Handbuch Arzthaftungsrecht

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V. Fehler im arbeitsteiligen Geschehen

1. Fehlerpotential bei Schnittstellen

239

Das Zusammenwirken verschiedener Mitarbeiter in verschiedenen Fachbereichen, das Zusammenwirken in unterschiedlichen hierarchischen Strukturen, wie auch die Kooperation räumlich getrennter Arbeitseinheiten bedingt ein erhöhtes Risiko- und Haftungspotential im Bereich der Schnittstellen.

240

In einer multizentrischen Studie wurde über 24 Monate zentral eine Sammlung und Analyse aller eingehenden Fehlerberichte vorgenommen. Aus den 1.299 Berichten wurden 1.829 Risikokonstellationen extrahiert. Die häufigsten waren Medikationsfehler mit 35 %, Verfehlung von Standards mit 24 % und Risiken durch Dokumentationsfehler mit 15 %. In einem geringeren, aber nicht unbeträchtlichen Teil der Risikokonstellationen ließen sich Probleme in der Kommunikation und Zusammenarbeit an Schnittstellen identifizieren[225].

241

Im Bereich von Kooperation und Delegation gilt der Vertrauensgrundsatz. Dementsprechend darf der übernehmende Facharzt darauf vertrauen, dass der überweisende Kollege die Indikation für die erbetene Untersuchung geprüft hat.[226]

242

Aus diesem Grund besteht aber auch keine Verpflichtung eines Facharztes, bei einem Patienten, der ohne Äußerung eines bestimmten Krankheitsverdachts vom Hausarzt überwiesen wird, vom Untersuchungsauftrag abzuweichen.[227]

243

Er hat allerdings zu prüfen, ob die erbetene Leistung den Regeln der ärztlichen Wissenschaft entspricht und nicht kontraindiziert ist.[228]

244

Hat der Arzt begründete Zweifel an der Richtigkeit der übermittelnden Diagnose oder Information, ist er gehalten, diesen nachzugehen.[229]

2. Einzelaspekte der Arbeitsteilung

a) Vertrauensgrundsatz

245

Bei der Zusammenarbeit von Ärzten und anderen Mitarbeitern im Gesundheitswesen kann es zu horizontaler wie auch zu vertikaler Arbeitsteilung kommen.

246

Grundsätzlich gilt der Vertrauensgrundsatz, der besagt, dass sich beispielsweise ein hinzugezogener Arzt darauf verlassen kann, dass der überweisende Arzt eine Untersuchung und Behandlung entsprechend dem fachärztlichen Standard auf dessen Fachgebiet vorgenommen hat[230].

247

Der Vertrauensschutz entfällt dann, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel am standardgemäßen Vorgehen des vorher tätigen Kollegen erkennen lassen[231].

248

Zwar wird keine gegenseitige direkte Überwachungspflicht fachfremder Kollegen angenommen, doch endet der Vertrauensgrundsatz, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der übermittelten Diagnose erkennen lassen. Diesen muss der Arzt dann nachgehen. Bei Zweifeln ist der Kollege umgehend vom Verdacht zu informieren[232].

249

Der Vertrauensgrundsatz reduziert sich bei Zusammenarbeit von Ärzten aus dem gleichen Fachgebiet. So ist gemäß OLG Jena[233] der nachbehandelnde Arzt desselben Fachgebietes zu umfangreicheren Nachprüfungen gehalten, um sich von der Richtigkeit der Diagnose des Vorbehandlers zu vergewissern[234].

250

Während der nachbehandelnde Arzt umschriebenen Überprüfungspflichten unterliegt, hat der überweisende Arzt auch die Verpflichtung, auf die Notwendigkeit engmaschiger Kontrolluntersuchungen hinzuweisen, die sich nicht nur an den Patienten, sondern auch an den Nachbehandler richten[235]. Der vorbehandelnde Arzt ist grundsätzlich auch für Behandlungsfehler des Nachbehandlers verantwortlich[236]. Der Zurechnungszusammenhang entfällt nur, wenn die Nachbehandlung in keinem inneren Zusammenhang mit therapeutischen und diagnostischen Maßnahmen des Erstbehandlers steht oder wenn der Zweitschädiger in außergewöhnlich hohem Maße die an ein gewissenhaftes ärztliches Verhalten zu stellenden Anforderungen außer Acht gelassen und derart gegen alle ärztlichen Regeln und Erfahrungen verstoßen hat, dass der eingetretene Schaden seinem Handeln haftungsrechtlich – wertend allein zugerechnet werden muss[237].

