Handbuch Arzthaftungsrecht

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b) Vorzeitiger Blasensprung

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Der vorzeitige, d.h. vor Einsetzen regelmäßiger Wehen erfolgende Blasensprung begründet sowohl für die Mutter als auch das Kind eine erhebliche Infektionsgefahr. Ein Amnioninfektionssyndrom (AIS) kann auf mehreren Wegen zu Schwerstschädigungen des Kindes führen. Insbesondere kann, wie inzwischen bekannt ist, ein AIS die Entstehung einer periventrikulären Leukomalazie (PVL) des Kindes triggern. Abzuwägen ist in dieser Situation zwischen einer abwartenden (haltenden) und einer aktiven, d.h. auf schnellstmögliche Herbeiführung der Geburt gerichteten Behandlungsstrategie. Entscheidend ist dabei, dass der rechte Zeitpunkt des Überganges zur aktiven, geburtsbeendenden Strategie nicht verpasst werden darf. Keinesfalls darf bis zum Eintritt des Vollbildes eines AIS abgewartet werden. Solange der Geburtshelfer einer abwartenden Strategie folgt, bedarf es einer vorsorglichen Antibiose und einer engmaschigen Beobachtung der Entzündungsparameter. Der Verdacht auf das Vorliegen eines aufsteigenden AIS begründet nach der Rechtsprechung zumindest eine Indikation zur zügigen Sectio.

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Wird sie unterlassen oder hinausgeschoben, so ist in mehreren gerichtlichen Entscheidungen das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers angenommen worden.[336] Die Unterlassung einer engmaschigen Beobachtung der Entzündungsparameter wird als Befunderhebungsfehler gewertet.[337]

c) Frühgeburtsgefahr

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Obwohl es Fälle gibt, in denen es ohne jedes Anzeichen, d.h. aus völligem Wohlbefinden der Mutter heraus, zu einer Frühgeburt kommt, entspricht es doch der Erfahrung, dass einer Frühgeburt in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle Prodromalsymptome vorausgehen. Im Vordergrund steht insoweit das Auftreten intermittierender vorzeitiger Wehen. Auch Veränderung an Zervix und Muttermund (vorzeitige Zervixreifung, Zervixverkürzung, beginnende Eröffnung des Muttermunds, sog. Trichterbildung) stellen Vorzeichen einer drohenden Frühgeburt dar.

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Die Erfahrung lehrt, dass sich Frühgeburtsbestrebungen im Allgemeinen nicht für längere Zeit aufhalten lassen. Es ist aber bei rechtzeitiger Erkennung von Frühgeburtsbestrebungen durchweg noch möglich, durch Tokolyse einen gewissen Zeitgewinn zu erzielen, der die Durchführung einer Lungenreifungsbehandlung möglich macht. Auch für diese Konstellation gilt, dass bei abwartender Strategie eine engmaschige Beobachtung der Schwangeren stattfinden muss, die meistens nur unter Krankenhausbedingungen möglich ist.[338]

d) Intrauterine Wachstumsrestriktion

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Die intrauterine Wachstumsreduktion wird bei sonographischen Untersuchungen erkannt, die im Verdachtsfall unbedingt und zweifelsfrei geboten sind. Ihre Unterlassung begründet einen Befunderhebungsfehler. Überwiegend beruht die intrauterine Wachstumsreduktion (IUGR) auf einer uteroplazentaren Dysfunktion, oft in Assoziation mit einer Präeklampsie; daneben gibt es ein relativ breites Spektrum anderer Ursachen.[339] Es ist bekannt, dass der Fetus aufgrund spezifischer Abwehrmechanismen die in den IUGR-Fällen drohende gefährlichste Komplikation, die unzureichende Versorgung des Gehirns, über eine gewisse Zeitspanne durch sog. Kreislaufzentralisation kompensieren kann.

