Der erste Landammann der Schweiz

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Ist man in erster Linie an der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Schweiz interessiert, erscheint die Mediation wie eine Etappe, die den Beginn der industriellen Revolution und den Aufstieg der kämpferischen, kapitalistischen oder progressiven29 Bourgeoisie anzeigt. Im Gegensatz dazu würden ein Politologe und ein Jurist, die mehr Aufmerksamkeit für die institutionellen Mechanismen aufbringen, in der Verfassung von 1803 die Originalformel einer Föderation von republikanischen Staaten ausmachen, die auf den Grundsätzen von Gleichheit und Freiheit und einer jährlich wechselnden Einmannpräsidentschaft gründet: Sechs Vororte – in der Reihenfolge Freiburg, Bern, Solothurn, Basel, Zürich, Luzern – beherbergen nacheinander den eidgenössischen Hauptort, gleichzeitig Sitz der Tagsatzung und der zentralen Verwaltung30 wie auch des vorsitzenden Landammanns. Werden seine zahlreichen Chargen und wichtigen Kompetenzen in Betracht gezogen, die alle ausführlich in der Mediationsakte31 aufgeführt sind, erscheint er wie der Angelpunkt des Systems. Er verfügt zwischen zwei Tagsatzungen über eine Manövriermarge, die es ihm erlaubt, viele persönliche Initiativen zu ergreifen, gerade etwa im Fall von diplomatischen Beziehungen, welche er dann vor der versammelten Tagsatzung zu verantworten hat. Da er von keinem kollegialen Regierungssystem eingeengt ist, verfügt er über eine umso grössere Freiheit. Das Fehlen eines solchen kollektiven Organs ist riskant in einer Schweiz, die sich immer gegen jede Form von persönlicher Macht misstrauisch gezeigt hat. Der Mediator habe diese präsidentielle Instanz aufgezwungen, wird gesagt, um nur einen einzigen Verantwortlichen zu haben, mit dem er die Angelegenheiten der Schweiz behandeln konnte.32 Aber man weiss auch, dass er sich der Schaffung eines Staates und einer Armee widersetzte, die aus der Schweiz einen zu wenig fügsamen Alliierten gemacht hätten. Der Vermittler hatte etwas Machiavellisches an sich: Er wusste zu «teilen, um zu herrschen».

Für zahlreiche Historiker ist der Kanton die Grundzelle und das Fundament des «Hauses Schweiz», bestimmt durch drei grundlegende Attribute, welche das öffentliche internationale Recht jedem Staat zuerkennt: Territorium, Volk, Regierung. Sie sehen in der Mediation eine Föderation von 19 Staaten. Sie rufen so die Souveränität und Unabhängigkeit jedes Kantons ins Gedächtnis zurück, unterstreichen aber gleichzeitig die Aufnahme von sechs Miteigentümern in das grosse eidgenössische Chalet, die bisher einfache Mieter waren, das heisst Untertanenländer (Aargau, Thurgau, Tessin und Waadt) und Verbündete (St. Gallen und Graubünden – das Wallis blieb bis 1815 ein französisches Departement). Diese zusätzlichen Mitglieder werden sich im neuen Staat bemerkbar machen, denn das demografische Gewicht von einigen verleiht diesen eine doppelte Stimme in der Tagsatzung.33

«Konföderation der 19 Kantone»,34 diese Formulierung, die schon durch ihren römischen Klang Achtung einflösst – man beachte den offiziellen Ausdruck «Confoederatio Helvetica», der immer noch in Kraft ist –, verfügt gleichzeitig über einen mnemotechnischen und pädagogischen Vorteil, um die Mediation im Zeitablauf gut als einen bestimmten Augenblick (kurze Dauer) einer Geschichte (lange Dauer) einreihen zu können, welche sich heute über acht Jahrhunderte erstreckt: Der Ausdruck unterstreicht ausgezeichnet das Vorher und Nachher. Geschichtlich gesehen nachteilig ist die vielleicht willentlich ausgeklammerte «eine und unteilbare» Helvetische Republik. Sie wird so von der jahrhundertelangen Evolution weggeschoben, die von der Schweiz der drei Gründerorte (1291) zu jener der 13 Stände (1513), dann zu jenen der 19 (1803), der 22 (1815) und der 23 (1978) in der logischen Erwartung der 24 oder mehr Kantone führt, wie wenn es sich um ein Wachstum ohne Ende einer ewigen Konföderation handelte, obschon sich die Grösse des Territoriums seit dem 16. Jahrhundert praktisch nicht mehr geändert hat.

