Handbuch Arzthaftungsrecht

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3. Zur Typologie ärztlicher Behandlungsfehler

a) Grundsätzliches

335

Grundsätzlich ist bekannt und definiert, dass ein ärztlicher Behandlungsfehler dann vorliegt, wenn vom ärztlichen Standard, d.h. von der in der jeweiligen Situation gebotenen guten ärztlichen Praxis abgewichen wird. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und der Instanzgerichte haben sich verschiedene Fallgestaltungen von häufigen in unterschiedlicher Gestalt wiederkehrenden Behandlungsfehlern herausgebildet. Diese Unterscheidung ist nicht nur für den Juristen von Bedeutung, sondern gerade auch für den Arzt, weil sich aus ihr ableiten lässt, wo Haftungssituationen entstehen können.

336

Es soll hier keine vollständige Übersicht gegeben werden. Erörtert werden vielmehr nur die Behandlungsfehlergruppen, die in der geburtshilflichen Praxis eine größere Rolle spielen.[308] Man unterscheidet im Allgemeinen:


Diagnosefehler,
Befunderhebungsfehler, d.h. die Unterlassung der Erhebung gebotener Sicherungs- und Kontrollbefunde,
Therapiefehler,
das Übernahmeverschulden,
Organisationsfehler,
Koordinationsfehler.

b) Geburtsschadensfallgruppen

337

Zu diesen Behandlungsfehlergruppen ist im Hinblick auf den geburtsschadensrechtlichen Bereich Folgendes kurz zusammenzufassen:


Diagnosefehler treten in ihrer Bedeutung im Arzthaftungsprozess weitgehend zurück.

338

Auf Besonderheiten anderer Behandlungsfehlertypen wird im Rahmen der nachstehenden Erörterung typischer geburtshilflicher Risikosituationen eingegangen.

c) Kausalität

339

Für den Arzthaftungsprozess ist charakteristisch, dass der Patient sehr häufig den Beweis für einen Kausalzusammenhang zwischen einem dem Arzt angelasteten Behandlungsfehler und dem Schadenseintritt nicht führen kann. Nach allgemeinen Regeln liegt die Beweislast für diesen Kausalzusammenhang beim Patienten. Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist nunmehr im Wesentlichen in § 630h BGB geregelt, wann dem Patienten eine Beweislastumkehr zugutekommt. Das Patientenrechtegesetz hat insoweit lediglich die bisherige Rechtsprechung normiert.[313]

d) Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers

340

Ein grober Behandlungsfehler liegt nach der etablierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dann vor, wenn ein Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und dadurch einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf.[314] Das Patientenrechtegesetz hat insoweit keine klarstellende oder genauere Formulierung gebracht.

341

Es wird in der Literatur allgemein beklagt, dass diese Definition unscharf sei.[315] Ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt, entscheidet das Gericht. Nach feststehender Rechtsprechung muss es dem von ihm herangezogenen Sachverständigen die begrifflichen Merkmale des groben Behandlungsfehlers vorgeben und ihn befragen, ob er diese Merkmale im konkreten Fall als gegeben ansieht.

342

Die anwaltliche Praxis lehrt, dass beide Parteien, also nicht nur der Kläger, sich in einer glücksspielähnlichen Situation befinden, wenn es um die Frage geht, ob ein grober Behandlungsfehler vorliegt oder nicht. Ob ein feststehender Behandlungsfehler als grob bewertet wird, ist oft kaum vorhersehbar. Im Zweifel kann der Sachverständige dem Gericht ebenfalls erklären, dass die Erde eine Scheibe ist.

343

Das bedeutet für den Patienten, dass er in den Fällen, in denen ihm nur eine Beweislastumkehr in der Kausalitätsfrage zum Erfolg verhelfen kann, sich des Prozesserfolgs nicht sicher sein kann. Umgekehrt gilt indes auch für den Arzt, dass er nicht abschließend und sicher beurteilen kann, ob ein feststehender Behandlungsfehler als grob bewertet wird.

344

Generell kann man sagen, dass in den Fällen, in denen eine ärztliche Entscheidung, obgleich bei objektiver Betrachtung falsch, noch in irgendeiner Weise verständlich und nachvollziehbar erscheint, die Gerichte mit dem Urteil „grob“ sehr restriktiv und zurückhaltend umgehen.

