Abenteurer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Graf d’Affry vertritt die Interessen Frankreichs in Den Haag sehr geschickt und gekonnt. Nicht nur erledigt er erfolgreich seinen Auftrag, die Vereinigten Provinzen neutral bleiben zu lassen, obwohl man ein Bündnis der Vereinigten Provinzen mit dem König von Preussen erwartet hatte, sondern bringt sie sogar dazu, den Durchmarsch der französischen Truppen, die Hannover einnehmen sollen, durch Namur und Maastricht zu gestatten. Trotz heftigen Protesten Londons und Berlins drücken die Niederlande die Augen zu. Der Siebenjährige Krieg hat begonnen.