DIE SCHWEIZ IN FRIEDEN IN EINEM EUROPA IM KRIEG

Wie wir gesehen haben, sprechen die Urner 1803 vom «Grossen Konsul». Könnte man heute nicht auch von einer «Grossen Mediation» sprechen? Gibt es zwischen der «Grande Nation»35 und dem «Grand Empire»36 nicht auch das «Grand Consulat»?37 Man könnte per analogiam den Ausdruck «Grosse Mediation» – mit Grossbuchstaben – riskieren, um diese Periode zu bezeichnen, welche auf den Namen ihrer Gründungsakte getauft wurde und – einmalig in unserer Geschichte – so den seines Schöpfers in Erinnerung ruft.

«Die Grosse Mediation»: zugegebenermassen ein etwas provozierender Vorschlag, um ein Gegengewicht zur «Mediation» herzustellen, auch dies eine Wortwahl von Historikern,38 eine Zeit, die eine wenig glorreiche, wenn nicht gar schimpfliche Episode darstellt, die zwar kurz, aber doch zu lang war in einem langen Heldengedicht, welches die Schweizer Geschichte gewesen wäre. Die Geringschätzung, an der die Mediation leidet, ist die Frucht einer überschwänglichen Geschichtsschreibung,39 die unter dem Beiwort patriotisch ihren Nationalismus oder vielmehr ihren chronischen Lokalchauvinismus schlecht verbirgt, den des «Sonderfalls» und des «Alleingangs», zwei Aspekte eines zutiefst anti-europäischen Isolationismus.

Der heutige Prozess der Schaffung Europas lädt dazu ein, die Geschichte seiner Nationen und Staaten unter einem neuen Gesichtspunkt zu lesen. Die napoleonische Episode erscheint dann wie ein Versuch unter anderen, den alten Kontinent zu vereinigen, diesen westlichen Fortsatz von Asien. Vom heutigen Vorstoss zur Einigung Europas, der auf einem gemeinsamen Vorgehen und gegenseitiger Zustimmung der Völker und Regierungen beruht, unterscheidet sich die Methode Napoleons grundlegend. Dieser wird oft «der glückliche General» genannt – und beinahe wäre es ihm gelungen, als Engländer geboren zu werden.40 Sein Einigungsversuch stützte sich zumindest teilweise auf römische und karolingische Modelle. Geistreich hat Napoleon versucht, die «brüderliche Vereinigung der Völker» gegen die Regierungen, die gegenüber den Grundsätzen von 1789 feindlich eingestellt waren, auszuspielen. Nachdem diese ideologische Feindseligkeit nach zwei Jahrhunderten ganz oder beinahe verschwunden ist, scheint die Idee der Menschenrechte41 den Vereinigten Staaten von Europa, die ohne jeglichen Hegemonieanspruch einer Nation über die andere aufgebaut wurden, eine neue Chance zu geben.

Welches sind im Rückblick von 200 Jahren die wesentlichen Resultate unserer Grossen Mediation? Ihr erstes Verdienst ist zweifelsohne, der Schweiz mitten in einem vom Krieg heimgesuchten Europa den Frieden bewahrt zu haben: In der Tat ist der wesentliche Pluspunkt der Grossen Mediation, dass sie das Land nach innen befriedet hat und gegen aussen den Frieden zu bewahren vermochte.42 Doch konnte die selber nicht im Krieg stehende Schweiz dem gemeinsamen Schicksal Europas, welches durch die unaufhörlichen militärischen Auseinandersetzungen erschüttert wurde, nicht ganz entgehen. Von 1803 bis 1813 folgten vier Kriege aufeinander. Hunderttausende von Männern wurden mobilisiert, und Zehntausende von Toten und Verletzten waren zu beklagen, von den Opfern unter der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen. Da die Schweiz sich durch die «Capitulation militaire», einen militärischen Staatsvertrag von 1803, an das französische Imperium gebunden hatte, war sie verpflichtet, der «Grande Armée» dauernd 16 000 Mann zu stellen. Dies gelang ihr nur mit Schwierigkeiten. Im Verlauf der Jahre wurde die Rekrutierung wegen der immer zahlreicher werdenden Abgänge, welche ununterbrochen Löcher in die Bestände rissen, zunehmend schwieriger. Es gab Deserteure, Widerspenstige oder solche, die sich selbst verstümmelten. Man weiss auch – noch dramatischer –, dass Schweizer, welche in französischen oder spanischen Armeen dienten, sich gegenseitig bekämpften, so geschehen in der fürchterlichen Schlacht von Baylen in Andalusien (1808).43 «Das Schweizer Blut wurde durch Schweizer Hände vergossen», um das Wort Napoleons wieder aufzunehmen, welches er mit Bezug auf den Bürgerkrieg in der Schweiz 1802 ausgesprochen hatte.

