Handbuch Arzthaftungsrecht

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a) Standardbestimmung

68

Die Annahme eines Therapiefehlers begründet und definiert sich danach im Wesentlichen aus einer Abweichung vom medizinisch gebotenen Standard. Dementsprechend enthalten sämtliche gängigen Definitionen objektive wie subjektive Kriterien, die sich auf regelhaftes Verhalten bzw. den Begriff des „Standards“ beziehen. Dieser ist nicht statisch, sondern dynamisch und verändert sich jeweils mit den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft.[126]

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Entscheidend für die Bewertung einer medizinischen Behandlung in der Praxis ist es, ob die jeweils im Individualfall durchgeführte Therapie- bzw. Diagnosemaßnahme medizinisch indiziert und lege artis erfolgt ist.

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Bei der Bestimmung eines Behandlungsfehlers orientiert man sich nicht an einem „Positivkatalog“ behandlungsfehlerhafter Vorgehensweisen. Vielmehr ist es erforderlich, eine Abgrenzung zu nicht behandlungsfehlerhaftem Verhalten, dem „medizinischen Standard“ vorzunehmen. So spricht beispielsweise Laufs[127] von einem Behandlungsfehler, wenn es sich um eine „ärztliche Maßnahme“ handelt, „die nach dem Standard der medizinischen Wissenschaft und Erfahrung die gebotene Sorgfalt vermissen lässt“.

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Letztlich richtet sich der Therapiefehler, also das Abweichen von einem standardgemäßen Vorgehen nach der Definition des Standards, die wiederum durch einen Sachverständigen aus dem Fachgebiet vorgenommen wird, aus dem der behandelnde Arzt stammt. So muss sich das Gericht bei der Frage, ob eine Abweichung vom medizinischen Standard und damit ein Behandlungs- oder Therapiefehler vorliegt, grundsätzlich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch einen Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Fachgebiet stützen.[128]

72

Geschuldet wird gemäß §§ 76 Abs. 4 SGB V, 276 BGB, die im Verkehr erforderliche Sorgfalt, die nach dem medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets bestimmt wird.[129]

b) Grundkenntnisse

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Nach einem Beschluss des BGH vom 9.6.2009 sind dabei zur Bestimmung des Sorgfaltsmaßstabes des Arztes nicht nur die im jeweiligen Fachgebiet geltenden Maßstäbe zu berücksichtigen, sondern auch allgemeine medizinische Grundkenntnisse.[130]

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In dem zitierten Fall war das Berufungsgericht zwar zutreffend davon ausgegangen, dass sich das Gericht bei der Frage, ob eine Abweichung vom medizinischen Standard und damit ein Behandlungsfehler vorliegt, grundsätzlich auf die medizinische Bewertung des Behandlungsgeschehens durch einen Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Fachgebiet stützen muss.[131] Es hatte jedoch übersehen, dass beim Sorgfaltsmaßstab des Arztes nicht nur die im jeweiligen Fachgebiet geltenden Maßstäbe zu berücksichtigen sind, sondern auch allgemeine medizinische Grundkenntnisse[132].

c) Bedeutung des Fachgebiets

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Entscheidend ist dabei das Handeln, das von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachgebiets vorausgesetzt und erwartet wird. Der Standard wird mit dem umschrieben, was auf dem betreffenden Fachgebiet dem gesicherten Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht und in der medizinischen Praxis zur Behandlung der jeweiligen gesundheitlichen Störung anerkannt ist, wobei der jeweilige Facharztstandard entscheidend ist. Die Bewertung kann daher allein durch einen Facharzt durchgeführt werden, der dieselbe Fachspezifität, Fachdisziplin und Versorgungsstufe wie die behandelnden Ärzte aufweist. Nur so können die Besonderheiten der Behandlungssituation aus der allein maßgeblichen Ex-Ante-Sicht hinreichend gewürdigt werden.[133]