251

Im Bereich der vertikalen Arbeitsteilung muss sichergestellt werden, dass Aufgaben auf ausreichend ausgebildete Mitarbeiter übertragen werden[238]. Dem Mitarbeiter, dem eine Aufgabe übertragen wird, kann dann ein Vorwurf gemacht werden, wenn er gegen den Eingriff Bedenken hätte haben müssen und eine Gefährdung des Patienten vorhersehbar gewesen wäre.

252

In der Belegarztkonstellation haftet der Belegarzt für die belegärztlichen Tätigkeiten, im Rahmen des gespaltenen Krankenhausaufnahmevertrags haftet der Krankenhausträger für die ihm obliegenden Sicherungs- und Überwachungstätigkeiten[239].

253

Im Rahmen eines Geburtsvorgangs haftet der Krankenhausträger für die bei ihm angestellten Ärzte und Hebammen gemäß § 278 BGB. Handelt es sich um ein Belegkrankenhaus, gilt dies nur insoweit, als die Hebamme eigenverantwortlich und ohne Leitung des Belegarztes tätig ist[240].

254

Untersteht die Hebamme aber den Weisungen und dem Direktionsrecht des Belegarztes, betrachtet man sie als dessen Erfüllungs- oder Verrichtungsgehilfin ab dem Zeitpunkt ihrer fachlichen Unterordnung[241].

255

Bei Delegation auf das Krankenhauspersonal gilt, dass der Kernbereich medizinischer Behandlungsmaßnahmen nicht auf nichtärztliches Personal delegiert werden darf. Dazu gehören neben der Diagnosestellung und Befunderhebung die operativen Eingriffe, die intravenöse Injektion eines Röntgenkontrastmittels, das Anlegen von Bluttransfusionen und der Wechsel von Blutkonserven[242]. Bei Injektionen wird fallabhängig eine Delegation auf erfahrene Schwestern in Betracht kommen[243]. Die Delegation stellt stets ein vom Arzt zu überwachendes Geschehen dar.

b) Kommunikations- und Überwachungsdefizite

256

Kommunikationsdefizite und problematische „Übergabezeitpunkte“ wie auch die Organisation der Kooperation an Schnittstellen können zu erheblichen – zivil- und strafrechtlich relevanten – Problemkonstellationen führen.

257

Dies illustriert eine Entscheidung des Landgerichts Bielefeld, Urteil vom 14.8.2013[244], in dem ein Medizinstudent als Student im praktischen Jahr auf der Inneren Medizin eingesetzt wurde.

258

Bei einem einjährigen Jungen mit Verdacht auf akute myologische Leukämie war eine orale Antibiotikumgabe vorgesehen, für die das peroral, also durch den Mund zu verabreichende Antibiotikum zur besseren oralen Applikation auf eine Spritze aufgezogen worden war. Vorgesehen war es, den Inhalt der Spritze oral zu verabreichen, also direkt in den Mund zu spritzen.

259

Durch ein Augenblicksversagen des PJ-Studenten, das vor dem Hintergrund einer hektischen Kooperationssituation zu verstehen ist, erfolgte versehentlich die Injektion des per oral zu verabreichenden Antibiotikums über das IV-System intravenös. Als Folge der fehlerhaften Applikation des Antibiotikums verstarb der einjährige Junge an einem anaphylaktischen Schock. In der Klinik war es üblich, einen Kontrollzettel beizufügen, auf dem der die Applikation vornehmende Arzt den Vorgang mit seiner Unterschrift dokumentieren musste.