DIE MEDIATION, EINE UMFASSENDE REGELUNG DER SCHWEIZERISCHEN PROBLEME

Übrigens sind die grossmütigen, universellen Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, die 1789 proklamiert und bald in ganz Europa verbreitet wurden, der Geschichte der Grossen Mediation nicht fremd: Die Akte von 1803 wurde durch sie direkt inspiriert.44 Die Historiker sind sich heute einig: Im Gegensatz zu dem, was die Handbücher in ihrer Besessenheit, an die alte Freiheit der untergegangenen Eidgenossenschaft anzuknüpfen, während zu langer Zeit lehrten, war der Föderalismus, zu dem die Schweiz durch die vom Mediator vermittelte Übereinkunft zurückkehrte, nicht mehr derjenige des Ancien Régime. In Wirklichkeit begründete die Akte von Paris einen neuen Föderalismus, basierend auf der Gleichheit von Ständen und Personen.45 So kennzeichnete das Jahr 1803 den zweiten Tod des vormals wurmstichigen und nicht mehr zeitgemässen Föderalismus, welcher ein erstes Mal 1798 von der Bühne der Weltgeschichte weggefegt worden war. Er wiederholte sich 1848 ein drittes Mal bei der Gründung des eidgenössischen Bundesstaates, welcher auf die Föderation der Staaten von 1815 folgte, und sogar ein viertes Mal 1874 durch die Verstärkung des Zentralstaates von 1848. Mit anderen Worten: Der Föderalismus hörte nicht auf, sich zu entwickeln, blieb aber auf der soliden Basis von 1803 verankert. Deshalb ist die Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Mediationsakte im Jahre 2003 vollauf gerechtfertigt.

In den Augen der Urner bestand die Grösse des Ersten Konsuls darin, ihnen ihre «glückliche Vergangenheit» zurückgebracht zu haben. Im Klartext, die Bedeutung der Männer der Mediation besteht darin, von Paris zunächst eine globale Regelung des Schweizer Problems in einer für beide Seiten annehmbaren Form einer Befriedungsübereinkunft erreicht zu haben, welche zwei Punkte beinhaltet: Abschaffung des Regimes der Helvetischen Republik (effektiv am 10. März 1803), Wiederverhandlung des offensiven und defensiven Allianzvertrages von 1798, welcher an der Tagsatzung von Freiburg im Sommer 1803 in Angriff genommen und am 27. September durch die Unterschrift des defensiven Allianzvertrages, versehen mit einer Kapitulation, beendet wurde. Die neue Allianz von Freiburg – erinnert sie nicht an diejenige von 1516?46 – verschaffte der Schweiz auf dem internationalen Parkett eine Glaubwürdigkeit, die mit derjenigen unter dem Ancien Régime vergleichbar war und folglich von feindlichen Mächten Frankreichs nur schwer strittig gemacht werden konnte.

 

Die Schweiz – «neutral und Alliierter von Frankreich», das war schon ihr Status in der Epoche der Ewigen Allianz (1516) – bekommt so den Frieden zurück, den sie vor 1798 genoss, einen Zustand, der von ganz Europa respektiert wurde, auch wenn er immer wieder bedroht und gefährdet war. Die gleiche Situation bestand auch während der Mediation. Wenn man in Betracht zieht, welche Erfahrungen die Schweiz im 20. Jahrhundert während der zwei Weltkriege gemacht hat, kann man den psychologischen Druck ermessen, den die Kriegsgefahr zur Zeit Napoleons auf das Land ausübte, zumal wenn man berücksichtigt, dass während der Mediation innerhalb von nur zehn Jahren die Eidgenössische Armee drei Mobilmachungen erlebte (1805, 1809, 1813). Droht der Schweiz wieder eine Besetzung wie 1798/99? Wird sie von neuem zum Schlachtfeld Europas? Solche Fragen beunruhigten die Schweizer dieser Epoche.

