Die 8te Pforte

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Lore-ley


„Und wieso kann ich alles doppelt sehen?“, versuchte ich herauszufinden, denn gleichzeitig lag ich unten im Bett und konnte die beiden verschiedenen Frequenzbereiche um mich herum deutlich wahrnehmen, die sich wie die Speichen eines Rades um eine imaginäre Nabe in meinem Kopf drehten. Auf der geistigen Sphäre, die mir entgegenstrebte, kündete mir mein innerer Wächter den Eintritt in eine andere Welt an, während auf der materiellen Ebene Lore, die diensthabende Ärztin vom Notfall, meine Aura berührte: „Manchmal reißt die Nabelschnur“, hörte ich ihre Stimme im Raum, „mit dem der Verstand die Welt zusammenhält, und das Bewusstsein kann sich einen Moment lang in mehrdimensionalen Bewusstseinszuständen verlieren, in denen Raum und Zeit aufgehoben sind. Deshalb pendelst du in diesem Augenblick zwischen Verstand und außerkörperlicher Wahrnehmung, denn du stehst im Begriff, dich von deinem Leib zu lösen, und im Augenblick stehen dir beide Türen offen.“

Szenenwechsel: Wie auf einen Paukenschlag ertönte plötzlich eine mehrdimensionale Stimme neben mir: „Nur dem, der am Ende seines Weges angekommen ist, zeige ich mich als sein Spiegelbild.“ Die Leuchtkraft war verschwunden und die Gestalt verschmolz nahezu mit der Dunkelheit. Jemand erfasste meine zitternde Hand und sprach: „Deshalb erscheine ich dir als dein blinder Wächter, der dich führt und dem du in deiner dualen Wahrnehmung begegnen kannst, ohne dass du von ihm verschluckt wirst. Denn wärst du nicht durch deine eigene Blindheit geschützt, würden dir deine inneren Bilder um die Ohren fliegen, denn alles, was du hier erlebst, sind deine unkoordinierten Gedankenströme im Hirn.“

„Was ist denn nur los?“, seufzte ich laut. „Meine duale Wahrnehmung ist doch auch eine Seite vom Ganzen und gehört zu mir. Sie ist Teil meines Wesens und zeigt mir alles, was ich sehen muss, um zu erkennen, was in dieser Welt vorgeht. Ohne sie hätte ich keinen Maßstab, um zu beurteilen, was ich in diesem Augenblick empfinde“, quengelte ich weiter. Ich musste meine Gedanken einen Moment lang ordnen. „Warum gibt mir keiner die Möglichkeit, mein Ende aktiv zu gestalten, um sehen zu lernen? Nur wenn ich das schaffe, kann es mir auch gelingen, mich selbst zu erkennen!“

Jemand schaute mich aus Meinem Spiegel bekümmert an und in seinen leeren Augen lag so viel Traurigkeit, dass ich heftig zu weinen begann. Mit einem Mal spürte ich das sensible Gefühl meiner Emotionen. Mich überfiel eine unglaubliche Seelenqual. Ich musste unwillkürlich schluchzen und umarmte ihn. Dann explodierte mein Kopf; ich spürte einen heftigen Schlag.

Im nächsten Moment erlebte ich eine Vision auf der inneren Bewusstseinsbühne und plötzlich wusste ich, wer ich war: „Ich bin aus vielen multiplen Teilen zusammengesetzt, von denen jeder seine eigene Erinnerung besitzt, die sich durch den Geist erkunden lassen, wenn der Mensch seine Träume und seine außerkörperlichen Erfahrungen nacherleben will“, war meine innere Botschaft. „Und wer bist du?“, brüllte ich noch unter Schock.

„Ich bin Dein inneres Bild“, sagte die Erscheinung neben meinem Bett ungerührt, „nicht Niemand, sondern eine gefühlte Projektion deiner inspirativen Selbstwahrnehmung!“ Ich schaute die Gestalt im Spiegel nur verwundert an.

„Was für eine Projektion?“, wollte ich wissen. Mir wurde augenblicklich schwindelig und ziemlich schlecht. Sofort schlief ich nochmals ein und erst im Traum hatte ich wieder das Gefühl, mich selbst zu sein.