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Auch in diesem Fall ist also eine Abwägung zwischen einer die Schwangerschaftsdauer verlängernden, abwartenden und einer aktiv geburtsbeendenden Strategie notwendig. Entscheidend ist es, den Zeitpunkt, zu dem die Kompensationsmechanismen des Feten zu versagen beginnen, nicht zu versäumen. Dazu bedarf es, solange eine abwartende Strategie verfolgt wird, einer engmaschigen Beobachtung des Feten, wobei die Feststellung eines noch ausreichenden Blutflusses in bestimmten Arterien, die mittels Dopplersonographie möglich ist, weit im Vordergrund steht. Eine engmaschige Beobachtung des Feten wird regelmäßig nur unter Krankenhausbedingungen in ausreichendem Maße möglich sein. Die Unterlassung einer Krankenhauseinweisung wird demgemäß im Allgemeinen einen Therapiefehler darstellen, wobei es von den Umständen abhängt, ob er als grob zu werten ist.

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Die Unterlassung einer engmaschigen Überwachung des Feten mittels CTG und Dopplersonographie stellt einen Befunderhebungsfehler dar.[340]

e) Geburt eines deprimierten Kindes

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Ein mit deprimierten Vitalwerten geborenes Kind bedarf im Prinzip sofort ab der Geburt einer kompetenten ärztlichen, am besten neonatologischen Behandlung. In sehr vielen Fällen, insbesondere, wenn wegen fetaler Hypoxie eine Notsectio erforderlich wird, ist es vorhersehbar, dass das Kind sich nach der Geburt in einem deprimierten Zustand befinden wird.

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Nicht selten wird versäumt, in diesen Fällen für die rechtzeitige Übernahme des Kindes in eine kompetente neonatologische Behandlung zu sorgen. Dies gilt insbesondere in den Fällen, in denen eine Geburtsklinik der Grundversorgung nicht über die technischen Möglichkeiten zu einer neonatologischen Intensivbehandlung verfügt. Wie Feige formuliert, ist es absurd, Feten sub partu kontinuierlich zu überwachen, um dann deprimiert geborene Kinder nur diskontinuierlich, mit unzureichenden Methoden oder gar nicht mehr zu überwachen.[341] Es ist demgemäß notwendig, bei Anordnung einer Notsectio wegen fetaler Hypoxie zu dem Sectioteam auch alsbald einen kompetenten Arzt hinzuzuziehen, der das Kind unmittelbar nach der Geburt übernehmen und weiter behandeln, ggf. sofort in eine neonatologische Intensivstation überführen kann. Versäumnisse auf diesem Gebiet begründen den Vorwurf eines Behandlungsfehlers, der häufig als grob beurteilt werden wird.[342]

6. Fazit

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In der geburtshilflichen Behandlung geht es selten um Erkennung und Management unbekannter Risiken. Die Erfahrung aus einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten, die wegen geburtshilflicher Katastrophen geführt wurden, lehrt, dass die dem Kind drohenden Risiken im Allgemeinen nicht nur erkennbar sind, sondern fast immer auch tatsächlich erkannt werden.

398

Zu Haftungsprozessen kommt es regelmäßig immer dann, wenn das geburtshilfliche Management bekannter Risiken objektiv fehlgeschlagen ist, gegen ein Risiko also – aus rückschauender Betrachtung – nicht oder nicht rechtzeitig eingeschritten worden ist. Etwas verkürzt formuliert kann man sagen, dass die geburtshilfliche Behandlung so gut wie immer im Management bekannter Risiken besteht. Dieses Management muss vorausschauend erfolgen.

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Für ein solches Management lassen sich, wie die Erfahrung aus einer großen Zahl von Prozessen lehrt, folgende Regeln formulieren:


Die abwartende (im Gegensatz zur aktiven, auf rasche Geburtsbeendigung gerichteten) Strategie ist immer die gefährlichere.
Eine abwartende Strategie ohne engmaschige Überwachung des fetalen Zustands mit allen zur Verfügung stehenden diagnostischen Mitteln ist immer fehlerhaft.
Der Zeitpunkt, zu dem ein Strategiewechsel spätestens erforderlich wird, lässt sich bei Sicht ex ante nicht sicher vorhersehen. Daraus ergibt sich die allgemeine Regel, diesen Zeitpunkt nicht abzuwarten, sondern den Strategiewechsel frühzeitig vorzunehmen. Wartet der Geburtshelfer bis zu dem Augenblick ab, in dem ihm eine sich zuspitzende Situation keine andere Wahl mehr lässt, so hat er sich durchweg zu spät entschieden.
Vor allem muss der geburtsleitende Arzt an den von ihm zu treffenden Entscheidungen die Gebärende beteiligen. Die Erfahrung lehrt, dass typischerweise gerade solche Behandlungsfälle in Prozesse einmünden, in denen sich die Gebärende während der Behandlung nicht ernst genommen, zum Behandlungsobjekt degradiert und ihrer Autonomie beraubt fühlte.

