Der erste Landammann der Schweiz

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Wie damals überall blieb die Landwirtschaft vorherrschend und war deshalb in wirtschaftlichen Belangen das Hauptobjekt der Behörden. Sie beschäftigte zwei Drittel der aktiven Bevölkerung. Doch fehlten in gewissen Jahren die Arbeitskräfte, vor allem während der drei Mobilmachungen der Armee, was erklärt, warum die am meisten betroffenen Kantone sich über das eidgenössische Aufgebot für das Armee-Kontingent beklagten. Dazu kam eine örtlich begrenzte Knappheit an Arbeitskräften, welche sich zwischen 1803 und 1813 bemerkbar machte. Der Grund dafür lag ohne Zweifel in der Militärkapitulation: Die grosse napoleonische Armee war auf dem europäischen Markt für junge und starke Männer ein wichtiger Arbeitgeber. Die Schweiz hatte Mühe, das Kontingent dauernd aufzufüllen, und die Landwirtschaft musste sich mit den Leuten begnügen, die übrig blieben. Glücklicherweise kannte das Land von 1800 bis 1816 weder Teuerung noch Hungersnot. Trotz allem reichte die einheimische Produktion – wie immer – bei Weitem nicht aus, um alle Bedürfnisse der Ernährung zu befriedigen, selbst wenn der Getreideanbau in Bezug auf Wiesen und Weiden eine weitaus grössere Fläche nutzte als in späteren Jahren. Gewiss, die Schweiz zählte weniger als zwei Millionen Einwohner, aber die wenig leistungsfähige landwirtschaftliche Technik erlaubte keine höheren Erträge. Im Bewusstsein dieses Mangels an Produktivität wie auch wegen der Bedürfnisse des Marktes entwickelten sich die Grundeigentümer zu Agronomen – ein exemplarischer Fall von Eigeninitiative. Musterbetriebe kamen auf, die mit neu kultivierten Pflanzen Versuche anstellten – so mit Zuckerrüben –, und es gab unter den Betrieben landwirtschaftliche Leistungsschauen. Es scheint, dass diese von den Behörden zwar gern gesehen wurden, die Politik des «weniger Staat» aber keine öffentliche Subventionierung auf eidgenössischer Ebene erlaubte.

«Die Schweizer melken ihre Kühe und leben friedlich»: Der bukolische Alexandriner von Victor Hugo, entnommen aus «La Légende des siècles», spiegelt präzise das romantische Bild des Landes wider. Nur beschönigt eine solche Idee immer die Realität, und der schönfärberische Vers von Victor Hugo war nur zur Hälfte wahr. Der Bockenkrieg widerlegte den grossen Dichter, der von seinem damaligen Touristenführer getäuscht wurde.63 Es ist und bleibt zwar richtig, dass der Aufstand, der von der eidgenössischen Armee unerbittlich unterdrückt wurde, seinen Ursprung nicht in der schlechten Ernährungslage hatte, sondern auf politische Unzufriedenheit zurückging. Die Aufständischen vertraten die Meinung, dass die Rückkaufsgebühr des «grossen Zehnten» übertrieben und unerträglich sei; ein ernsthaftes Problem, das sich über ein halbes Jahrhundert Sozialgeschichte erstreckt. Die Helvetische Republik war willens, es zu lösen, und verordnete schon 1798 den obligatorischen Rückkauf dieser Steuer feudalen Ursprungs, die als ein modernen Zeiten unwürdiges obrigkeitliches Überbleibsel angesehen wurde. Das Gesetz wurde wegen seiner Durchsetzungsschwierigkeiten bald ausgesetzt (1800), dann wieder reaktiviert (1801). Der Untergang der Helvetik (1802) blockierte schliesslich alles. Die Mediation war sich des Problems ebenfalls bewusst und öffnete das Dossier wieder, sobald sie an der Macht war. Von 1803 bis 1806 erliessen ein Dutzend Kantone Gesetze für einen fakultativen oder obligatorischen Rückkauf. 1813 war noch nicht alles geregelt, aber man verdankte einen Grossteil der Arbeit in dieser wichtigen Angelegenheit der Mediation. Ihr ist gutzuschreiben, dass die Landwirtschaft einen grossen Modernisierungssprung machte. Die Grosse Mediation hat das Verdienst, das durch die Helvetik begonnene Werk vollendet, nicht aufgegeben zu haben.