„Eine Art seelische Verwandtschaft oder ein Gefühl starker innerer Verbundenheit“, erwiderte mir Mein gespiegeltes Bild im Traum, „was auf eine gefühlte Verbindung zwischen Wesen aus verschiedenen Welten hinausläuft. Solche, die sich anziehen, verströmen in dem Moment, da der Funke zündet und überspringt, die gleichen miteinander korrespondierenden Energieteile. Das ist übrigens das Geheimnis, das wir als Liebe empfinden, und die Art der Aneinanderreihung dieser Informationen führt am Ende zu dem, was der Mensch die Entwicklung seiner multiplen Persönlichkeitsanteile nennt.“

Ich konnte seine Augen in der Dunkelheit leuchten sehen: „Was weißt du von der Wirklichkeit, die dich umgibt?“ Eine himmlische Gestalt in einem dunkelblauen Mantel stand vor mir und blickte mich unter ihrer Kapuze freundlich an. Die funkelnden Augen leuchteten in ihrem rötlichen Glanz aus der Tiefe der Finsternis hervor und ließen mich am ganzen Körper erzittern.

„Höre! Nur dem, der am Ende seines Weges angekommen ist, zeige ich mich in meiner wirklichen Gestalt“, spürte ich das Gesprochene tief in mir. „Du bist der Teil, der im Begriff ist, sich am Ende seines Lebens aufzulösen, und ich bin der unformatierte Teil deines multipersonalen Ganzen, und zwar schon lange bevor du in die Dualität geboren wurdest. Ich begleitete schon die meisten deiner Vorfahren, denn ich bin das lebendige Glied deiner Ahnenkette: Einerseits bin ich viel mehr, als du jemals sein wirst, und andererseits ist alles, was ich bin, auch nur wiederum ein Teil von dir. Nicht die Sehnsucht nach dem ewigen Paradies ist das Ziel, sondern die Sehnsucht des absichtslosen Geistes nach seinem maskenlosen, ewigen Nicht-Selbst!

Dann schlug er die Kapuze seines Mantels zurück und mit einem einzigen Blick wurde mir die Antwort klar: Ich sah mich selbst!



Kapitel 3

Niemands Traum

Ich sah auf die sich kräuselnden Wolkenschleier und während der Mond hinter den Wolken verschwand und wieder hervorkam, sah ich am Himmel oben im sanften Licht Ursi, die Glasmalerin, meine verstorbene Geliebte. Es war wie eine Einladung zur chymischen Hochzeit, wie sie mit ausgebreiteten Armen so erhaben dastand, und gleichzeitig hatte ich eine Stimme im Ohr: „Liebe wird erst dann endgültig und tritt auf den Plan, wenn das, was getrennt wurde, wieder vereinigt worden ist.“


„Kann das nicht auch eine Täuschung aufgrund menschlicher Einbildung sein?“, wollte ich vom Erhabenen wissen. Denn ich war mir nicht sicher, ob sich wahre Liebe in der dualen Welt unserer Materie überhaupt halten lässt.

„Gewiss! Es ist die nie versiegende Sehnsucht nach Liebe, die der Mensch noch einmal in seiner Erinnerung durchlebt und die jeder meistens in der frühen Phase der Verliebtheit oder in seiner ersten großen Liebe erfährt.“

Er lud mich ein, mich an alle meine Gefühle in meinem Leben zu erinnern und erklärte mir dann, dass sie der schwache Abglanz jenes Gottesfunkens wären, den die Menschen in Verbindung mit ihrer All-Seele auf der Ebene des kosmischen Bewusstseins erlebten.

Gleichzeitig breitete er überschwänglich die Arme aus und verkündete: „Allerdings ist in der Realität jede Art von überhitztem Liebesfeuer schnell wieder erstickt, denn in der Regel ist Liebe immer nur die Nähe zu sich selbst: die Hingezogenheit zu seinem eigenen Bild oder zum Spiegelbild der eigenen Anziehung, die uns im anderen erfreut. Zum anderen ist die Sehnsucht nach sich selbst die höchste Kraft, die unser Leben beglückt, und ohne sie gäbe es keine ständig neuen Illusionen, die uns die Sehnsucht nach Gott in der Seel-Sucht nach sich selbst immer und immer wieder vergessen lässt. Deshalb lautet des Teufels Spruch:

Dem Menschen wurde ein kostbares Geschenk gewährt:

Jeder darf erfahren, was Einssein bedeutet!