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Wenn es in solchen Fällen nach Geburt eines schwergeschädigten Kindes zu einem Rechtsstreit kommt, so ist diese Folge der oben dargestellten offensichtlichen Behandlungsfehler und -versäumnisse oder Aufklärungsmängel.

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Die Erfahrung zeigt überdies, dass gerade Eltern, insbesondere Mütter, die ihr Schicksal annehmen und ihr schwerstbehindertes Kind mit aller Liebe umgeben, die sie ihm spenden können, am energischsten sind, soweit es um die Verfolgung von Schadensersatzansprüchen geht. Abwertende „kulturkritische“ Beurteilungen einer solchen Haltung sind unangebracht. Die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen wegen behaupteter ärztlicher Fehler hat vielmehr eine wesentliche, im Grunde sogar unverzichtbare gesellschaftliche Funktion. Sie dient – als notwendiger Kontrollmechanismus – der Aufrechterhaltung des ärztlichen Standards, auf dessen Einhaltung die Gesellschaft insgesamt angewiesen ist.

VII. Pflegefehler

1. Einführung

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Fehler im Bereich der Pflege gewinnen in jüngster Zeit immer mehr an Bedeutung. Betroffen sind hiervon in erster Linie Alten- und Pflegeheime, aber auch in Randbereichen Krankenhäuser. Pflegefehler verursachen in ihrer Gesamtheit für die Sozialversicherungsträger, insbesondere die gesetzlichen Krankenkassen, erhebliche Mehrkosten. Es findet daher seit einigen Jahren eine sehr intensive Überprüfung der gesetzlichen Leistungserbringer statt, die nicht selten in einem Regress endet. Aber auch private Krankenversicherer überprüfen nach einer Leistung Regressmöglichkeiten.

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Allerdings hat sich auch bei den Betroffenen selbst das Bewusstsein geändert. So werden Alten- und Pflegeheime zunehmend mit Direktansprüchen konfrontiert. Im Arzthaftungsprozess liegt das Augenmerk in der Regel auf einem möglichen ärztlichen Fehlverhalten, manchmal werden hier zusätzlich Pflegefehlervorwürfe erhoben. Diese unterliegen der Überprüfung insbesondere bei einem Sturzgeschehen, einer Mangelernährung oder bei der Entstehung von Decubiti.

2. Rechtliche Grundlagen

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Denkbar sind vertragliche sowie deliktische Ansprüche. Aus dem Behandlungsvertrag bzw. dem Heimbetreuungsvertrag lassen sich die vertraglichen Grundlagen ableiten. Der wesentliche Inhalt des Heimbetreuungsvertrages ist im Gesetz zur Regelung von Verträgen über Wohnraum mit Pflege- oder Betreuungsleistungen (WBVG) geregelt. Im Vordergrund steht hier die zivilrechtliche Regelung von Unterkunft, Verpflegung und Betreuung.

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Zur Begründung einer vertraglichen Haftung muss es zu einer Schlechterfüllung des Vertrages gekommen sein, §§ 611, 276, 278, 280 BGB. Daneben kann eine Haftung aus Delikt wegen Verletzung von Verkehrssicherungspflichten gegeben sein, §§ 823, 831, 839, 31 BGB.

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Anspruchsinhaber ist grundsätzlich der Geschädigte selbst. Sozialversicherungsträger machen diese Ansprüche aus übergegangenem Recht nach § 116 Abs. 1 SGB X geltend, bei privaten Versicherern ist der Anspruch nach einer Leistung durch den Versicherer auf diesen gemäß § 86 VVG übergegangen.