Jeder Staatschef Frankreichs, von König Franz I. bis zu Kaiser Napoleon I., also während ganzer 300 Jahre,47 war Alliierter, Vermittler und Arbeitgeber der Schweizer. Die Übereinkunft von 1803 fand ihre Berechtigung in der jahrhundertealten Tradition von gegenseitigen Rechten und Pflichten des Völkerrechts und war für die damaligen Verhältnisse weder schockierend noch unehrenhaft. Die Neutralität war für die Schweizer ein charakteristisches politisches Verhalten, welches hauptsächlich auf unilateralen Erklärungen beruhte und kein juristisches Statut war, das die internationale Gemeinschaft und das Corpus helveticum vertraglich verpflichtet hätte. Erst beim Wiener Kongress 1815 und im Vertrag von Paris wurde die Schweizer Neutralität offiziell anerkannt, umschrieben und garantiert;48 anerkannt im Interesse von ganz Europa und definiert als «immerwährende und bewaffnete Neutralität».49 Somit kann man sagen, dass die Neutralität wie auch der Föderalismus sich der Entwicklung anpassten, was ein Zeichen von Vitalität und ein gutes Omen für die Zukunft war.

DAS LAND MIT «WENIGER STAAT» DYNAMISIEREN

In Frieden leben in einem Europa im Krieg, Revolution und Tradition miteinander aussöhnen, das sind die zwei Wagnisse, welche die Mediation einging und gewann. Es gibt noch ein drittes, nicht kleineres Wagnis, das sie auch bestand, nämlich das Land mit «weniger Staat» zu redynamisieren, um einen heute modischen Ausdruck zu gebrauchen. Effektiv bedeutete die Rückkehr zum Föderalismus nicht nur den Verzicht auf das zentralistische politische System, welches durch die Helvetik eingeführt worden war, sondern auch die Abschaffung administrativer Instanzen, die es erlaubt hätten, eine wirklich nationale Verwaltung der Ressourcen und der Infrastrukturen des Landes einzuführen oder zumindest in Betracht zu ziehen. Zentrale Administrationen, nationale Inspektionen oder Verwaltungen, diese Organe hatten (oder hätten) den Auftrag gehabt, sich mit der Leitung der Minen, hauptsächlich der Salzminen, mit der Verwaltung von Wäldern, Verkehrswegen, Zöllen und Gebühren, Post und Gütertransport, Mass und Gewicht, Geld und Steuern zu befassen. Seit Frühling 1803 begann die Auflösung dieser weitläufigen Organisationen, da sie als zu kostspielig beurteilt wurden und faktisch die Staatskasse stark belasteten. Die Kantone verteilten nach territorialen oder demografischen Kriterien die Übernahme der für ihr eigenes Funktionieren notwendigen oder für die Eidgenossenschaft unentbehrlichen Sektoren und vernachlässigten den Rest. Daraus resultierte die Aufhebung von bis anhin nützlichen Verwaltungen, zum Beispiel für die Wälder. Von den erwähnten gemeinsamen Aufgaben, die auch gemeinsam finanziert wurden, übernahm die Mediation nur diejenigen für Verteidigung (Armee) und auswärtige Beziehungen (Diplomatie).50

Trotz diesem Hindernis hat die Schweiz der Mediation gerade durch die Zusammenarbeit der Kantone mit Erfolg versucht, das Land nach dem Bürgerkrieg von 1802 und dem Sturz der Helvetik wieder vorwärtszubringen und auf gewissen Gebieten sogar die nationale Modernisierung weiterzuverfolgen. Diese hatte im Enthusiasmus der Revolution von 1798 begonnen, wurde aber bald durch das Zusammentreffen von zwei Faktoren verhindert, einerseits durch das Nichtfunktionieren des neuen Regimes, andererseits durch Sabotage jener Kreise, die aus verschiedenen Gründen der Revolution und der Helvetik feindlich gesinnt waren. Es gehört sich, wenigstens ein summarisches Inventar der realisierten politischen, ökonomischen und kulturellen Leistungen der Eidgenossenschaft der 19 Kantone aufzustellen.51