Immer und immer wieder …“

Doch bevor ich mir klar darüber wurde, was da eigentlich geschah, begannen sich die Bilder vor meinen Augen wieder aufzulösen. Nur eine Handvoll verglimmender Lichtpunkte blieb zurück, als ich mein Gesicht wie in einer kurzen Einblendung auf einer Parallelebene an der Zimmerdecke aufleuchten sah. Ich schüttelte den Kopf und drehte mich um.

„Mein Gott – dann habe ich dich die ganze Zeit verdrängt?“, sagte ich zu Niemand, der plötzlich so real neben meinem Bett stand, als ob es kein Traum wäre, in dem ich mich befand.

„Du hast mich nicht verdrängt“, erwiderte er mit einem entwaffnenden Lächeln, „sonst stünde ich ja nicht hier. Aus deiner Vergangenheit heraus betrachtet bin ich eine Projektion deiner zukünftigen Erinnerung, die du vorausgeschickt hast, damit du dich in deiner Zukunft an jemanden erinnern kannst, der dich an seine Vergangenheit erinnert, die er mit dir teilt.“ Zugleich fühlte ich Niemands Berührung im Schulterbereich: „Tritt ein! Wir sind am Tor des Erwachens, das zu den Nebeln der Träume führt …“

„Von was für Nebeln redest du?“ Für einen Augenblick glaubte ich sogar, den Kopf einer wunderschönen Frau im Widerschein des Mondlichts an der Zimmerdecke zu erkennen.

„Es sind die Schleier der Träume, in dem der Träumer im Traum sein Geträumtes sieht, denn dort gibt es nichts mehr, was ausserhalb seiner Träume liegt“, antwortete er ruhig. „Es handelt sich um eine fliessende, faszinierende Welt, die keinerlei Orientierung kennt und in der sich die Gefühle der Reisenden oft in Stimmungsschwankungen ausdrücken.“

 

Unwillkürlich schloss ich die Augen, bereit mit meinem eigenen Deckenbild zu verschmelzen, und als ich sie wieder aufmachte, sah ich in zwei Augen wie zwei kristallene Spiegel: „Gib dir keine Mühe! Es gibt nichts mehr, an dem du dich festhalten kannst.“ Der ganze Raum begann sich zu drehen.

„Aber wie können wir dann in die Träume hineingelangen?“ Als mich die Blicke stärker fixierten, verstärkte sich meine Übelkeit.

Niemand schaute mich so übertrieben wichtig an, als ob er mir den Sinn des Lebens erklären wollte, und sagte nur: „Indem du die Denkebene loslässt! Veräppelst du mich? Was bedeutet das?“ Ich war sehr verunsichert, denn ich wusste nicht, ob er mich verulkte oder nicht. Unkontrollierte Gedanken begannen in meinem Hirn zu kreisen und mündeten in einem heftigen Schwindel.

„Das bedeutet“, antwortete er nach langer Zeit, nachdem ich mich an die quälenden Erinnerungen schon allmählich gewöhnt hatte, „dass du dich in dieser Welt nicht mehr als vernünftiges, denkorientiertes Wesen begreifen kannst. Lass dein Denken los!“

Ich starrte auf die schwarzen Schatten, die der Mond an die Wand warf, und meinte darin für einen Augenblick unzählige schemenhafte Gesichter und Gestalten zu erkennen. Das Gesehene liess mich nicht mehr los, aber es hatte auch keinen Sinn mehr, mich dagegen zu sträuben. Ich wollte nicht mehr länger verdrängen.

„Solange du dich an deinen Gedanken festklammerst, dreht sich nicht die Welt, sondern dein Kopf und dir wird in der Realität ziemlich schwindlig, denn du blockierst die Spirale des Lebens“, setzte mein Begleiter seine Ausführungen fort, „sobald du sie aber losgelassen hast, versinkst du in multidimensionalen Weiten und Perspektiven, in denen sich dir ganz verschiedene übereinandergeschichtete Wirklichkeiten und Zeitebenen öffnen können. Das ist auch der Punkt, wo du jede deiner Seins-Ebenen als Maya, als materielle Verdichtung reiner Denkvorstellung erkennst. In der Begegnung mit der Seele begegnest du den okkulten Schleiern der Träume, in deren Formen alles fliessend erscheint.“

„Dann zeige mir die magischen Nebel dieser Träume“, forderte ich ihn auf.