Der Grossen Mediation kommen im Ernährungssektor der Wirtschaft noch andere Verdienste zu. Die Korrektion der Linth und ihre Kanalisierung haben als die grösste je unternommene nationale Gemeinschaftsaufgabe seit der Gründung der Eidgenossenschaft richtigerweise die Aufmerksamkeit der Geschichtsbücher auf sich gezogen. Das Bauwerk, das viel Zeit in Anspruch nahm, wurde 1807 mit dem Ziel begonnen, nicht nur gegen Überschwemmungen und Malaria zu kämpfen, sondern auch die grossen Sümpfe der Linthregion trockenzulegen und zu kultivieren. In einer Schweiz, die in der Phase des demografischen Wachstums stand, war die Gewinnung von Ackerland sehr willkommen. Man muss aber unterstreichen, dass diese riesige Baustelle – ganz auf der Linie des «weniger Staat» – nicht mit öffentlichen Geldern der Eidgenossenschaft finanziert wurde, die für diesen Zweck darüber gar nicht verfügte, sondern auf dem Weg der Subskription und Gründung einer Aktiengesellschaft. Sie war das Werk des Zürchers Johann Konrad Escher, Vater des Projekts und Chef der Bauarbeiten; er gab dem Kanal seinen Namen und wurde von der Eidgenossenschaft zum Dank mit dem Titel «von der Linth»64 geehrt.

ENTWICKLUNG VON INDUSTRIE UND DIENSTLEISTUNGSSEKTOR

Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an nahm die Industrialisierung in der Schweiz einen einmaligen Aufschwung. Man anerkennt heute den aussergewöhnlichen Fortschritt der Baumwollfabrikation und die ernsthafte Konkurrenz, die Baumwollzeug, weisse Leinwand und besticktes schweizerisches Musselin auf dem ausgedehnten und volksreichen Binnenmarkt des französischen Empires darstellte; ein Herrschaftsgebiet, das sich auf seinem Kulminationspunkt von Hamburg bis zu den illyrischen Provinzen des adriatischen Meeres erstreckte und 120 Millionen Einwohner zählte. Demgegenüber war die Kontinentalblockade weit davon entfernt, die Schweizer Industrie zu bremsen, sondern sie schützte sie im Gegenteil vor der englischen Konkurrenz. Dazu kannte die Konjunktur während der Mediation starke Schwankungen: Zwei Krisen (1803–1806 und 1811–1812) haben die geradezu überhitzte Phase der Jahre 1806 bis 1811 eingerahmt. Dieses halbe Dezennium erlebte die durchschlagende Mechanisierung der Spinnerei. Schlussfolgerung: In einem Europa im Krieg hat die Schweiz im Frieden sich auch wirtschaftlich gut aus der Affäre gezogen.65

Davon zeugt sogar der Tertiärsektor mit den Dienstleistungen Handel, Tourismus und Kreditwesen. Die Schweiz, die schon frühzeitig industrialisiert war, hatte sehr bald die Notwendigkeit von Konsularvertretungen geprüft. Diese verdankten ihre Einrichtung zwar der Helvetischen Republik (Bordeaux 1798), aber die Mediation, die nicht im Geringsten daran dachte, das untergegangene Regime auf diesem Gebiet zu desavouieren, hat eine unbestreitbar wichtige Institution aufrechterhalten. Ein pikantes Detail: Weil der Titel «Konsul» in Frankreich den drei höchsten Würdenträgern des Staates, unter ihnen dem Mediator, vorbehalten war, wäre es unschicklich gewesen, damit gleichfalls Leute zu dekorieren, deren Aufgabe eine rein wirtschaftliche war, so angesehen sie auch sein mochten. Man nannte sie deshalb «Kommissare der wirtschaftlichen Beziehungen», was ebenfalls Achtung einflösste. Sie verteidigten die Interessen der Eidgenossenschaft im Ausland, während in der Schweiz selber wirtschaftliche Werbung gemacht wurde – man höre und staune – mit Ausstellungen, welche damals einen ungeahnten Aufschwung nahmen. So veranstaltete der Kanton Bern, Pionier auf diesem Gebiet, 1804 und 1810 eine Ausstellung für Handwerk und Industrie.