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Daher liegt eine fehlerhafte Ermessensausübung vor, wenn das Gericht einen Sachverständigen aus einem falschen Sachgebiet ausgewählt hat (§ 404 Abs. 1 S. 1 ZPO).[134] Die Auswahl des Sachverständigen steht zwar im Ermessen des Gerichts. Es liegt jedoch eine fehlerhafte Ermessensausübung vor, wenn das Gericht einen Sachverständigen aus einem falschen Sachgebiet ausgewählt hat (§ 404 Abs. 1 S. 1 ZPO).[135] Grundsätzlich ist bei der Auswahl auf die Sachkunde in dem medizinischen Fachgebiet abzustellen, in das der Eingriff fällt.[136] Hierfür können die fachärztlichen Weiterbildungsordnungen herangezogen werden.[137] Soweit ein Eingriff mehrere Fachbereiche berührt, kommt es darauf an, welchem Fachbereich die konkrete Beweisfrage zuzuordnen ist.[138]

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Legt sich der Gutachter nicht fest und kann für den konkreten Behandlungsfall objektiv kein „Behandlungsstandard“ definiert werden, bleibt es beim Grundsatz der Methodenfreiheit. Wenn es mehrere medizinisch anerkannte Heilmethoden gibt, kann der Arzt über die Wahl des Therapieverfahrens entscheiden.[139]

d) Fachgebietsüberschreitung

78

Eine häufig problematische Konstellation ergibt sich, wenn der Arzt sein Fachgebiet überschreitet. Der Gynäkologe, der sich mit Brustaugmentationen befasst, muss – abhängig vom Einzelfall – mit einer Begutachtung durch einen plastischen Chirurgen rechnen. Der Unfallchirurg, der sich auf das Gebiet der Extremitätenchirurgie begibt, muss gegebenenfalls die Begutachtung durch einen spezialisierten Handchirurgen akzeptieren. Eine fachfremde Begutachtung kann auch schon dann im Betracht kommen, wenn beispielsweise der Chirurg ein psychiatrisches Konsil für erforderlich hält, dies auch so dokumentiert, die Veranlassung der konsiliarischen Untersuchung dann aber unterbleibt. Bereits die unterbliebene Konsultation des Fachkollegen kann – abgesehen von Befunderhebungsaspekten – den Fall in Richtung einer fachfremden Begutachtung öffnen.

79

Zwar besteht für den Arzt grundsätzlich Therapiefreiheit. Überschreitet er jedoch die Grenzen seines Fachgebietes, muss er sich nach den Regeln des (für ihn fachfremden) Fachgebiets messen lassen, das er betreten hat. Dies führt zu teilweise problematischen Bewertungen in der Praxis.

80

Beispielhaft könnte in einem Fall, in dem der Hausarzt ein hautfarbenes, dem Erscheinungsbild einer Warze nahekommendes amelanotisches Melanom als Warze behandelt und restlos entfernt, vom Gericht ein Verlassen des eigenen Fachgebiets und ein „Eindringen“ in den fachfremden Bereich der Dermatologie angenommen werden. Folge könnte dann die Beauftragung eines dermatologischen Sachverständigen sein, gegebenenfalls sogar eines ausgewiesenen Melanomspezialisten. Dieser könnte den Fall dann gerade vor dem Hintergrund einer oft jahrzehntelangen Erfahrung mit Melanomen naturgemäß strenger bewerten.

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Richtigerweise ist aber gerade zur Bewertung der komplexen differentialdiagnostischen Überlegungen des Arztes auf dessen eigenes Fachgebiet abzustellen und ein Sachverständigengutachten aus seinem Bereich (hier: Allgemeinmedizin) einzuholen, damit die Besonderheiten des Falls aus der allein maßgeblichen und gutachterlich gebotenen Ex-Ante-Sicht des behandelnden Arztes gewertet werden können. Häufig wird dabei der Gesichtspunkt der Versorgungsstufe vernachlässigt, da tendenziell Ärzte aus Einrichtungen der Maximalversorgung als Gutachter beauftragt werden. Zudem wird beispielsweise auch bei Begutachtung des Tätigwerdens eines Hausarztes häufig ein Theoretiker aus einem Universitären Lehrstuhl des Fachgebiets Allgemeinmedizin beauftragt, bei dem sich ein eher praxisferner Denkansatz nicht ausschließen lässt.