„Die kann ich dir nicht im Aussen zeigen, denn sie existieren nur in deinem Kopf, erwiderte er und kräuselte die Lippen, „ich kann dich aber anleiten, wie du in deine Träume hineingelangen kannst.“

„Wenn sie aber nur in mir sind, wie kannst du dann wissen, wie detailliert ich in meine Träume hineingelangen kann?“, hakte ich nach. Ich wollte es genau wissen.

„Wir sind vom gleichen Fleisch und Bein“, entgegnete Niemand.

„Trotzdem habe ich das Gefühl“, sagte ich, von meinen eigenen Worten überrascht, „dass an deiner Geschichte irgendetwas nicht stimmt. Irgendwie fehlt mir der Zusammenhang. Worum geht es? Was verschweigst du mir? Irgendwie ergeben deine detaillierten Aussagen keinen Sinn.“ Ich wollte nicht mehr länger verdrängen. Ich war jetzt bereit, die andere Welt in meinem Inneren zu empfangen. Dann schloss ich die Augen.

„Du hast Recht! Lüge und Wahrheit unterscheiden sich oft nur aus der Sicht, aus der wir sie betrachten“, pflichtete er mir bei. „Es ist eine alte Geschichte, und sie ist wie ein böser Fluch.“

„Jaja, die entscheidenden Dinge sind oft verblüffend einfach“, erwiderte ich schon halb in Trance. Es war der seltsame Hauch, der vom Boden aufstieg, als ich zur Pforte an der Schwelle der Erinnerung lief und die alte Welt hinter mir zurücklies, jetzt erinnere ich mich wieder …“ Und mit einem Mal war mir klar, dass ich an seinen Gedanken teilhatte, denn ich kannte die Geschichte, wir hatten sie schon oft zusammen geträumt …“

„Es ist nicht leicht“, entgegnete er, „die richtigen Worte für etwas zu finden, was man nur in aussergewöhnlichen Phasen fühlen kann. Aber jetzt stehst du exakt an der Schwelle und bist eben im Begriff, in meine Geschichte einzutreten, die dadurch zu deiner eigenen wird. Versuch aber nicht zu ergründen, was ich dir künde. Sei offen und lass dein Herz atmen. Dann wirst du verstehen.“

„Ist das der Übergang?“ Einerseits fühlte ich seine Hand immer noch auf meiner Schulter, gleichzeitig hatte ich aber ein völlig anderes Bild und mir war, als ob ich in einem fremden Traum einen eigenen, wichtigen Lebensabschnitt betrat. Irgendwie existierte die Szene gar nicht wirklich, sondern umkreiste in einer unbeschreiblichen Gebäre das numinose Nichts, von dem meine begriffliche Welt nur ein Teil und meine Suche nach mir selbst wiederum ein noch kleinerer Ausschnitt ist. Mein einziger Halt war die innere Ahnung, dass ich in meinen eigenen Empfindungen, was auch immer passiert, ich selbst bin, und dass ich seinen Worten glauben konnte, auch wenn sie für meinen Verstand nicht leicht zu verstehen waren, denn irgendwie flossen sie aus mir.

Niemands unerlöste Liebessehnsucht

Es war vor langer, langer Zeit“, fing er mit seiner Geschichte an, während der Mond seinen leuchtenden Schimmer über die ganze Landschaft streute und die alten Bilder aus den versunkenen Stuben meiner Träume scheuchte, „als ich noch als Mensch auf Erden wanderte, nur von meiner inneren Stimme geleitet, die mich führte und jeden meiner Schritte prüfte. Es ging aber nicht nur um den Weg des Wissens, sondern auch um Erkenntnis und Weiterentwicklung all dessen, was ich liebte. Ich hatte in jener Zeit viel nachgedacht: Über die geistigen Kräfte, die in mir wirkten, über das Reich der Geister, das sich mit der Welt der Menschen ab und an in den Träumen vermischte und vor allem über die Liebe, die Menschen oft verführte.“


„Wessen Stimme?“, wollte ich wissen, denn der Wille hinter seiner inneren Führung schien mir nicht unvertraut. „Was waren das für geistige Einflüsse? Wurdest du von den Göttern geführt?“