260

Auf allen Stationen der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin wurden die intravenös zu applizierenden Spritzen einheitlich vorbereitet. Auf jeder Station gab es eine sog. „Spritzenecke“. Darunter war ein Tisch zu verstehen, auf dem die Spritzen gebrauchsfertig abgelegt werden. Morgens zogen die Krankenschwestern die Spritzen auf. Jede Spritze wurde mit dem Namen des Patienten, dem Medikament, der Dosierung, dem Datum, der Zeit und dem Ort beschriftet. Jede Spritze war mit einer Kanüle versehen, die sich in einer Kunststoffschutzhülle befand. Beigefügt war ein Kontrollzettel, auf dem der die Applikation vornehmende Arzt den Vorgang mit seiner Unterschrift dokumentieren musste. Diese krankenhausintern einheitliche Handhabung der intravenösen Spritzen war dem PJ-Studenten bekannt.

261

Als der PJ-Student das Zimmer betrat, ging er zum Nachttischschrank, nahm die dort abgelegte Spritze und applizierte den Inhalt in den liegenden Venenkatheter. Dabei sagte er zur Mutter, das Antibiotikum müsse gegeben werden. Diese wunderte sich, dass der PJ-Student die Spritze in den Katheter entleerte, wusste sie doch, dass sie den Spritzeninhalt ihrem Sohn wieder oral in den Mund träufeln sollte. Sie war aber zu überrascht, um noch nachzufragen. Der PJ-Student hatte fälschlicherweise angenommen, den Auftrag für Blutentnahmen und die venöse Gabe des Antibiotikums erhalten zu haben.

262

Bei Beachtung der im Verkehr erforderlichen und ihm möglichen Sorgfalt hätte er aber erkennen können und müssen, dass er diese Spritze nicht intravenös applizieren durfte. Denn die Spritze war unbeschriftet und auch nicht mit einer Nadel versehen.

263

Die krankenhausintern einheitliche Handhabung des intravenösen Spritzens war dem PJ-Studenten bekannt und hätte eigentlich dazu führen müssen, dass eine intravenöse Injektion der nicht besonders gekennzeichneten Spritze unterblieben wäre. Ist auch nur aus den Umständen erkennbar, dass eine im Zimmer des Patienten abgelegte Spritze zur oralen Verabreichung bestimmt ist, hat – so die Urteilsbegründung – ein Medizinstudent im Praktischen Jahr bei der anordnenden Ärztin nachzufragen, um sich über den Inhalt der Spritze und deren beabsichtigte Verwendung Klarheit zu verschaffen.

 

264

Appliziert er dann die Spritze ohne erforderliche Nachfrage dennoch intravenös und verstirbt der Patient infolge dessen an einem anaphylaktischen Schock, ist der PJ-ler wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen. Wurde der Fehler durch unzulängliche Organisationsmaßnahmen der ausbildenden Klinik begünstigt, wird dies – dies zeigt das Urteil deutlich – lediglich im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt.

aa) Die „Problemfelder“ des Falles

265


Kommunikationsdefizit auf beiden Seiten,
ungenaue Anordnung und unterlassenes Nachfragen,
Zeitnot,
unzulängliche Organisationsmaßnahmen der ausbildenden Klinik,
wäre von vornherein ein anderer Spritzentyp eingesetzt worden, wäre schon keine Verbindung zum Venensystem möglich gewesen und eine i.v.-Injektion schon technisch gescheitert. Risikovermeidungsstrategien können und sollten daher bereits bei der Materialwahl ansetzen.

bb) Fazit

266

Situationen, in denen es zur Zusammenarbeit von Personen mit verschiedenem Ausbildungszustand, verschiedenen Hierarchieebenen, verschiedener Erfahrung und Provenienz kommt, sind sämtlich gefahrgeneigt, was Auswahl, Überwachung und Kontrolle, aber auch die Übermittlung von Informationen und den späteren Nachweis der Übermittlung selbst betrifft.