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Im Beispielsfall können sowohl fachfremder als auch fachbezogener Sachverständiger im Fall der restlosen Entfernung eines als Warze erscheinenden Melanoms zum Behandlungsfehlervorwurf kommen, da – abhängend vom Einzelfall – eine generelle histologische Untersuchung jedes entfernten Gewebes auch im hausärztlichen Fachgebiet gefordert wird.

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Diese Umstände, wie auch das Vorhandensein verschiedener „Schulen“ in der Medizin führen häufig zu divergierenden gutachterlichen Wertungen, die es durch Befragung des Sachverständigen, sei es im Rahmen des schriftlichen Verfahrens oder in der mündlichen Verhandlung, abzuklären gilt.

3. Leitlinien und Abgrenzung

84

Bei der Bewertung eines ärztlichen Handelns als Therapiefehler werden häufig auch Leitlinien und Richtlinien zur Bewertung hinzugezogen. Abzugrenzen sind die im medizinischen Sprachgebrauch verwendeten Bezeichnungen, Standards, Leitlinien, Empfehlungen, von den in § 92 Abs. 1 SGB V beschlossenen Richtlinien.

a) Leitlinien

85

Unter Leitlinien versteht man Regeln eines guten ärztlichen Handelns, die von ärztlichen Fachgremien für typische medizinische Sachverhalte aufgestellt werden, die auf die qualitative Sicherung oder Verbesserung des maßgeblichen Standards diagnostischen oder therapeutischen Vorgehens abzielen.[140]

86

Leitlinien können zwar den Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft deklaratorisch wiedergeben, sie haben aber keine für den medizinischen Standard konstitutive Wirkung.[141]

87

Leitlinien von ärztlichen Fachgremien oder Verbänden können (im Gegensatz zu den Richtlinien der Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen) nicht unbesehen mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt werden. Sie können kein Sachverständigengutachten ersetzen und nicht unbesehen als Maßstab für den Standard übernommen werden. Zwar können sie im Einzelfall den medizinischen Standard für den Zeitpunkt ihres Erlasses zutreffend beschreiben. Allerdings geben diese nicht ohne Weiteres stets einen bereits zuvor bestehenden medizinischen Standard wieder.[142]

 

88

Dies gilt in besonderem Maße für Leitlinien, die erst nach der zu beurteilenden medizinischen Behandlung veröffentlicht worden sind. Leitlinien können Standards ärztlicher Behandlung fortentwickeln oder ihrerseits veralten. Entsprechendes gilt für Handlungsanweisungen in klinischen Leitfäden oder Lehrbüchern.[143]

89

Letztendlich obliegt die Feststellung des Standards der Würdigung des sachverständig beratenen Tatrichters, dessen Ergebnis revisionsrechtlich nur auf Rechts- und Verfahrensfehler überprüft werden kann, also insbesondere darauf, ob ein Verstoß gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze vorliegt, das Gericht den Begriff des medizinischen Standards verkannt oder den ihm unterbreiteten Sachverhalt nicht erschöpfend gewürdigt hat.[144]

90

Leitlinien können sich dynamisch fortentwickeln, werden einem Aktualisierungsprozess unterworfen und können auch veralten. So musste das Gericht entsprechend einer Entscheidung des 6. Zivilsenats vom 7.2.2011[145] nachprüfen und den Sachverständigen ergänzend dazu anhören, ob entsprechende Leitlinien zum Zeitpunkt der Behandlung der Patientin vorgelegen und entsprechend dem Vorbringen der Patientin dem ärztlichen Standard zum Zeitpunkt der Behandlung entsprochen haben.