3. Verantwortungsbereiche

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Bei Prüfung der Haftungsfrage ist ferner zu klären, in wessen Verantwortungsbereich eine Handlung bzw. ein Unterlassen fällt. Die Abgrenzung ist nicht immer ganz eindeutig, da oftmals mehrere Personen aus unterschiedlichen Berufsgruppen in die Behandlung/Pflege involviert sind. Zu unterscheiden ist zwischen der Grundpflege und der sogenannten Behandlungspflege. Die Grundpflege dient der Unterstützung der Grundbedürfnisse eines Patienten, wie z.B. Körperpflege, Nahrungsaufnahme, Toilettengänge, Mobilisation, etc. Hierfür liegt die Anordnungs- und Durchführungsverantwortung allein beim Pflegepersonal.[343] Die Behandlungspflege hingegen stellt die pflegerische Durchführung ärztlicher Therapieleistungen dar. Die Anordnungsverantwortung liegt hier allein beim behandelnden Arzt, während die Durchführungsverantwortung dem Pflegepersonal obliegt. Liegt eine entsprechende Indikation vor, so muss der Arzt konkrete Anweisungen an die Pflege erteilen. Diese Anordnungen sind in der ärztlichen Behandlungsdokumentation festzuhalten und vom Pflegepersonal weisungsgemäß umzusetzen.

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Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass es gerade im Bereich der Pflege oftmals Absprachen mit dem Patienten selbst, seinen Angehörigen bzw. dem Betreuer gibt. So ist es dem Pflegepersonal nicht gestattet, gegen den ausdrücklich erklärten Willen eines Patienten Pflegemaßnahmen durchzuführen. Gleiches gilt, wenn bevollmächtigte Angehörige bzw. ein Betreuer nach einer entsprechenden Aufklärung durch das Pflegepersonal einzelne Maßnahmen nicht wünschen, auch wenn diese vernünftig erscheinen. Die Ablehnung der Pflegemaßnahme und auch das Gespräch sollten inhaltlich unter Nennung der Beteiligten dokumentiert werden. Verwirklicht sich später ein hiermit verbundenes Risiko, so können die Folgen nicht dem Pflegepersonal zugerechnet werden.

4. Welche Betreuung ist geschuldet?

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Unter anderem mit dieser Frage durfte sich der BGH[344] im Rahmen von zwei Grundsatzentscheidungen befassen. So führt er aus, dass sich aus dem Heimvertrag vertragliche Obhutspflichten des Heimträgers zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der ihm anvertrauten Heimbewohner begründen lassen. Daneben bestünde eine inhaltsgleiche allgemeine Verkehrssicherungspflicht zum Schutze der Bewohner vor Schädigungen, die diesen wegen Krankheit oder sonstigen körperlichen oder geistigen Einschränkungen durch sie selbst oder durch die Einrichtung und bauliche Gestaltung des Altenheims drohen.[345] Diese Obhutspflichten beschränkt der BGH allerdings auf die in Pflegeheimen üblichen Maßnahmen, die erforderlich, mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand verwirklichbar und für die Heimbewohner und das Pflegepersonal zumutbar sind. Zu beachten sei hierbei insbesondere, dass beim Wohnen in einem Heim die Würde sowie die Interessen und Bedürfnisse der Bewohner vor Beeinträchtigungen zu schützen und die Selbstständigkeit, die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung der Bewohner zu wahren und zu fördern sind.[346]

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Der BGH weist weiter darauf hin, dass der konkrete Inhalt der Verpflichtung eines Heimträgers, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits dessen Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen, nicht generell festgelegt werden könne, sondern es vielmehr einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände im jeweiligen Einzelfall bedarf. Hierbei verbleibe hinsichtlich der zu treffenden Entscheidungen sowohl für das Pflegeheimpersonal als auch für Vorsorgebevollmächtigte und Familienangehörige ein erheblicher Beurteilungsspielraum.[347]

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Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hängen die Pflichten eines Heimbetreibers auch davon ab, wie die konkrete Ausgestaltung ist, d.h., ob es sich um ein Altenheim, Altenwohnheim, Pflegeheim, Altenpflegeheim oder ein Behindertenheim handelt. Ferner sind die individuellen Bedürfnisse des Bewohners zu berücksichtigen. Ein Anhalt für die Intensität der Pflege gibt hier u.a. die Pflegestufe bzw. der Pflegegrad. Der Bewohner ist sachgerecht zu beaufsichtigen, zu betreuen und einer Gefährdung ist, soweit möglich, entgegenzuwirken. Die geschuldete Pflege muss nach dem anerkannten pflegerischen-medizinischen Stand erfolgen. Sie ist nach dem heranzuziehenden Auslegungsmaßstab des § 2 SGB XI so zu gestalten, dass der Bewohner ein möglichst selbstständiges und selbstbestimmendes Leben führen kann. In der gesamten oberlandesgerichtlichen Rechtsprechung besteht insoweit Einigkeit, dass ein Heimbetreiber keine 1:1 Betreuung eines Bewohners schuldet.[348]