„Ich wurde – ähnlich wie du – von meinem inneren Herrn Jedermann begleitet“, antwortete er mir, „eine Art Quasi-Seelenführer oder ein Teil von mir selbst. Denn ich hatte niemanden sonst, mit dem ich mich verstand. Es gab zu jener Zeit zwar viele andere geistige Begleitwesen, mit denen ich mich aber schlecht unterhielt, denn es waren keine, mit denen ich mich hätte tiefer austauschen wollen. Nur meine innere Stimme war immer da. Anfänglich dachte ich noch, ob ich nur ein Spielball meiner eigenen Erfahrungen wäre, ein willenloses Werkzeug, doch mit der Zeit entwickelte ich ein grosses Vertrauen zu der inneren Kraft und ich musste mir eingestehen, es gab für mich keinen besseren Begleiter auf diesem Weg.“

„Das war eine sehr mutige und auch recht abenteuerliche Einschätzung von dir. Die moderne Psychologie würde behaupten, du wurdest von einem abgespaltenen inneren Teil dirigiert“, warf ich ein. Aber ich hätte da noch eine Frage: „Ist Herr Jedermann für dich das, was du für mich bist: Niemand?“

„Mag sein“, erwiderte er. „Doch wer ist der, der glaubt, solche Kräfte benennen zu können? Nur weil Menschen solche Phänomene genau untersuchen und aus ihrer Verstandessicht zu einem verbindlichen Urteil kommen, heisst das noch lange nicht, dass solche Erkenntnisse richtig sind.“

„Da stimme ich dir zu“, lenkte ich ein. „Solche geistigen Wesenheiten sind oft viel mehr als nur abgespaltene innere Anteile.“

„Wenn du deine Empfindungen jetzt alle losgeworden bist und es dir hier auch recht ist“, spottete er in einem überaus freundlichen Ton, „dann würde ich meine Erzählung gerne hier fortsetzen wollen.“ Er hielt einen Moment inne und ich spürte eine sanfte Melancholie: „Ich hatte auf meinem Weg, wie schon angedeutet, sehr viel nachgedacht. Über den Weg, die Aufgabe und auch den Zweck und das Ziel, die meiner harrten. In der Zwischenzeit bemühte ich mich, die Beziehung zu Herrn Jedermann zu festigen, denn ich war entschlossen, das Geheimnis zwischen uns beiden zu lüften.“

„Sicher ein löblicher Versuch“, sagte ich höflich und schmunzelte leise.

„Und während ich mich mit meiner inneren Stimme beschäftigte, kam ich auf meiner Wanderung auch an die Unterweltsschwelle, aus deren Spalten es heftig rauchte und zischte“, setzte er seine Schilderung unbeirrt fort. „Während ich mich neugierig umschaute, begann es im gleichen Atemzug nach süsslichen Exkrementen zu stinken und ich hielt mir angewidert die Hand vor den Mund. Doch was war das? Irgendwie fühlte ich mich plötzlich beobachtet und Herr Jedermann liess plötzlich eine Saite in mir anklingen, die ich lange nicht mehr vernommen hatte. Gleichzeitig beäugten mich zahlreiche Blicke, denn als ich mich umsah, konnte ich erkennen, dass ich an der Pforte der libidinösen Unterwelt stand, der Hölle der unerlösten Liebessehnsucht, während dem mich Herr Jedermann aufklärte: Es seien dies die geistigen Blicke der abgeschiedenen Verführerinnen, die seit Urzeiten den Eingang zur Liebeshölle bewachten und eifersüchtig und unerlöst auf die männlichen Neuankömmlinge blickten.“

Einen Moment lang hielt er inne und auf einmal stürmte die Erkenntnis seiner Worte mit aller Gewissheit auf mich ein, als er weitersprach: „Für mich war das ein erster finaler Höhepunkt. Ich hatte damals den magischen Weg zum ersten Mal durchlaufen und hatte irgendwie das Gefühl, als müsse ich der Mutter noch etwas beweisen. Als müsse ich am Ende meines Weges noch ungestraft die Liebeswelt durchdringen, um zu zeigen, dass ich das Menschsein überwunden hatte und für alle Verlockungen der Sünde nicht mehr empfänglich war.“

„Das ist eine wahrlich kultig-verrückte Reise, von der du mir da berichtest“, stiess ich hervor, „eine richtige Initiation.“