345

Hingegen werden Organisationsfehler, Koordinationslücken und Übernahmefehler, die zu einer Schwerstschädigung des Kindes geführt haben, streng beurteilt.[316]

e) Unterlassene Befunderhebung

346

Hat ein Arzt es unterlassen, einen notwendigen Befund zu erheben, und bleibt deswegen unklar, was die fehlerhaft unterbliebene Untersuchung ergeben hätte, so kann und darf dem Patienten insoweit die Beweislast nicht obliegen. Die Rechtsprechung hat hierbei ein differenziertes tatbestandliches System entwickelt, das in sehr vielen Fällen zu einer Beweislastumkehr zugunsten des Patienten in der Kausalitätsfrage führt.[317] Es muss zunächst die Erhebung eines Befundes unterblieben sein, die unbedingt und zweifelsfrei geboten war. Es muss ferner hinreichend (nach einer Reihe oberlandesgerichtlicher Entscheidungen überwiegend) wahrscheinlich sein, dass die unterbliebene Untersuchung einen medizinisch positiven, d.h. reaktionspflichtigen Befund ergeben hätte. Diese richterliche Rechtsfigur ist nunmehr in § 630h Abs. 5 BGB normiert.

347

In der anwaltlichen und haftungsrechtlichen Praxis zeigt sich, dass diese zunächst sehr streng anmutenden Voraussetzungen nicht selten gegeben sind.

348

Die Unterlassung der Erhebung gebotener Befunde in der Schwangerschaft und/oder unter der Geburt ist daher neben dem oben beschriebenen groben Behandlungsfehler einer der Hauptgründe für Arzthaftungsprozesse.

f) Verletzung der Befundsicherungspflicht

349

Im Grundsatz geht es darum, dass Röntgenbilder oder Laborbefunde, im geburtshilflichen Bereich speziell Ultraschallbilder, CTG-Kontrollstreifen häufiger auch die von einem Blutanalysegerät ausgeworfenen Messstreifen in der Sphäre des Arztes verschwunden sind oder dass die Ergebnisse von Untersuchungen, die tatsächlich stattgefunden haben, nicht notiert worden sind. Bleibt in solchen Fällen das Untersuchungsergebnis streitig, so gehen die Zweifel zulasten des Arztes bzw. Krankenhauses.[318]

350

Diese Regelung ist nunmehr in § 630h Abs. 3 BGB aufgenommen.

g) Dokumentationsfehler

351

Ein Dokumentationsfehler ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kein Behandlungsfehler. Aus ihm ergibt sich keine eigenständige Anspruchsgrundlage.

352

Ärztliche Dokumentationsfehler begründen jedoch in vielerlei Hinsicht Vermutungen zugunsten des Patienten, die vom behandelnden Arzt häufig nicht widerlegt werden können. Dieses gilt speziell im Geburtsschadensbereich, da insoweit die Überwachungsmöglichkeiten (CTG, Ultraschall, Laborbefunde etc.) naturgemäß eingeschränkt sind.

 

353

Ist eine bestimmte Untersuchung nicht dokumentiert und war die Untersuchung notwendig, so leitet die Rechtsprechung aus dem Fehlen einer Dokumentation die Vermutung ab, dass die betreffende Untersuchung nicht stattgefunden habe. Dies ist ebenfalls in § 630h Abs. 3 BGB normiert.

354

Die Unterlassung dieser Untersuchung kann als Behandlungsfehler (Befunderhebungsfehler) gewertet werden.[319]

h) Anfängerbehandlung

355

Unter dem ärztlichen Standard, d.h. dem Standard der guten ärztlichen Praxis, versteht man den Facharztstandard. Der Patient hat Anspruch darauf, nach fachärztlichem Standard behandelt zu werden. Im Bereich von geburtshilflichen Kliniken finden jedoch vielfach Delegationen, d.h. Behandlungen durch Nichtfachärzte statt, sei es durch Hebammen, sei es durch Assistenzärzte ohne Facharztstatus.

356

Diese Delegationen sind jedoch nur solange zulässig, wie die Geburt einen komplikationsfreien Verlauf nimmt. Hierauf weist auch regelmäßig die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in ihren Empfehlungen und Leitlinien hin.[320] Der Bundesgerichtshof verlangt in feststehender Rechtsprechung von einem Assistenzarzt nicht die formelle Facharztqualifikation. Wurde aber eine Gebärende im kritischen Zeitraum des Geburtsvorgangs durch einen Nichtfacharzt behandelt, so muss die Behandlungsseite beweisen, dass der betreffende Assistenzarzt nach seinem Ausbildungs- und Erfahrungsstand bereits über das Können eines Facharztes verfügte.[321]

357

Diese Regelung hat das Patientenrechtegesetz in § 630h Abs. 4 BGB übernommen.