5. Haftungsrelevante Fehler in der Pflege

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Haftungsrelevante Fehler in der Pflege sind insbesondere im Bereich der Exsikkose/Mangelernährung, bei Stürzen, bei Decubiti als auch im Bereich von Fixierungen denkbar. Daneben können Ansprüche aus einer Verletzung von Verkehrssicherungspflichten abgeleitet werden, deren Inhalt sich aus dem Betrieb eines Krankenhauses bzw. eines Pflegeheimes ergibt. Für Pflegeheime ist die HeimMindestBauVO als Maßstab für die räumliche Ausgestaltung heranzuziehen.

a) Exsikkose/Mangelernährung

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Pflegefehler im Bereich von Exsikkose/Mangelernährung spielen bisher eine eher untergeordnete Bedeutung. Auftretende Defizite in diesen Bereichen sind meistens den schwerwiegenden Grunderkrankungen bzw. dem Alter des Patienten geschuldet. Dies entlastet die Pflege allerdings nicht von der Verpflichtung, in diesen essentiellen Bereichen eine gewissenhafte Prophylaxe und Versorgung durchzuführen.

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Mit einer Mangelernährung hat sich die Rechtsprechung in der Vergangenheit noch nicht auseinandersetzen müssen. Haftungsrelevante Fälle sind hier denkbar, wenn die Ernährung über eine PEG-Sonde erfolgt und es bei der Sondenversorgung und Pflege der PEG-Sonde zu Problemen kommt, insbesondere einem Einwachsen der PEG-Sonde.

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Etwas anders sieht es aus, wenn es zu einer Exsikkose eines Patienten/Bewohners kommt. Die Dehydration ist eine der 10 häufigsten Diagnosen bei alten, akut ins Krankenhaus aufgenommenen Patienten. Begründet sie die Einweisungsdiagnose, so findet hier des Öfteren eine Haftungsüberprüfung insbesondere durch die Sozialversicherungsträger statt. Krankenhäuser und Pflegeheime sind verpflichtet, im Rahmen der Pflegeanamnese eine umfassende Risikoauswertung vorzunehmen und auf Veränderungen im Ess- und Trinkverhalten eines Patienten zeitnah zu reagieren. Als Risikofaktoren werden somatische chronische Erkrankungen (z.B. Krebs, Diabetes mellitus, Hyperthyreose), psychische Erkrankungen (z.B. Depressionen, Demenz) und ein erhöhter Energiebedarf (z.B. Infektionen, Fieber, Mobilisation, Unruhezustände mit Bewegungsdrang) angesehen. Es bedarf einer sorgfältigen Risikoerfassung. Mögliche Pflegefehler können dadurch begründet sein, dass es Unzulänglichkeiten im Bereich der Datenerhebung und Dokumentation gibt. Auf der zweiten Stufe sind Pflegefehler auch durch eine fehlende oder fehlerhafte Intervention und Therapie denkbar.

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Konkret bedeutet dies, dass im Rahmen der Dehydrationsprophylaxe bei Risikopatienten ein sog. Ein- und Ausfuhrprotokoll (Trinkprotokoll) geführt werden muss, um eine Flüssigkeitsbilanzierung zu ermöglichen. Ergeben sich hieraus im weiteren Anhaltspunkte für eine unzureichende Flüssigkeitsversorgung, ist seitens der Pflege hierauf umgehend zu reagieren und eine ärztliche Intervention zu veranlassen. Die weitere pflegerische Versorgung muss dann nach ärztlicher Anordnung (z.B. durch subcutane Flüssigkeitszufuhr oder Infusionen) erfolgen.[349]