DER NEUE FÖDERALISMUS: KANTONALE UNABHÄNGIGKEIT TROTZ NATIONALER VERBUNDENHEIT

Die neue Schweiz beginnt auf einer gesunden Grundlage. Sosehr 1802 ein «Annus horribilis» voller Not gewesen war, so sehr war 1803 ein «Annus felix», ein glückliches Jahr. Die äusserst positive Reaktion des Kantons Uri auf die Ankündigung der Mediationsakte vom 18. Februar wurde von den achtzehn anderen Kantonen gemäss den Pressestimmen einstimmig geteilt. Dies galt sowohl für die neuen Kantone, welche im Sturm für die Sache gewonnen wurden, als auch für die alten direkten Demokratien der Zentralschweiz oder die Patrizier- und korporatistischen Stände des Mittellandes. Der Grund für diesen Enthusiasmus ist einfach: Die Akte von Paris war eine enorme Überraschung. Die 60 Abgeordneten, welche im Herbst 1802 die Reise in die französische Hauptstadt unternommen hatten, waren in grosser Mehrheit Anhänger des zentralistischen Einheitsstaates (Unitarier) und der Helvetik. Nun hatte aber der Föderalismus den Sieg davongetragen.52 Dem Mediator war es gelungen, beinahe alle auf seine Formel zu bringen. Die neuen Kantone wurden dank der Annahme des föderalen Systems nicht nur anerkannt, sondern auch auf die gleiche Stufe mit den alten gestellt, welche ihrerseits nur davon träumten, ihre althergebrachte Freiheit wiederzugewinnen. Bern und Zürich, die um einen Teil ihres bisherigen Territoriums zum Vorteil der neuen Kantone amputiert worden waren, hatten allen Grund, verärgert zu sein. Die Patrizierklasse aber, welche aus ihren Machtpositionen in der Helvetik verdrängt worden war, kehrte zu ihren Geschäften zurück und fand wieder Einfluss und Prestige in den zwei stolzen Städten am Ufer der Aare und der Limmat, was für sie die Hauptsache war. Ausserdem mussten sie in den Räten den zahlreichen Bürgern und reichen Aargauer, Thurgauer und Waadtländer Bauern, die jetzt bei sich selber Meister waren, nicht gegenübertreten. Deshalb gewann die laute Freude auch den Berner Bären und den Zürcher Löwen. Auf dem politischen Fechtboden kommt es selten vor, dass die beiden miteinander tanzen!

In diesem vorteilhaften Klima kehrte das Vertrauen wieder zurück. Es erlaubte, dem Wiederaufbau des materiell und moralisch ruinierten Landes die notwendige Energie zu verpassen. Die darniederliegende Schweiz konnte mit keinem Marshallplan rechnen, sie musste die Verantwortung selber übernehmen. Die Aufgabe war gigantisch: Man musste politische und administrative Behörden für alle Hierarchiestufen einsetzen, unverzüglich Gesetze erlassen und gleichzeitig die täglichen öffentlichen Aufgaben erledigen, die vom untergegangenen Regime zurückgelassene enorme Schuld abbauen, die Städte, die vorher den Staat verkörpert hatten, mit genügenden Ressourcen versehen, die öffentlichen Finanzen sanieren und ohne Verzug Steuern erheben, die neuen kantonalen Münzen schlagen und in Zirkulation setzen, die Armee durch Schaffung kantonaler Milizen reorganisieren, das Räderwerk der interkantonalen Zusammenarbeit (Konkordate) gestalten und einspielen, die bilateralen Verträge mit dem Ausland aushandeln, die Beziehungen zwischen Kirche und Staat (Rückgabe der durch die Helvetik eingezogenen Vermögen an die Klöster) verbessern und vieles andere mehr. Die neuen Kantone waren speziell gefordert, denn sie mussten lernen, sich politisch und administrativ selber zu verwalten. Aber die neuen Eliten – die Herausforderung verpflichtet! –, die das Steuer des Staates in die Hand nahmen, waren motiviert und kompetent. Sie hatten den Vorteil, ex nihilo arbeiten zu können, im Unterschied zu den alten Kantonen, die mit den altmodischen Traditionen, beladen mit dem Gewicht der Vergangenheit, und den eingeschliffenen Gewohnheiten, welche schwierig aufzubrechen waren, fertigwerden mussten. In Tat und Wahrheit reüssierten die alten und neuen Kantone gleichermassen, was dem ganzen Land zugute kam.