Unter den Besuchern, welche diese ganz neue Art von Handelsmessen neugierig verfolgten, fanden sich hauptsächlich Berner, aber auch Schweizer aus anderen Kantonen sowie ausländische Touristen. Der Wahrheit zuliebe muss man sagen: 1804 und 1810 waren Jahre ohne Kriegswirren, was den Besuch von zahlreichen Engländern erlaubte. Für sie gebrauchte man zum ersten Mal das Wort «Tourist», welches seit 1803 bescheinigt ist. Die schroffe Bodengestaltung und die Höhe der Berge, die sommerliche Sonne und der ewige Schnee zogen diese Besucher an, welche aus dem nebligen und ebenen England anreisten. Sie kamen nicht wegen des Komforts der Hotellerie, die noch in den Anfängen steckte, sondern eher, um von zu Hause wegzugehen und das Schauspiel der rohen, aber als natürlich angesehenen Bräuche der Bergler zu besichtigen, etwa die der Hirten am Unspunnenfest im Berner Oberland 1808. Bisweilen gaben sich diese im Allgemeinen begüterten Gäste, «gentlemen’s farmer», reiche Industrielle oder wohlhabende Bankiers amüsiert-distanziert, mit einem herablassenden Blick. Einige der Waghalsigeren schwärmten für den Sport und den Alpinismus, zwei noch unbekannte Ausdrücke. Die Nichtexistenz von Wörtern verhinderte jedoch die Sache nicht: Engländer, Franzosen, Deutsche und Schweizer – diese Letzteren machten den «Alpenstock» zum Gemeingut des Wanderers – rivalisierten um die Besteigung der höchsten Gipfel. 1811 wurde die Jungfrau bezwungen oder geschändet, wenn man es so sehen will.

Wer würde es glauben, dass die Schweiz, die heute im Bereich der Privatversicherungen eine führende Position belegt, lange Zeit vom Ausland abhängig war, bevor sie ihre Ansprüche und ihr Wissen auf diesem Gebiet durchsetzen konnte? Die frühzeitige Industrialisierung hatte schon lange die grossen englischen, französischen und deutschen Gesellschaften angezogen.66 Sie zu konkurrenzieren war keine leichte Sache, denn sie waren auf europäischer Ebene mit ihrem grossen Kapital und ihrer Erfahrung schon stark verankert. Aber der initiative Unternehmungsgeist der Schweizer der Mediation brachte es fertig, sich auch in diesem Sektor ab dem 19. Jahrhundert und bis heute mit Erfolg durchzusetzen. Überraschenderweise versicherte man die Güter vor den Personen, dies vor der Mediation und noch lange Zeit danach. Die öffentliche Hand ging in dieser Domäne voran, und ein Dutzend Kantone gründeten zwischen 1805 und 1812 ihre eigene Versicherungskasse für Tiere und Feuer. Die Schweiz war noch ein Land mit bäuerlicher Vorherrschaft, und die meisten Häuser waren immer noch aus Holz gebaut, auch in der Stadt.

Was die Banken betrifft, gelang es den Schweizern, das Vertrauen sehr früh zu gewinnen,67 und ihr Erfolg im monarchischen Frankreich von Ludwig XIV. bis Ludwig XVI. ist hinlänglich bekannt. Anfang des 19. Jahrhunderts finanzierten sich in der Schweiz die industriellen Unternehmungen der Gründerzeit selber. Die grossen Handelsbanken ebenso wie die Kantonalbanken wurden erst relativ spät gegründet. Im Gegensatz dazu förderten die Behörden den Kleinkredit schon während der Mediation. So entwickelten sich die öffentlichen Sparkassen und die Lokalbanken, welche am Ende des 18. Jahrhunderts eher zögerlich aufgetreten waren.68 Eine Tatsache, die man hervorheben muss: Die Kunden der Sparkassen rekrutierten sich hauptsächlich aus den bescheidenen Schichten der Bevölkerung – Angestellte im Handel, Mägde, Knechte und vor allem die immer zahlreicher werdenden Arbeiter. Sie wurden dazu durch ihre Arbeitgeber ermuntert in einer Zeit, in der die soziale Vorsorge unter der Devise «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott!» noch der Initiative des Einzelnen überlassen war.