b) Sturz

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Die Häufigkeit von Stürzen in medizinischen Einrichtungen und Pflegeheimen ist schwer zu erfassen, da sie häufig unbeobachtet geschehen. Unter einem Sturz ist jedes Ereignis zu verstehen, in dessen Folge eine Person unbeabsichtigt auf dem Boden oder auf einer tieferen Ebene zu liegen kommt. Da Stürze gerade für ältere Patienten/Bewohner oftmals gravierende Folgen haben, die mit einem erheblichen Verlust der Mobilität bis hin zu einem letalen Ausgang einhergehen können, mussten sich die Gerichte in den letzten Jahren vermehrt mit dieser Problematik auseinandersetzen. Grundsätzlich ist jeder Fall ein Einzelfall, da die Begleitumstände und das Krankheitsbild des Betroffenen nie identisch sind. Im Laufe der Zeit haben sich mehrere „Sturzgruppen“ in der Rechtsprechung herausgebildet. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen Stürzen, die sich im allgemeinen Lebensbereich eines Patienten/Bewohners ereignen, Stürzen bei Transfer- oder Pflegemaßnahmen sowie Stürzen von der Toilette, wenn der Bewohner dort allein verbleibt.

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Im Rahmen ihrer Sorgfaltspflichten schulden Krankenhäuser eine sachgerechte pflegerische Betreuung. Hier müssen insbesondere bei Bewegungs- und Transportmaßnahmen Stürze eines Patienten verhindert werden. Alten- und Pflegeheime trifft zudem die Verpflichtung, ausreichende und geeignete Maßnahmen und Vorkehrungen zu treffen, um Verletzungen der Bewohner zu verhindern, wenn dies nach Art der Erkrankung oder sonstigen Eigenarten des Bewohners bei verständiger Betrachtungsweise in Erwägung zu ziehen ist.

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Grundsätzlich muss bei jedem Patienten/Bewohner bei Aufnahme in ein Krankenhaus/Pflegeheim eine umfassende Pflegeanamnese erhoben werden, wobei der Ermittlung des Sturzrisikos eine erhebliche Bedeutung zukommt. Ist der Patient/Bewohner sturzgefährdet, so muss eine Sturzprophylaxe durchgeführt werden. Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege hat einen allgemeingültigen „Expertenstandard Sturzprophylaxe“ erstellt (und im Januar 2013 aktualisiert), der in jeder Pflegeeinrichtung implementiert werden und ggf. im Rahmen hauseigener Standards umgesetzt werden muss. Zielsetzung ist es, Stürze und ihre Folgen zu verhindern. Hier sollen durch die Schaffung einer sicheren Umgebung (keine Stolperfallen), dem Tragen von festem Schuhwerk, ausreichender Beleuchtung, das Bereitstellen von Hilfsmitteln (z.B. Rollator, Brille), ggf. einer Begleitung beim Laufen, etc. dem Bewohner Sturzmöglichkeiten genommen werden, wobei ein Sturz nie mit 100 prozentiger Sicherheit auszuschließen ist.

 

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Welche Maßnahmen zum Schutze des einzelnen Heimbewohners zu treffen seien, so das OLG Hamm[350], bestimme sich nach dem individuellen Grad der Behinderung oder Gebrechlichkeit des Pfleglings einerseits und dem zumutbaren personellen Aufwand des Pflegeheims andererseits. Darüber hinaus sei bei Festlegung der Obhutsmaßnahmen auch abzuwägen, welche Eingriffe unter Berücksichtigung der Würde und des Persönlichkeitsrechts des alten Menschen als verhältnismäßig zu beurteilen seien. Die Pflichten des Heimträgers beschränkten sich also auf das Erforderliche und das für die Heimbewohner und das Pflegepersonal Zumutbare, wobei das Sicherheitsgebot gegen Gesichtspunkte der Einschränkung des Freiheitsrechts (Art. 2 GG) und der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) abzuwägen sei. Ein möglichst hohes Maß an Sicherheit – völlige Sicherheit sei ohnehin nicht zu erzielen – dürfe, so das OLG Hamm, nicht durch übermäßige Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht eines Betroffenen sichergestellt werden. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung habe, einerseits die Menschenwürde und das Freiheitsrecht eines alten und kranken Menschen zu achten und andererseits sein Leben und die körperliche Unversehrtheit zu schützen, könne nicht generell, sondern nur aufgrund einer sorgfältigen Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgestellt werden.[351] Danach muss bei jedem einzelnen Fall eine sorgfältige Interessenabwägung vorgenommen werden, bevor die Pflichten eines Heimbetreibers festgelegt werden können.

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