358

Soweit Hebammen in der Geburtshilfe tätig sind, so sind die Maßstäbe der Rechtsprechung gleichfalls streng. Die Hebamme darf zwar eine normale, komplikationsfreie Geburt beaufsichtigen und leiten. Zeigen sich jedoch Risiken, so besteht die wesentliche Verpflichtung einer Hebamme darin, einen Facharzt sofort herbeizurufen. Ihre Kompetenz endet mit dem Eintritt geburtshilflicher Komplikationen.[322]

359

Wird dies nicht beachtet und bleiben deshalb Assistenzarzt oder Hebamme in einer kritischen Situation auf sich allein gestellt, so liegt eine Anfängerbehandlung vor. Hiernach greift § 630h Abs. 4 BGB, wonach vermutet wird, dass die mangelnde Befähigung für den Eintritt der Verletzung ursächlich war.

360

Die Rechtsprechung verlangt folgerichtig in diesen Fällen von der Behandlungsseite den Beweis, dass sich die fehlende Qualifikation des Assistenzarztes und/oder der Hebamme nicht in der Schädigung des Kindes niedergeschlagen habe.[323]

i) Organisationsmangel

361

Wenn Hebamme oder Nicht-Facharzt, obwohl sie sich hierum bemüht haben, keinen Facharzt hinzuziehen konnten, weil dieser nicht oder nicht in ausreichender Zeit erreichbar war, so liegt ein Organisationsmangel vor. Dieser Organisationsmangel wird dem Klinikträger angelastet.[324]

362

Aus dem Rechtsinstitut des Organisationsmangels ergibt sich, dass immer dann, wenn (auch in großen Krankenhäusern) zur kritischen Zeit im Kreißsaal ein Facharzt nicht zur Stelle war, sondern Hebamme und/oder Assistenzarzt auf sich selbst gestellt waren, die Haftung des Klinikträgers fast unvermeidlich wird, wenn die Situation vorhersehbar war.

4. Aufklärungsfehler

363

Bereits die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum Aufklärungsfehler, die dann der Bundesgerichtshof übernommen hat, passt bei genauer Betrachtung nicht auf die geburtshilfliche Behandlung. Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung war, dass das Reichsgericht auch die kunstgerechte Operation tatbestandlich als Körperverletzung wertete, deren Rechtswidrigkeit nur durch eine wirksame Einwilligung des Patienten ausgeschlossen wurde. Wirksam war diese Einwilligung jedoch nur, sofern der Patient über die mit der Operation verbundenen Risiken aufgeklärt worden war (Theorie des informed consent). Diese Regelung ist nunmehr auch im Rahmen des Patientenrechtegesetzes in § 630e BGB aufgenommen worden.

364

Die Begleitung einer Geburt durch den Arzt kann auch im weitesten Sinne nicht als Körperverletzung verstanden werden. Nach feststehender Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Patient jedoch auch über Behandlungsalternativen aufzuklären. Diese Aufklärung ist im geburtshilflichen Bereich von erheblicher Bedeutung.

365

Die in der Praxis die größte Rolle spielende Behandlungsalternative ist die Sectio im Verhältnis zur Vaginalgeburt.

366

Eine Aufklärung über die Schnittentbindung als Behandlungsalternative schuldet der Arzt nach einer vom Bundesgerichtshof ständig verwendeten Formulierung, wenn für den Fall, dass die Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernstzunehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt.[325]

367

Die Aufklärung der Mutter muss dabei bereits zu einem Zeitpunkt vorgenommen werden, zu dem sich die Mutter in einem Zustand befindet, in dem die Problematik noch mit ihr besprochen werden kann, d.h., sobald deutliche Anzeichen für ein bereits bestehendes oder drohendes Risiko einer vaginalen Entbindung aufgetreten sind.

368

Diese Konstellation hat in geburtshilflichen Schadensfällen eine erhebliche Bedeutung.

369

Nicht selten entwickeln Geburtshelfer den erheblichen Ehrgeiz in der Richtung, die Sectiorate in ihrem Krankenhaus niedrig zu halten und eine vaginale Geburt auch dann durchzuführen oder durchzusetzen, wenn von vornherein ersichtlich ist, dass sie unter Risiken steht.

370

Stellt aber in solchen Fällen die Schnittentbindung eine Behandlungsalternative dar, so muss der Geburtsmodus mit der Mutter besprochen werden.

371

Trifft der Geburtshelfer eine eigenmächtige, „einsame“ Entscheidung, so liegt ein Aufklärungsfehler vor.