Die 19 Stände waren rechtlich gleichgestellt, faktisch aber sehr verschieden. Oberfläche und Bevölkerung, Relief und Klima, natürliche Ressourcen über und unter dem Boden, Infrastrukturen, wirtschaftliche Tätigkeiten, dies alles unterschied sie – ganz zu schweigen von den Sprachen, Konfessionen und Mentalitäten. Der Graben war breit, der die grössten von den kleinsten, die am meisten begünstigten von den am schlechtesten dastehenden, die mächtigsten von den schwächsten, die reichsten von den ärmsten trennte. Glücklicherweise bestand in diesem Mosaik ein gewisser globaler Ausgleich der Machtverhältnisse: Nicht alle kleinen Kantone lagen im Gebirge, und nicht alle Gebirgskantone waren arm. Ebenso erstreckte sich das fruchtbare und blühende Mittelland nicht nur auf protestantische Kantone, und die entstehende Industrie, welche von der Energie der Flussläufe abhing, war nicht das Monopol der Städte. Die guten Nachbarschaftsbeziehungen erleichterten die Lösung der Probleme und Streitigkeiten. Auf der Schweizerkarte – dieses «sechsten Kontinents» gemäss einem launigen Einfall von Talleyrand am Wiener Kongress53 – erkennt man geopolitische Realitäten von überkantonalen Regionen, die Solidarität schufen, eine Barriere gegen den Egoismus des «Kantönligeistes». Kantonale Unabhängigkeit in gegenseitiger eidgenössischer Abhängigkeit, so scheint, verkürzt auf einen politischen Aphorismus, das dauerhafte Resultat der Mediation gut beschrieben zu sein in einem Staat, in dem es keine Untertanenländer mehr gab und keine Privilegien des Standortes. Der Übergang von der Föderation der Stände zum eidgenössischen Staat 1848 ändert nichts an dieser Tatsache, ausser dass die nationale Interdependenz gegenüber der kantonalen Unabhängigkeit zunahm und seither nie aufgehört hat, tendenziell zu wachsen.

EINE NEUE «POLITISCHE KULTUR»

Die harmonische Koexistenz, Resultat der Befriedung und der wiedergefundenen Stabilität, zeigt während der Mediation eine politische Kultur, die sich im totalen Bruch mit derjenigen der Helvetischen Republik sehen will. Die Schlüsselwerte des neuen Regimes könnten auf dem politischen Aktionsfeld «parteilos» (sans-partisme) und «Ultra-Zentrismus» heissen, die eine wie die andere politische Haltung vor der Mediation noch suspekt und unter dem abwertenden Begriff des «Moderantismus» verpönt. Die neue politische Kultur, die mit ihrem speziellen Wortschatz und ihrer eigenen Grammatik versehen war, gründete auf einer Moral, die von drei Kardinaltugenden mit den Namen Mässigung, Unparteilichkeit und Weisheit beherrscht wurde. Sie waren expressis verbis in der Mediationsakte aufgezählt,54 was aus ihr einen eigentlichen Code der politischen Ethik machte, ein sehr seltener Fall in der Geschichte des Völkerrechts. Ein Grund mehr, sich damit näher zu befassen.

Wenn man unter dem Begriff «Moderantismus» Moderation oder Mässigung versteht, ist die offizielle Moral der Mediation paradoxerweise eine Kriegserklärung an die «passions politiques», an die glühende politische Leidenschaft: das Wort figuriert auch in der Akte von 1803, die ihren «Einfluss»55 öffentlich verurteilt. Streng genommen handelt es sich um einen heiligen Krieg, der zwar nicht so genannt sein will – wenn man mit den Soziologen darin übereinstimmt, dass jedes politische System, welches sich seiner Werte bewusst ist und sie zu propagieren trachtet, in einer mehr oder weniger offenen Art und Weise eine zivile Religion ist. Ist die Mediation eine eifrig-leidenschaftliche Anhängerin der Mässigung? Der «Parteigeist», als scharfe Form der Leidenschaft und als Gärstoff von heftigen politischen Kämpfen der Helvetik empfunden, wird auf die Anklagebank gesetzt. Seit der Mediationsakte «zwischen den Parteien, die die Schweiz teilen» sind alle Parteien aufgehoben. Der «Parteigeist» wird als Zerstörer des sozialen Zusammenlebens gebrandmarkt.56 Er ist seitdem aus dem politischen Savoir-vivre verbannt. Der gute Patriot ist eingeladen, ihn öffentlich zu denunzieren, der Präfekt und der Polizist, auf ihn Jagd zu machen.