 

MEHR ALS WIRTSCHAFT: DER MORALISCHE WIEDERAUFBAU DES LANDES

Der beste Teil des reichen Erbes, welches die Mediation der heutigen Schweiz vermacht hat, ist nicht politischer oder wirtschaftlicher Natur, sondern kulturell im weiten Sinn des Wortes, welches kollektive Mentalitäten und öffentliches Empfinden einschliesst. Die nachfolgende notgedrungen zu kurze Aufzählung beschränkt sich nur auf die bedeutendsten Errungenschaften.

Nach dem Erdbeben der Revolution von 1798 und nach dem Bürgerkrieg von 1802 erfolgte der Wiederaufbau des Landes nicht nur durch die Einführung eines neuen Föderalismus und durch die Wiederankurbelung der Wirtschaft, sondern es war nötig, sich wieder zusammenzufinden, denn die ganze Gesellschaft war traumatisiert und auf der Suche nach neuen Bezugspunkten und neuen Werten. Sie empfand das diffuse Bedürfnis, zu einem neuen Lebensstil zu finden. Die entscheidende Frage lautete: Wie kann man die Gesellschaft der Bürger (société civile) an der politischen und wirtschaftlichen Macht beteiligen? Die Antwort schien im Wesentlichen in vier Punkten zu liegen: Man wollte die nationale Identität fördern, die sozialen Ungleichheiten berücksichtigen, die Minderheiten anerkennen und den Zugang zum Wissen revolutionieren.

Hatte das Schweizer Volk unter dem Ancien Régime ein eidgenössisches Selbstbewusstsein? Offenbar nicht. Seine Verschiedenartigkeit verbarg seine Einheit. Nur die politische und intellektuelle Elite pflegte das, was man heute «Idée suisse» nennt, Ausdruck einer spezifischen Identität, die als national in dem Mass qualifiziert werden kann, wie die «Schweizer Nation» ein Bestandteil des politischen und literarischen Vokabulars war. Die neue sozial abgestützte Umgangsform des Aufklärungszeitalters hatte die «Helvetische Gesellschaft»69 hervorgebracht, die dazu bestimmt war, die kultivierten Schweizer einander näherzubringen, um das Vaterland miteinander zu feiern, seine Geschichte und seine Helden; allen voran Wilhelm Tell, an dessen Existenz damals niemand zweifelte. Seine Popularität als Held, der sein Land liebt und seine Familie verteidigt, seine Geschichte, die absolut glaubwürdig klingt und die mit dem Begriff von Freiheit und Unabhängigkeit verbunden ist, halfen den damals noch hauptsächlich ländlichen Massen, den abstrakten Begriffen von schweizerischem Vaterland und patriotischen Bürgern einen Inhalt zu geben. Unter der Helvetik, und das war ihr Drama, wurde der vaterlandsliebende Tell von Anhängern und Gegnern der Revolution, die sich um ihn stritten, vereinnahmt. In der Mediation, und das war ihre Chance, versöhnte Tell das Land: «Keine Ketten den Kindern Tells!», erklärte der Mediator Napoleon, der einen politisch-medialen Volltreffer landete, indem er sich gewandt die Popularität des nicht weniger gewandten Schützen zunutze machte. Es ist kaum zu glauben, dass Uri, das Vaterland des Armbrustschützen, 1803 in Bonaparte den Wilhelm Tell der modernen Zeiten feierte! Fast zur gleichen Zeit bemächtigte sich Schiller 1804 in Deutschland des bekanntesten Schweizers, um aus ihm einen universalen Helden zu machen. 1805 gab es in Sarnen ein «Fest der nationalen Einheit», welches die Gelegenheit nutzte, ein grosses historisches und patriotisches Schauspiel in vier Akten aufzuführen, worin das ganze mittelalterliche Pantheon mit Tell und Winkelried als Stars70 vorkam. Um 1807 erwachte die Helvetische Gesellschaft, die seit 1798 dahindämmerte, wieder zum Leben.