372

Ganz Entsprechendes gilt, wenn unter der Geburt eine Situation auftritt, die die Sectio zur Behandlungsalternative macht. Auch in dieser Situation ist der geburtsleitende Arzt verpflichtet, die Gebärende an der Entscheidung über das weitere Vorgehen zu beteiligen. Ein Geburtshelfer, der dies versäumt, muss wissen, dass er, wenn es infolge seiner Entscheidung zu einer Schädigung des Kindes kommt, für diese haftet.

373

Will der geburtsleitende Arzt die Schwangere korrekt über das Bestehen einer Behandlungsalternative aufklären, so muss dies in Form eines Gesprächs erfolgen, in dem der Schwangeren Chancen und Risiken der zur Wahl stehenden Entbindungsmethoden kurz und laienverständlich erläutert werden. Die Schwangere muss, wie der BGH formuliert, über die „Stoßrichtung“ der in Betracht kommenden Risiken aufgeklärt werden.[326] Die Übergabe eines Merkblattes o.Ä. ersetzt ein Aufklärungsgespräch nicht.[327]

374

Das Aufklärungsgespräch sollte schriftlich dokumentiert werden oder auf andere Weise, z.B. durch Hinzuziehung von Zeugen, beweisbar sein. Den Arzt trifft nach feststehender Rechtsprechung die Beweislast für eine korrekte Aufklärung.[328]

375

Aufzuklären ist die Gebärende auch in dem Fall, dass sich – häufig im letzten Stadium der Geburt – eine Situation ergibt, in der der Geburtshelfer eine Beschleunigung der Geburt für notwendig hält, jedoch vor der Wahl zwischen der Schnittentbindung und den beiden Formen der vaginaloperativen Entbindung steht. Dies gilt nur dann nicht, wenn im konkreten Fall die Sectio als Behandlungsalternative ausscheidet, weil sie im Vergleich zur vaginaloperativen Entbindung zuviel Zeit in Anspruch nehmen würde.

376

Die medizin-rechtliche Relevanz der Selbstbestimmtheit der Patientin für die Frage der Aufklärung und der Sectioindikation (siehe auch unter Rn. 306 f.) kann immer nur im Hinblick auf das fetale und mütterliche Wohlbefinden definiert werden. Die hierzu vorzunehmende Risikogüterabwägung (welches fetale und/oder mütterliche Risiko soll eingegangen und akzeptiert werden) ist dabei originär keine medizinische, sondern personale (weltanschauliche) Entscheidung.

377

Auch in der geburtshilflichen Situation und klinischen Praxis muss nicht nur das Fürsorgeprinzip des Arztes, sondern auch das selbstbestimmte Expertentum in eigener Sache der werdenden Mutter anerkannt werden. Notwendig ist also, dass die Aufklärung und Indikation zur Sectio eine kompetente Entscheidungsautonomie der werdenden Mutter sicherstellt.[329]

5. Typische geburtshilfliche Risikofälle und ihre Behandlung durch die Rechtsprechung

378

Das Zusammenspiel der vorstehend aufgezeigten Haftungsgrundlagen soll nachstehend anhand der Erörterung einiger typischer geburtshilflicher Risikosituationen konkretisiert werden. Diese Risikosituationen sind diejenigen, die regelmäßig in der gerichtlichen Praxis relevant werden:

a) Intrauterine Asphyxie

379

Aus einer Vielzahl von Gründen kann es unter der Geburt zur Entstehung von Sauerstoffmangelzuständen des Feten kommen, die, wenn die abwartende Strategie nicht rechtzeitig durch eine aktive, auf rasche Geburtsbeendigung abzielende Strategie ersetzt wird, in Schwerstschädigungen des Kindes, insbesondere eine hypoxisch-ischämische Encephalopathie (HIE) einmünden können.

380

Diese bei jeder Geburt bestehende Gefahr ist der Grund dafür, dass heute der Geburtsverlauf durchweg mittels CTG überwacht wird. Nach der einschlägigen Behandlungsrichtlinie begründet es keinen Fehler, wenn bei Geburten, die sich nicht als Risikogeburten darstellen, die CTG-Schreibung intermittierend erfolgt. Bei Risikogeburten ist eine durchgängige CTG-Schreibung geboten. Erst recht ist in der für das Schicksal des Feten häufig entscheidenden Austreibungsperiode eine durchgehende CTG-Schreibung unbedingt notwendig. Wird auf sie verzichtet, so liegt hierin ein Befunderhebungsfehler.