„Das ist erst der Anfang. Mein innerer Jedermann wies mich an, noch tiefer in das kosmische Gedächtnis einzudringen“, erzählte er weiter. „Doch der Weg ist gefährlich, sehr gefährlich“, sein stimmlicher Ausdruck wechselte die Tonlage und wurde mit einem Mal ziemlich grimmig, „denn die Augen dieser verführerischen Sünderinnen bewachen, wie gesagt, diese mörderische Schwelle, die Liebende nur einmal im Leben betreten können. Die Liebe verschlingt sie und gebiert sie neu.“

„Liebe? Welche Liebe?“ Ich hob meinen Blick und schaute ihm direkt in die Augen. „Und wozu?“

„Wenn du die Liebeswelt betrittst, begegnest du immer auch dem unsichtbaren Teil der Grossen Mutter. Jeder Liebesfunke ist ein Teil von ihr“, verkündete er mir mit einer grossen Geste. „Sie ist die Grundlage, auf der alles gedeiht. Alle sind ein Stück von ihr mit Leib und Liebe, und sie sind nur lebendig, wenn sie von ihrem Bild beseelt werden.“

„Dann bist du in der Seelenwelt deinem Bild von der grossen Liebe begegnet?“, erwiderte ich mit leichter Besorgnis.

Er nickte: „Sie erscheint den Menschen nicht persönlich. „Männern schickt sie ein Bild der Liebe, jedermanns individueller Anima, die diese auf jede Frau übertragen können.“

„Das versteh ich nicht!“ Ich schaute ihn ziemlich ausdruckslos an. „Sie haucht dem Betroffenen ihren Atem ein, woraus dieser sein weibliches Seelenbild formen kann“, antwortete er ungewohnt psychologisch. Es ging ihm darum, mir die Beschreibung geistig näherzubringen: „Schon bald darauf erscheint sie ihm in Gestalt seiner Anima, die sein Liebesverlangen auslöst …“

„Das Verlangen nach Liebe“, warf ich ein, „das jeder Kerl auf seine Angebetete projiziert?“

„Nein. In meinem Fall war es das Suchbild der inneren Geliebten, die ich in mir trug.“ Irgendwie erschütterte mich diese Aussage.

„Ich verstehe nur Bahnhof!“ Immer noch überfordert gab ich meinem Unverständnis heftig Ausdruck: „Kannst du mir das vielleicht etwas deutlicher umschreiben?“

„Du musst meine Worte mit der Seele, nicht mit dem Verstand aufnehmen: Sobald er ihren Atem empfängt, schwingt er mit ihr in Resonanz und wird wieder ein Teil der schöpferischen Liebe.“

 

„Dann warst du am Ziel?“

„Das war noch nicht das Ziel, das war erst die Vorstufe zur Quelle, die zur Verschmelzung führt“, erwiderte er. „Sobald sich der Mann ruhig in ihrem Atem wiegt, erhält er als Belohnung ihren geistigen Abdruck …“

„Geistiger Abdruck …“, versuchte ich auf ihn zuzugehen: „Ist das eine Art Sehnsucht der Seele, die nach einer Form von Ebenbild drängt?“

„Ein geistiger Abdruck ist eine gasartige und flüchtige Substanz“, flüsterte er bewegt, „eine Form von wässerigem Dampf, in die der Mann seine ideale Vorstellung vom Weiblichen hineinprojizieren kann.“

„Du glaubst, es ist, bildlich gesprochen, eine Art leere Leinwand, die jeder mit seinen persönlichen Vorgaben füllen kann?“

„Es ist mein geistiges Bild von ihr“, sagte er, „dass mir ihre volle weibliche Schönheit spiegelt. Die einen nennen es Liebe, Psychologen nennen es Anima.“

„So konntest du aus dem Fluidum der Seele also deine Wunschfrau formen“, ich war ganz Ohr: „Und wie geht das Ganze aus?“

„Leider bin ich übers Ziel hinausgeschossen. Dabei bin ich am Bild meiner Liebe hängengeblieben, denn in den Träumen ist sie die Vermittlerin zwischen den Träumen und dem Ich. Um ihrer Liebe und Zuneigung teilhaftig zu werden, habe ich sogar der Warnung meines inneren Führers, Herrn Jedermann, misstraut. Jaja, ich war völlig neben den Schuhen“, lächelte er undurchdringlich, „ich dachte bei mir, was könnte es Erfüllenderes geben, als in ihren Armen zu sterben. Jede Nacht bin ich zu ihr in die Träume gepilgert und habe mich in der Glut meiner unerfüllbaren Sehnsucht gewälzt, weil ich ohne die Illusion ihrer Hingabe nicht leben wollte.