Die helvetische Identität war offensichtlich ein Wert, nutzbar und ausgebeutet für die verschiedensten Ziele. 1808 wurde in Luzern die «Helvetische Gesellschaft für Musik» gegründet.71 Dieser Akt hatte eine hohe symbolische Bedeutung für das Band zwischen der Classe politique und den Bürgern. Gerade in diesem Jahr empfing Luzern als Vorort die eidgenössische Tagsatzung. Als Hauptstadt der Schweiz für ein Jahr wandte sich die Stadt an den damals bekanntesten Schweizer Musiker, den Zürcher Hans Georg Nägeli, ein avantgardistischer Herausgeber, der seit 1803 Beethoven publizierte (Sonate für Klavier, Opus 31, «Der Sturm») und der später mit Schubert und Weber in Verbindung stand.72 Nägeli, modern und phantasievoll, war nicht nur der Gründer der Helvetischen Gesellschaft der Musik, sondern auch während der Tagsatzung Organisator von helvetischen Konzerten, den symphonischen und choralen Feiern der nationalen Brüderlichkeit! Ein phänomenaler und dauerhafter Erfolg. Solche Konzerte und die Helvetische Gesellschaft trugen dazu bei, während des ganzen 19. Jahrhunderts in der Bevölkerung die Liebe zur Musik und die Freude am Musizieren zu verbreiten, gleichsam natürlich verbunden mit der Schweizer Identität.

SOLIDARITÄT UND SUBSIDIARITÄT ALS MOTOR DES NATIONALEN ZUSAMMENHALTS

Der nationale Zusammenhalt kann ohne Solidarität nicht aufrechterhalten werden. Die wirtschaftliche Erholung der Schweiz während der Mediation und vor allem die Phase der Hochkonjunktur der Jahre 1806 bis 1811 verschaffte nicht allen Wohlstand. Es gab die «laissés-pour-compte», die Vergessenen des wirtschaftlichen und demografischen Wachstums. Die gute Gesellschaft nahm davon Kenntnis, und 1810 trafen sich etwa 60 Personen aus 13 Kantonen in Zürich, um darüber zu sprechen. Die Initiative dazu kam von einem angesehenen Mitglied der Helvetischen Gesellschaft, Hans Caspar Hirzel, Mitglied der Loge «Modestia cum Libertate».73 Er war Zürcher, wie Nägeli, Arzt und Philanthrop, vom freimaurerischen Altruismus der Aufklärung durchdrungen, und setzte sich für das Soziale ein. Wie im napoleonischen Europa war die Freimaurerei auch in der Schweiz in voller Entfaltung.74 Logen florierten an den Ufern der Limmat und in den wichtigsten protestantischen Städten des Landes, und die Prinzipien von Brüderlichkeit und Toleranz, die ihr freimaurerisches Denken und Handeln inspirierten, standen einer Zusammenarbeit mit den Katholiken nicht entgegen. Daher nahmen auch gewisse Katholiken an der Versammlung in Zürich teil. Diese rief die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft75 ins Leben, die ganz die Ansichten ihres Präsidenten Hirzel teilte.

Bevor man die Probleme der offenbar wachsenden sozialen Ungleichheit lösen konnte, musste der kantonale Horizont überwunden werden, dem der Föderalismus zu viel schmeichelte, als dass eine globale und wirklich nationale Betrachtungsweise gewagt worden wäre. Nur so konnte aber eine gemeinsame Lösung gefunden werden. Man musste auf ein unkoordiniertes Handeln und die Verschwendung von Energie reagieren, die 19 kantonale Politiken der öffentlichen Fürsorge verursachten. Konkret diente die neue Gesellschaft als Modell und rief in den Kantonen vergleichbare Organisationen ins Leben, wie etwa die 1813 gegründete «Ökonomische Gesellschaft Freiburg».76 Es handelte sich nicht um karitative Gesellschaften, die sich auf dem Boden der sozialen Realität und Hilfe engagierten, sondern um Studiengesellschaften der sozialen Probleme im weitesten Sinn. Sie berieten Vorschläge zum eventuellen Einsatz der Behörden (Beratungsrolle) wie auch Publikationen, die dazu bestimmt waren, zu informieren und die öffentliche Meinung zu sensibilisieren (Informationsrolle). Die Gesellschaft funktionierte mit diesem philanthropischen Schema etwa zehn Jahre lang, bevor sie den Akzent auf pädagogische und öffentlich-wirtschaftliche Fragen verschob. Als nationale Organisation blieb sie dem Prinzip der politischen und konfessionellen Neutralität verbunden. Entstanden aus privater Initiative, bewahrte sie auch ihre private Organisationsform, aber ihr Zielpublikum wie auch der Umfang und die Dauer ihrer Tätigkeit machten daraus eine quasi-offizielle Einrichtung, welche für die Schweizer Identität grundlegend war. Gegenüber der Classe politique funktionierte die Gesellschaft der Bürger nicht auf dem Konkurrenzprinzip, sondern auf dem der Subsidiarität.