381

Als grober Befunderhebungsfehler wird es angesehen, wenn – bei intermittierender CTG-Schreibung – die Aufzeichnung zu einem Zeitpunkt abgebrochen wird, zu dem die fetale Herzfrequenzkurve (FHF) pathologische oder suspekte Merkmale aufweist.[330] Es stellt zudem einen groben Behandlungsfehler dar, wenn das CTG über 10 Minuten weder einen Herzschlag der Mutter, noch des Kindes aufzeichnet und die Ärzte keine Maßnahmen einleiten, um den Herzschlag des Kindes anderweitig zu überprüfen.[331]

382

Nicht selten wird im Kreißsaal bei Eintritt einer solchen Situation nur eine Hebamme die Geburt begleiten. Die Rechtsprechung verlangt von ihr, dass sie pathologische oder suspekte Merkmale der FHF erkennt und dann ohne jeden Verzug einen Facharzt benachrichtigt. Die Entscheidung, wie in der kritischen Situation weiter vorzugehen ist, liegt nicht bei der Hebamme, sondern beim Arzt.[332] Die Hebamme darf in der geschilderten Situation bis zum Erscheinen des Arztes nur solche Maßnahmen treffen, die unaufschiebbar sind.

383

Die vorgenannte Situation ist in der Praxis haftungsrelevant. Der Behandlungsfehler lässt sich dahin konkretisieren, dass die Hebamme die CTG-Aufzeichnungen nicht engmaschig genug beobachtet oder suspekte/pathologische Merkmale der FHF nicht erkennt oder einen Arzt erst mit erheblicher Verspätung ruft oder, statt sofort einen Arzt zu rufen, zunächst Maßnahmen trifft, die ihr sachgemäß erscheinen (z.B. Umlagerung der Schwangeren) und den Arzt benachrichtigt, sobald sich zeigt, dass diese Maßnahmen keinen Erfolg haben. In derartigen Fällen wird durchweg das Vorliegen eines Behandlungsfehlers, je nach den Umständen auch eines groben Behandlungsfehlers, angenommen.

 

384

Als weiterer haftungsrelevanter Sachverhalt sind diejenigen Fälle zu sehen, in denen die in der gegebenen Situation notwendigen (ärztlichen) Entscheidungen mit erheblicher Verzögerung getroffen werden. Bekanntlich hat das CTG zwar eine hohe Sensitivität, jedoch eine viel geringere Spezifität. Aus dem Auftauchen suspekter oder pathologischer Merkmale der FHF kann also noch kein sicherer Schluss darauf gezogen werden, dass der Fetus sich bereits in einer akut bedrohten Lage befindet, aus der er schnellstmöglich befreit werden muss. In diesen Fällen ist durchweg eine fetale Skalpblutanalyse erforderlich, die nur wenig Zeit (rund 5 Minuten) in Anspruch nimmt und dem Geburtshelfer eine sichere Information über den aktuellen Zustand des Kindes zur Zeit der Blutentnahme liefert.

385

Die Rechtsprechung sieht die Unterlassung einer Mikroblutuntersuchung, sofern sie möglich und geboten ist, als Befunderhebungsfehler an.[333]

386

Ist im Hinblick auf den Stand der Geburt eine Mikroblutuntersuchung nicht möglich oder stellt sich die Lage des Kindes als so bedrohlich dar, dass diese Untersuchung wegen des mit ihr verbundenen Zeitverlustes untunlich ist, so erzwingt ein pathologisches CTG die schnellstmögliche Geburtsbeendigung, regelmäßig also eine Sectio. Die Verzögerung des Entschlusses zur Notsectio wird, sofern sie bei pathologischer Beschaffenheit des CTG unumgänglich ist, als grober Behandlungsfehler gewertet.[334]

387

Entscheidet sich der Geburtshelfer zur Notsectio, so muss nach einer seit langem geltenden Behandlungsrichtlinie eine E-E-Zeit (Entschluss-Entwicklungs-Zeit) von 20 Minuten eingehalten werden. In spezialisierten Kliniken kann diese Zeit weit unterboten werden. Krankenhäuser der Grund- und Regelversorgung haben jedoch mitunter Schwierigkeiten, eine E-E-Zeit von 20 Minuten einzuhalten. Bislang werden von der Rechtsprechung geringfügige Überschreitungen der E-E-Zeit von einigen wenigen Minuten noch toleriert. Längere Überschreitungen werden hingegen durchweg als grobe Behandlungsfehler gewertet. Es lässt sich beobachten, dass die Rechtsprechung in diesem Punkt zunehmend strenger wird.[335]