267

Dies gilt insbesondere für den Fall telefonischer Delegationsanweisungen, also die Fallkonstellation, in der der delegierende Arzt seine Anweisung lediglich telefonisch gibt. Grundsätzlich sind im Bereich der Delegation Delegationsentscheidungen vom anordnenden Arzt schriftlich zu delegieren. Doch hat auch der Delegationsempfänger darauf zu achten, den Inhalt des Delegierten zu dokumentieren und sich gegebenenfalls die Anordnung auch noch gegenzuzeichnen lassen. Aus der Zusammenarbeit im Schnittstellenbereich ergibt sich damit ein erhöhtes Maß an Kontrolle und eine gesteigerte Kontrolldichte.

268

Nachdem je nach Sichtweise des Sachverständigen ganz unterschiedliche Begutachtungsergebnisse erwartet werden können, sind bei Kooperation im medizinischen Schnittstellenbereich – je nach sachverständiger Begutachtung und ggf. Schulenzugehörigkeit – unterschiedlichste – teilweise divergierende – Auffassungen von einem standardgemäßem Verhalten möglich.

c) Übersicht zu möglichen Problemkonstellationen

269


Übergabeverschulden bei Delegation, Fehler bei Auswahl, Überwachung und Kontrolle
Übernahmeverschulden
Kommunikation zu unspezifisch
Kommunikation fehlt ganz
Kommunikation widersprüchlich oder missverständlich
Verzicht auf persönliche Überprüfung, stattdessen nur Telefonkontakt
Verzicht auf Nachfragen und „Double-Check“ bei Übergabe
Keine spezielle Kennzeichnung von Medikamenten und Spritzen in Übergabesituationen
Verwechslungsgeneigte Materialauswahl
Keine ausreichende Dokumentation in Übergabesituationen
Fehlende Hinweise auf Kommunikationswege, wo und wie Übergebender oder Verantwortliche zu erreichen sind
Fehlende Anweisung des Übernehmers
Fehlende Dokumentation des Geschehens
Fehlende Kontrolle bei Anfängern
Fehlende Dienstanweisungen
Generelle Zeitnot

3. Risikohäufung bei Kooperation am Beispiel des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes

a) Vision der Verwaltungen

270

Deutlich wird die Problematik der Kooperation bei Schnittstellen auch bei Implementation eines des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes. Angesichts der besonderen Bedeutung abgestimmter Zusammenarbeit wird in vielen Disziplinen eine organisatorische Neustrukturierung und Zusammenführung einzelner Fachdisziplinen im Rahmen der Klinikorganisation diskutiert. Angesichts der limitierten finanziellen Ressourcen erwartet man von einer Bündelung der Kräfte bedeutsame Synergieeffekte. Die praktische Durchsetzung einer Kooperation unter Berücksichtigung haftungsrechtlicher Aspekte stellt jedoch Klinikträger und leitende Klinikärzte vor erhebliche Aufgaben. Neben der Wahrung des fachlichen Standards ist Kommunikations- und Organisationsdefiziten vorzubeugen. Dies gilt insbesondere bei Delegation von Aufgaben und bei der Organisation eines gemeinsamen Bereitschaftsdienstes.

271

Die Vision von Synergieeffekten beruht auf der Überlegung, dass wegen des vergleichbaren Weiterbildungsinhalts benachbarter Fachgebiete und der gemeinsamen Wissenserfahrung der Ärzte durch das Medizinstudium Einspareffekte erzielt werden können. So soll auf einen doppelt besetzten Bereitschaftsdienst durch sowohl Chirurgen als auch beispielsweise Internisten verzichtet werden und stattdessen alternierende Fachgruppen (z.B. Internisten an den einen Tagen, an den Folgetagen nur Chirurgen) tätig werden. Von einer derartigen faktischen Handhabung lassen sich erhebliche Einsparungen, insbesondere bei den Personalkosten, erhoffen.

272

Basis der Überlegungen ist die Annahme, dass die zumindest im Medizinstudium gemeinschaftlich ausgebildeten Ärzte so viel Allgemeinkenntnisse mitbringen, dass sie in Notfallsituationen zunächst auch Notfälle eines anderen Fachgebiets beherrschen und in der Lage sind, nach einer gewissen Zeitverzögerung auch Kollegen des anderen Fachgebiets hinzuzuziehen.

b) Zulässigkeit

273

Der fachübergreifende Bereitschaftsdienst wird im Krankenhausgesetz oder anderen Regelwerken nicht geregelt. Auch das ärztliche Berufsrecht regelt den Bereitschaftsdienst nicht. § 22 der Musterweiterbildungsordnung bindet den Facharzt zwar grundsätzlich an sein Gebiet, lässt aber Ausnahmen zu, um die es sich auch beim fachübergreifenden Bereitschaftsdienst handeln kann.