Die Mediationsakte und die 19 kantonalen Verfassungen, die in ihrem ersten Kapitel verankert sind und der föderalen Akte im eigentlichen Sinne vorausgingen, bezogen sich nicht auf eine Erklärung der Menschen- oder Naturrechte. Dennoch bestand eine De-facto-Anerkennung der wichtigsten Minoritäten der Eidgenossenschaft. Während die Schweizer der reformierten Konfession demografisch die Mehrheit besassen, setzte sich eine konfessionelle Parität durch, die sich darin zeigte, dass von sechs Vororten drei protestantisch (Basel, Bern, Zürich) und drei katholisch waren (Freiburg, Luzern, Solothurn). Das war kein Zufall. Es ist selbstverständlich, dass diese vollkommene Parität nichts anderes bewirken wollte, als die friedliche konfessionelle Koexistenz in der neuen Schweiz zu fördern. In Bezug auf die Sprachen bedeutete die Aufnahme Graubündens (rätoromanisch), des Tessins (italienisch) und der Waadt (französisch) in den Schoss der Mutter Helvetia für die drei lateinischen Minderheiten nicht nur eine Aufwertung, sondern auch eine gesetzliche Anerkennung ihrer Gleichheit mit der deutschsprachigen Mehrheit, welche durch ihr demografisches Gewicht und durch die Zahl der Kantone vorherrschte. Es handelte sich da mit Bezug auf das Ancien Régime, das im Innersten keine Gleichberechtigung kannte (Vorherrschaft der Privilegien, des geschichtlichen Vorrangs und des protokollarischen Vortritts) um eine entscheidende Umstellung der politischen Ordnung, die aus dem neuen Föderalismus von 1803 eine regelrechte Revolution machte. Dies gilt es zu beachten, wenn man von der Mediation als einer «Rückkehr» zum Föderalismus oder einer «kleinen Restauration» spricht. Durch die Einführung des Gleichheitsprinzips in die Definition des Föderalismus, das von der Helvetischen Republik übernommen wurde, hat die Mediation ein bahnbrechendes Werk geschaffen. In diesem Sinne ist sie eine legitime Tochter der Helvetik. Schliesslich muss man sehen, dass die Übernahme des Gleichheitsprinzips und der impliziten Anerkennung der Minderheiten eine Demokratisierung des Föderalismus begründen, woher auch zweifelsohne seine Stärke kommt. In der 1803 gegründeten modernen Schweiz waren Demokratie und Föderalismus solidarisch. Sie sind es im 21. Jahrhundert immer noch.

RECHT AUF AUSBILDUNG UND WISSEN

Es ist das Verdienst des demokratischen Föderalismus von 1803, der bürgerlichen Gesellschaft nach dem raschen Zusammenbruch der Helvetischen Republik, Opfer ihrer eigenen Revolution, zugestanden zu haben, die Entfaltung des Individuums durch das Recht auf Ausbildung zu ermöglichen. Eine zu dieser Zeit nicht alltägliche Idee. Die helvetische Verfassung vom 12. April 1798 hatte dieses Recht ausdrücklich festgelegt (Art. 7).77 Aber die Zeit reichte dem neuen Regime nicht, es umzusetzen. Die Mediation – das ist eines ihrer zahlreichen Verdienste – sprach nicht von diesem Recht, genehmigte aber, ohne ein Wort zu sagen, dessen Realisierung durch das Wirken und Werk der drei Pädagogen Fellenberg,78 Girard79 und Pestalozzi.80 Ihre internationale Bekanntheit gerade in dieser Epoche gereichte auch dem Regime von 1803 zur Ehre.