„Die Oper ist jedoch noch nicht zu Ende“, spürte ich. Mich konnte er nicht hinters Licht führen: „Wie ist die Geschichte wirklich ausgegangen?“

„Ich will es dir nicht sagen“, wich er zurück.“ Sei auf der Hut, Bruder, das Ende ist nicht schön, denn wir sind vom gleichen Schlag.“

Auf einmal verschob sich meine Perspektive. Ich sah nicht mehr ihn, sondern mich, denn ohne mich zu bewegen sah ich mich plötzlich vor mir stehen, und ich fragte mich, war ich der Träumer, der träumte, oder ein anderer, der träumte, der Träumer zu sein. Einen Augenblick lang erblickte ich mein eigenes Gesicht im Dunkeln glühen. Es war ein hypnotisches Leuchten, das von diesem glühenden Objekt ausging, und als ich es genauer musterte, begann es seinen Glanz zu verlieren und mir schien, als wäre es das Auge eines alten Mannes, der mich im eigenen Blick betrachtete, ein gespiegeltes Bild in einem Spiegel und zugleich Spiegel selbst, der zu mir sprach: „So sind wir uns ständig auf der Schwelle begegnet, denn sie ist mein Abbild der Göttin, welche die Geheimnisse meiner Innenräume berührt, und ich war der Verliebte, der ihr vorbehaltlos in die Schächte der Tiefe folgte, in die auch schon Faust hinabgestiegen war, um den Dämonen zu begegnen.“

„Aber wie bist du ihr entkommen?“ Ich war ganz Ohr.

„Ich bin ihr nicht entkommen“, flüsterte er kaum vernehmlich, „denn meine Sehnsucht hat sie viel zu stark gemacht. Ich konnte sie nicht mehr verfehlen.“

„Auch wenn du für diese Liebe am Ende alles opfern musstest?“

„Das verstehst du nicht! Liebe kann erlöschen, doch das Verlangen nach Liebe nie. Und es war die Sehnsucht nach Liebe, die mich als Wanderer zwischen den Welten festhielt.“

„Dann bist du ihrer Liebe nicht entkommen?“, entgegnete ich betroffen. „Du liebst sie noch?“ Ich schaute ihm tief in die Augen und wusste Bescheid. Ja, er liebte sie noch immer, ich spürte es genau.

„Ich bin nicht an ihrer Liebe, sondern an meiner Sehnsucht zerbrochen“, erwiderte er matt. Er beschrieb die Libido als eine Kraft, die das wahre Bindeglied zwischen dem Ego und der Welt ist.

Und zerdrückte sich eine Träne im Gesicht: „Der Hunger nach Liebe ist die höllischste Kraft, die unser Leben regiert. Sie zieht die Menschen als Liebende ein und spuckt sie als Sklaven der Libido wieder aus.“

„Das ist ja ungeheuerlich! Solche unerlösten Gefühle sind die Hölle.“ Im gleichen Atemzug brachte ich meine inneren Empfindungen auf den Punkt: „Die Liebe verschlingt sie alle und gebiert sie als Ungeheuer neu!“

„Ab und an sehe ich seltsame komische Dinge“, rundete ich zum Schluss meine Einwände ab, „von denen ich nicht einmal weiss, ob sie schon passiert sind oder sich noch zutragen werden. Irgendwie hoffe ich für dich, dass sie nur meiner eigenen Phantasie entspringen. Aber irgendwie scheint mir, du sitzt immer noch fest!“

„Trotzdem gibt es keinen Weg zurück“, er schien geknickt, „es gibt nur diesen Weg nach vorn, um zu erfahren, was man für den Umstand gewonnen hat, dass man die Bilder seiner Sehnsüchte für immer verloren hat: Nämlich die Freiheit zur Ewigkeit immer neuer Bilder und die unerschütterliche Freude am Ende als Voraussetzung zur immerwährenden Geburt. Geh jetzt, geh!“