274

Befürworter des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes begründen ihre Haltung häufig mit einem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12.11.1981,[245] das argumentiert, Aufgabe eines Bereitschaftsdienstes sei es nicht, eine intensive fachärztliche Behandlung der Kranken auch zur Nachtzeit sowie an Sonn- und Feiertagen sofort zu ermöglichen. Vielmehr bestehe dessen Aufgabe darin, während der Nachtzeit und an Sonn- und Feiertagen bei auftretenden akuten Notfällen erste Hilfsmaßnahmen für die Patienten zu ergreifen. Dabei könne von den jeweils teilnehmenden Ärzten verlangt werden, dass sie zur ordnungsgemäßen Erledigung ihrer Dienstaufgaben nicht mehr aktuelles Wissen auf dem anderen Gebiet durch Studium der entsprechenden Lehrbücher wieder auffrischen und so genügend einsatzfähig seien.

275

In ähnlicher Weise argumentiert auch eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hannover vom 22.1.1990[246]. Eine fachübergreifende Versorgung von Frauen in der Geburtshilfe sei durch chirurgische oder urologische Assistenzärzte im Bereitschaftsdienst ordnungsgemäß gewährleistet, weil ein ärztlicher Bereitschaftsdienst die eigentliche fachliche Versorgung nicht sicherzustellen habe. Das Medizinstudium der Assistenzärzte liege noch nicht allzu lange zurück. Die jungen nachgeordneten Ärzte beider Abteilungen könnten damit noch auf genügende Allgemeinkenntnisse beider Fachgebiete zurückgreifen, um Notfälle sofort behandeln zu können. Eine bessere fachärztliche Versorgung auch während der Nachtzeiten könne von den Patienten nicht verlangt werden und sei unwirtschaftlich.

c) Risikoerhöhung

276

Es wird deutlich, dass die verwaltungsgerichtlichen Urteile ausschließlich unter Kosten- bzw. Pflegesatzaspekten ergangen sind, bei einer haftungsrechtlichen oder strafrechtlichen Bewertung aber ganz andere Gesichtspunkte, nämlich die Einhaltung des Facharztstandards bzw. die persönliche Verantwortung eingreifen. Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH hat ein Patient in einer Fachabteilung Anspruch auf standardgemäße, d.h. der Sorgfalt eines erfahrenen, pflichtbewussten Facharztes der jeweiligen Disziplin entsprechenden Betreuung.[247] Dabei handelt es sich um einen objektiven und gleichzeitig dynamischen Sorgfaltsmaßstab, der sich nicht an dem orientiert, was in der jeweiligen Klinik üblich ist, sondern an dem, was objektiv betrachtet erforderlich ist.[248] Fahrlässig handelt, wer das in den Kreisen gewissenhafter und aufmerksamer Ärzte oder Fachärzte vorausgesetzte Verhalten unterlässt.[249] Für den einzelnen Arzt bedeutet dies, dass er im Rahmen seiner Therapiefreiheit zwar grundsätzlich nicht auf sein Fachgebiet festgelegt ist. Doch fordert die Rechtsprechung, dass er, wenn er sich auf ein anderes Fachgebiet begibt, dessen Standard garantiert.[250] Hieraus ergibt sich für jeden Behandler im Einzelfall die Verpflichtung, bei Überschreitungen der eigenen Grenzen erfahrene Kollegen, gegebenenfalls des betreffenden anderen Fachgebietes hinzuzuziehen bzw. sich entsprechend weiterzubilden. In diese Richtung geht auch die Forderung des VGH Bayern, die in kooperierenden Bereichen oder im Nachtdienst zusammenarbeitenden Ärzte seien verpflichtet, sich zur ordnungsgemäßen Erledigung ihrer Dienstaufgaben auch hinsichtlich der Nachbargebiete weiterzubilden.[251]