Den Zugang zum Wissen für alle zu erleichtern scheint heute in jeder Gesellschaft, die sich als modern betrachtet, selbstverständlich. So war es zu dieser Zeit noch nicht. Der Obskurantismus, ein Begriff für das «Dunkel des Aberglaubens», mit dem die Befürworter des allgemeinen, obligatorischen und unentgeltlichen Unterrichts ihre Gegner bezeichneten, war eine mehr unterirdische Strömung als ein öffentliches Bekenntnis. Daher kam auch seine Stärke. Der Obskurantismus hatte seine Anhänger in dem Milieu der traditionellen Didaktik, die auf dem Prinzip «lernen, ohne zu verstehen» gründete, das auf das allgemeinere Autoritätsprinzip zurückgeht. Der kritische Geist, das persönliche Nachdenken und die Zurückweisung des Dogmatismus wurden von den Obskurantisten mit Misstrauen beurteilt. Man versteht, dass unsere drei Pädagogen gegen diese Auffassung waren. Sie revolutionierten das universelle pädagogische Denken. Keine andere Zeit der Schweizer Geschichte hat gleichzeitig so viele aussergewöhnliche Männer in diesem Fach hervorgebracht. Das ist die grösste Leistung der Grossen Mediation.

 

Noch andere Gemeinsamkeiten vereinigten das Triumvirat, das sich mit Leib und Seele dem Kind gewidmet hat, um dessen Verstand und Herz zu wecken und zu fördern und seine Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen. Es war zunächst und vor allem ihr Liberalismus, in dem die Verbundenheit mit der Freiheit aus Überzeugung oder aus persönlicher Sensibilität die tragende Idee war. Sie teilten auch ihre Zuneigung zur Philanthropie, die sie als Aufmerksamkeit gegenüber dem Notstand anderer und den Sozialproblemen im Allgemeinen verstanden. Sie bezogen sich in ihren Schriften und ihrem Unterricht häufig auf die Religion, was den Katholiken Girard den zwei protestantischen Fachkollegen näherbrachte.81 Alle drei leiteten von Kant und seinem «sapere aude» (»wage selber zu denken») ihr hauptsächliches philosophisches Credo ab. Man kann nachvollziehen, wieso an den Ufern der Saane der «patriotische Mönch» Gregor Girard bei der römischen Kirchenhierarchie genau von dem Tag an nicht mehr mit der Aura der Heiligkeit umgeben war, an dem die «Grosse liberale Mediation» der «Grossen konservativen Restauration» Platz machte. Trotz starker Unterstützung durch die Classe politique wurde er gezwungen, seine revolutionäre Methode des gegenseitigen Lehrens und Lernens82 aufzugeben, welche die Bewunderung nicht nur der «toleranten Schweiz», der Katholiken und der Protestanten, sondern auch des ganzen liberalen Europa erregt hatte.

Die Grösse eines politischen Regimes misst sich nicht an seiner Dauer, genau wie die Grösse eines Landes sich nicht allein aus seiner Oberfläche oder aus der Bevölkerungszahl errechnet. Das vorliegende Buch nimmt nicht in Anspruch, eine Geschichte der Grossen Mediation zu sein, die erst noch geschrieben werden muss. Sein Ehrgeiz beschränkt sich darauf, ausgehend von zum grossen Teil unveröffentlichten Quellen erster Hand, neue Perspektiven zu eröffnen und den zu engen Horizont, in den man diese ebenso reiche wie kurze Periode zu oft eingeschlossen hat, neu auszuleuchten. Es möchte verhindern, dass diese Periode aus dem Gedächtnis der Schweizer verbannt bleibt und zu viele seiner Akteure, Politiker, Militärs und Diplomaten der Vergessenheit anheimfallen. In diesem Sinne ist die Darstellung des Lebens von Louis d’Affry, der zum ersten Mal in seiner wahren Gestalt erscheinen wird, ein Desideratum der schweizerischen Geschichtsschreibung.