„Bist du noch hier?“ Alte Bilder stiegen in mir auf und ich spürte ein starkes, seelisches Band, das mich mit ihm verknüpfte. Niemand stand neben meinem Bett und sah mich an, und in seinen Augen lag so viel Gram, Qual und Kümmernis, dass es mir schier das Herz zusammendrückte. Mich überfiel ein überwältigendes Verlangen, seine Geschichte zu verstehen, die Hölle seiner unerlösten Liebessehnsucht All die Spekulationen, die ich bisher über das schmerzhafte Wesen der Liebe zu einem Menschen angestellt hatte, waren letztlich nur intellektuelle Spielereien im Vergleich zu den multidimensionalen Schichten seiner Sehnsucht, wie er sie mir eben in der Vergangenheit geschildert hatte.

„Es tut mir leid“, sagte ich traurig, „dich hier so betrübt zu sehen, und ich würde vieles tun, um dir zu helfen und die schwere Last von den Schultern zu nehmen. Irrst du seitdem zwischen den Welten hin und her?“

„Seitdem pendle ich zwischen Himmel und Hölle …“ Er war von meinem Verständnis berührt. „Zwar konnte ich ihr zeitweise immer wieder entkommen, aber ich kann nie mehr in die normale Welt der Menschen zurück. Deshalb bin ich das geworden, was du siehst: Ein ewiger Wanderer, dessen Aufgabe es ist, die erwachenden Seelen zu sich selbst zu führen, zur Wissenspforte, die ihm aber selbst ewig verschlossen bleibt.“

Armer Niemand! Er hatte die Polaritäten überwunden und war in die zeitlosen Räume eingedrungen, in denen Wellen des Geistes alte Erinnerungen heranspülten. „Und was geschah mit ihr?“, wollte ich wissen.

„Sie hat mich niemals losgelassen …“, ächzte er, „ganz im Gegenteil, sie ist immer noch hier!“

„Was?“ Ich verspürte einen heftigen Schreck und zugleich den inneren Drang, mich einer jeden möglichen Konfrontation zu entziehen: „Ich kann sie nirgends sehn!“

„Nun …, in den Visionen der Träumer, die über die Schwelle gehen, kann man die Geister der Zwischenebene oft sehen.“

„Aber wie hast du sie gefunden?“ Ich spürte ein elektrisierendes Flimmern mein Rückgrat herunterlaufen. Ich war hellwach.

„Sie war in meinen Erinnerungen plötzlich wieder präsent, als ich dir die Geschichte erzählte“, seine Stimme stockte.

Eine riesige Traurigkeit ergriff mich, als er so sprach, dann zogen Bilder aus seiner Geschichte vor meinem inneren Auge vorbei. Was wollten sie mir sagen?

„Sie kommt uns bald besuchen“, fuhr er fort, „zumindest hat sie das versprochen. Denn in den letzten Gedanken Sterbender hat sie ihren tiefsten und ursprünglichsten Platz.“

„Und wie endet die Reise?“

„Endet?“ Er schaute mich an. Seine Augen versanken im Leeren. Sie zeigten ein Sehnen nach Verschmelzung mit der Seele an und die Auflösung aller Einschränkungen.

„Ich meine, wo ist das Ende der Geschichte?“ Als ich genauer hinsah, gewahrte ich in seinen Zügen ein leichtes Zittern.

„Nun, sagen wir es so: Meine Sehnsucht hat kein Ende. Sie hatte kein Ende und wird nie ein Ende haben, das ist das wahre Ende der Geschichte.“

Dann fühlte ich Niemands Hand auf meiner Schulter: „Wach auf! Gleich begegnet sie uns wieder: Sie ist meine grosse Liebe! Wie du siehst, bin ich immer noch auf der Reise zu ihr …“

„ … zu ihr?“ Ich erschrak. Seine Worte entsprangen den tiefen Ahnungen und Überzeugungen aus dem Reich der Liebe, wo die Quellen des Unbewussten strömen.

„Unser unerlöster Weg kennt kein Ende“, sagte er mit einem traurigen Blick und sah mich an, „sondern immer nur die ätherischen Bilder neuer Illusionen, die ständig Fehlschlüsse aus sich gebären. Bist du bereit?“