277

Eine Bezugnahme auf die genannten verwaltungsgerichtlichen Wertungen wird allerdings der eigentlichen Problemkonstellation nicht hinreichend gerecht, wenngleich Grundsätze des fachübergreifenden Bereitschaftsdienst, insbesondere die Verpflichtung, sich bei Ausübung des Notfalldienstes die erforderlichen Kenntnisse anzueignen und sie regelmäßig aufzufrischen, auch in den Notfalldienstordnungen der Kassenärztlichen Vereinigung zu finden sind, so beispielsweise in § 7 (Pflichten des Notfalldienstarztes) der Notfalldienstordnung der KV BW vom 4.12.2013. Danach ist jeder am Notfalldienst teilnehmende Arzt dazu verpflichtet, sich die für die Ausübung des Notfalldienstes erforderlichen Kenntnisse anzueignen und sie regelmäßig aufzufrischen.

 

278

Insgesamt führt der Einsatz von fachfremden Ärzten im Rahmen des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes zu einer beträchtlichen Risikoerhöhung der beteiligten Ärzte, insbesondere der fachfremden Assistenzärzte.

279

Begibt sich ein Arzt auf ein anderes Fachgebiet, muss er regelmäßig dessen aktuellen Standard in allen Ausprägungen gewährleisten[252]. Es steht daher zu befürchten, dass ein fachfremd tätiger Arzt im Rahmen des fachübergreifenden Bereitschaftsdiensts bei Komplikationen oder Notfällen von einem Kollegen aus dem fachfremden Gebiet begutachtet wird.

280

Die unterschiedlichen, aus den verschiedenen Fachgebieten sich ergebenden Sichtweisen werden beispielhaft deutlich, wenn man in einem fiktiven Fall die Zusammenarbeit von Internisten, Chirurgen oder Gynäkologen betrachtet:


Käme eine junge Frau mit Abdominalbeschwerden in eine zunächst internistisch geprägte Ambulanz bzw. würde von einem internistischen Assistenzarzt behandelt, würde dieser zunächst die Möglichkeit eines akuten Magen-Darm-Infekts, entzündlicher Darmerkrankungen oder ähnliche Aspekte in den Fokus rücken.
Bei initialer Behandlung durch einen Facharzt für Chirurgie würde ggf. zunächst an den Aspekt einer chirurgisch anzugehenden Erkrankung, naheliegend z.B. an die Verdachtsdiagnose einer Appendizitis, gedacht werden.
Würde der Erstkontakt dagegen über einen Gynäkologen erfolgen, würde dieser – neben den anderen Aspekten – wohl den Gesichtspunkt einer extrauterinen Gravidität (Eileiterschwangerschaft) in den Fokus rücken und zwingend zunächst die Einleitung eines Schwangerschaftstests fordern.

281

Handelte es sich tatsächlich um den Fall einer extrauterinen Gravidität, müssten sich Internisten und Chirurgen, die auf die Einholung eines standardmäßigen Schwangerschaftstests verzichtet hätten, auf eine fachfremde gynäkologische Begutachtung einstellen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die unterlassene Durchführung eines solchen Tests als gravierenden Fehler bewerten würde.

282

Dies macht deutlich, dass gerade bei fachfremder Begutachtung die Gefahr der Annahme grober Fehler nicht unbeträchtlich wäre.

283

Nicht nur in der Konstellation des fachübergreifenden Bereitschaftsdienstes, sondern generell beim Zusammenarbeiten verschiedener Fachgruppen besteht die erhöhte Gefahr, dass angenommen wird, dass der jeweils tätige Arzt seine fachliche Grenze überschreitet und sich auf ein anderes Fachgebiet begibt, weshalb die aufgezeigte Problematik generell erhebliche haftungsrechtlichen Probleme mit sich bringt. Dies lässt sich exemplarisch an einem Urteil des Landgerichts Augsburg vom 30.9.2004[253] aufzeigen.