 

Allerdings ging man nicht so weit, die Gerichte einzuschalten. Man begnügte sich mit der moralischen Verurteilung und zettelte keine politischen Prozesse an, denn die Mediationsakte verbot dies mit ihrer Amnestieklausel (Teil II, Art. XIII) ganz formell. Es gab deshalb während der Mediation keine Verurteilungen wegen «Vergehen in Bezug auf die Revolution». Die Frage hatte sich zwar gestellt. Die Amnestie verordnete also von Amtes wegen die nationale Versöhnung. Sie übte die erwartete Wirkung auf die Befriedung aus: Auf die Aktivseite der Mediation kann man das Fehlen von jeglichem politischem Mord, Putsch oder Putschversuch setzen. Zwar wurde das neue Regime gleich zu Beginn von einem schweren Volksaufstand getroffen, dem einzigen, dem berüchtigten Bockenkrieg. Die Strenge, mit der er unterdrückt wurde, widerspiegelt die Verhärtung des Strafrechts gegenüber jenem der Helvetik – Wiedereinführung der Folter und der Todesstrafe –, sagt aber noch mehr aus, wie wir gleich sehen.

Die öffentliche Volksstimmung – zu unterscheiden von der öffentlichen Meinung, die keine moralische Verbindung kennt57 –, basiert primär auf dem Respekt vor der Autorität, deren Prinzip immer wieder von Staat und Kirche, die sich dabei gegenseitig unterstützen, überall bekräftigt wird. In der staatsbürgerlichen Gesinnung (civisme) der Mediation hatte der Respekt vor der Autorität Vorrang vor dem kritischen Geist. Die Vorherrschaft des Autoritätsprinzips trachtete danach, die Legitimität der legal errichteten Macht zu verklären und das Vergehen wegen Ungehorsams schärfer zu gewichten. Das ist deshalb so wichtig, weil das Strafrecht sich von der Mediationsakte beeinflussen liess, die ausdrücklich den Straftatbestand der kollektiven Revolte vorsah.58 Da es kein eidgenössisches Strafrecht gab, diente in diesem Punkt die Mediationsakte den 19 Kantonen als gemeinsame Grundlage.

Kann die öffentliche Volksstimmung, durchtränkt von Mässigung und Respekt vor der Autorität, das militante Verhalten in der Politik anheizen? Wenn ja, wäre das nicht heimtückischerweise eine schleichende Militanz eines einheitlichen ideologischen Gedankenbreis, eine breite Neutralisationskampagne des Geistes und eine Ermutigung zur Selbstzensur? Die «weisen Denker und Freunde des Guten», um nochmals die Akte von 1803 anzuführen, hatten nur ein einziges Ziel: «die Befriedung und das Glück der Schweizer».59 Das war ihr Glaubensbekenntnis, eine milde Ausdrucksweise, um eine schöne Sache zu verteidigen, aber ohne öffentliche Debatte in den Parteien oder in den Zeitungen. Die Presse war streng überwacht, und ein Pluralismus der Meinungen konnte sich nicht entfalten. Die Wahlen liefen ohne Wahlkampf ab. Das politische Engagement hiess: «allgemeine Sammlung im Zentrum», das famose «juste-milieu», Treffpunkt der biederen Bürger, der «honnêtes gens». Diese mieden die «Grossmäuler» (»exagérés»), die «Prinzipienreiter» (»principiers»), «Anarchisten» und andere «Jakobiner», alles Parteien, die noch 1802 behaupteten, das Gesetz zu diktieren, und deren Sektiererei, wie man sagte, das Land in die Anarchie und den Ruin60 getrieben hatte.

Man muss eingestehen, dass der Ultrazentrismus, die beherrschende und gewissermassen geradezu offizielle Ideologie, das politische Leben61 betäubte. Von heute aus gesehen führt diese Situation unvermeidlich zu der Frage: Wie stand es mit der Demokratie in einem solchen Klima? Dieses Wort kam nirgendwo vor: Presse, offizielle Ansprachen und Gesetzestexte kannten es nicht. Man findet es auch in der Mediationsakte nicht, welche die 19 kantonalen (nicht vorhandenen) Verfassungen vertritt. Ist diese Feststellung ein bedrückendes Zeugnis für das Regime? Rechtlich gesehen existierte die repräsentative Demokratie, aber mit Einschränkungen: keine Gewaltentrennung, ein stark einschränkendes Zensuswahlsystem, welches die Herrschaft der Reichen favorisierte, und beschränkte Redefreiheit. Umgekehrt waren die persönlichen sowie die Klassenprivilegien offiziell aufgehoben, die Niederlassungs-, Handels- und Industriefreiheit aber garantiert. Bilanz des Inventars: Das verfassungsmässige System, welches durch die Mediationsakte eingeführt wurde, war mehr liberal als demokratisch.

Jedes politische System wird auch und vielleicht vor allem durch die Geistesverfassung bestimmt, die es beseelt. Dasjenige der Mediation war von der Ablehnung jeglicher Unordnung und Anarchie geprägt. Die nationale Versöhnung und der Geist der Eintracht – das Gegenteil von Parteiengeist – zwangen zum Vergessen der «Helvetik», die aus Frankreich importiert wurde, aus dem gleichen Frankreich, das durch die Stimme seines neuen Herrn die Nutzlosigkeit der Helvetik anerkannt hatte. In den Augen der damaligen eidgenössischen Führungsschicht musste man jetzt das Blatt wenden, auf einer neuen Grundlage wieder anfangen und in die Zukunft blicken.

WIRTSCHAFTLICHE ERHOLUNG MIT LANDWIRTSCHAFTLICHER HEGEMONIE

Im Frieden mit sich selbst und auf dem internationalen Parkett offiziell neutral, gelingt es der Schweiz in der sogenannten Grossen Mediation, mit einem zentralen politischen Apparat, der auf die einfachste Form reduziert wurde – ein weiterer Zug von Grösse –, sich wirtschaftlich zu erholen. Auch hier gibt die Mediation, die vom wiedergefundenen Frieden profitiert, nach der endgültigen Ablösung von der Helvetischen Republik den Anstoss dazu. Freiheit von Handel und Industrie, deren Idee 1798 proklamiert wurde, wird 1803 aufrechterhalten. Auch die Binnenzölle, die schon von der Helvetik abgeschafft wurden, werden bei der Wiedererrichtung der kantonalen Grenzen nicht mehr eingeführt. Diese zwei Grundbedingungen schaffen einen gemeinsamen eidgenössischen Markt, der Austausch und Konkurrenz, Privatinitiative und Unternehmungsgeist anregt. Wenn wir noch berücksichtigen, dass die öffentliche Gewalt sich in die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht einmischt, so versteht man die Bourgeoisie, die sich dafür einsetzt, wie ein sich gewählt ausdrückender Historiker richtigerweise geschrieben hat, dass «der Profit nicht auf sich warten lässt».62 Dieser Profit fliesst ebenfalls und sogar hauptsächlich aus den Exporten, wobei Europa der erste Kunde der Schweizer Produkte ist. Darum kann man sagen, dass «weniger Staat» diesen ersten Boom der schweizerischen Wirtschaft ermöglicht hat und es nur noch ein kleiner Schritt ist bis zur Ideologie des «laisser faire, laisser passer».

Diese Schlussfolgerung berücksichtigt allerdings nicht, dass die Tagsatzung, zuständig für die Aussenpolitik der Konföderation – inklusive Import und Export –, auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht untätig geblieben ist. Ein nicht zu vernachlässigender Teil ihrer Aktivität, der vom Landammann wahrgenommen wurde, war den Verhandlungen mit den Nachbarländern über gegenseitige Verträge gewidmet. Mit anderen Worten, man muss die vermeintliche Schwäche an der Spitze des konföderativen Staates relativieren, wenn man berücksichtigt, welche grosse Verantwortung der vorsitzende Landammann trug. Eine Frage, die die Wirtschaftshistoriker nur indirekt beantwortet haben, bleibt offen: War die Tagsatzung zur Zeit des vorindustriellen Europa, wo nach Meinung einiger ein «rücksichtsloser Liberalismus» herrschte, nur das Triebrad der schweizerischen Arbeitgeber? Einer Arbeitgeberschaft, die zwar in voller Entwicklung und noch schlecht eingespielt war, deren Wichtigkeit sich aber rasch zeigte.