91

In dem zitierten Fall hatte das Berufungsgericht den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es die Ausführungen der Klägerin zur Notwendigkeit der Durchführung einer perioperativen Antibiotikaprophylaxe nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt hatte.[146]

92

Das Berufungsgericht hätte wegen dieses qualifizierten Parteivortrags den gerichtlichen Sachverständigen dazu ergänzend anhören müssen, ob solche Leitlinien zum Zeitpunkt der Behandlung der Klägerin vorlagen und entsprechend dem Vorbringen der Klägerin dem ärztlichen Standard zum Zeitpunkt der Behandlung entsprachen. Sofern dies der Fall gewesen wäre, hätte mit Hilfe des Sachverständigen geklärt werden müssen, ob in der Nichtbeachtung der Leitlinien im Streitfall ein grober Behandlungsfehler lag, der zu einer Umkehr der Beweislast führen könnte. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts reichte der Vortrag der Klägerin hierfür aus, zumal sich der Privatgutachter auf eine Veröffentlichung der AWMF bezogen hat, und dies – jedenfalls für einen Sachverständigen – ohne Weiteres als Quellenangabe ausreicht. Es handelte sich dabei um die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, welche die Leitlinien ihrer Fachgesellschaften allgemein zugänglich in „AWMF online“ veröffentlicht. Den Leitlinien „Perioperative Antibiotikaprophylaxe“[147] war zu entnehmen, dass eine perioperative Antibiotikaprophylaxe als angezeigt angesehen wird. Auch wenn den Leitlinien keine konstitutive Bedeutung zukommt, hätte das Berufungsgericht das Vorbringen der Klägerin ohne Befragung des gerichtlichen Sachverständigen nicht übergehen dürfen.[148]

93

Ein Abweichen von Leitlinien kann im Einzelfall sogar geboten sein. Da der Patient im Regelfall aber eine dem Standard oder einer Leitlinie entsprechende Behandlung erwartet, kann die beabsichtigte Abweichung hiervon – abhängig vom Einzelfall – eine entsprechende Aufklärung erfordern. Es sollte möglichst frühzeitig auf einen ggf. abweichenden Standard für die konkrete Behandlung hingewiesen und Gründe für eine Abweichung im Einzelfall benannt werden.

94

Eine Abweichung von Hygieneleitlinien hin zu weniger Sorgfalt „nach unten“ zu begründen, dürfte im Einzelfall schwerfallen bzw. unmöglich sein, weshalb die tatsächliche Bindungswirkung von Hygieneleitlinien in der Praxis besonders hoch ist.

b) Richtlinien

95

Von den Leitlinien zu unterscheiden sind die Richtlinien der Bundesausschüsse für Ärzte bzw. Zahnärzte und Krankenkassen (§§ 91 ff. SGB V). Sie enthalten als Instrumente des Berufs- und Sozialrechts schriftlich fixierte und veröffentlichte Verhaltensregelungen. Sie legen den Standard insoweit fest, als eine Unterschreitung jedenfalls im sozialrechtlichen Sinne unzulässig ist. Richtlinien, die nach § 92 SGB V erlassen worden sind (vgl. Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses) sind für die Leistungserbringung grundsätzlich verbindlich. Einer vom Gemeinsamen Bundesausschuss zugelassenen Behandlung kommt eine Indizwirkung für den medizinischen Standard zu, wenn die Richtlinien nach ihrem Zweck den allgemeinen Standard der medizinischen Erkenntnisse näher bestimmen sollen.

96

Unter Richtlinien (z.B. solchen nach § 92 SGB V, Mutterschaftsrichtlinien, Richtlinien zur pränatalen Diagnostik) versteht man Handlungsregeln einer gesetzlich, berufsrechtlich, standesrechtlich oder satzungsrechtlich legitimierten Institution, die für den Rechtsraum dieser Institution verbindlich sind und deren Nichtbeachtung definierte Sanktionen nach sich ziehen kann.

97

Da der GBA gem. §§ 137, 92 Abs. 1 S. 1 SGB V Kompetenz zum Richtlinienerlass hat, sind Richtlinien des GBA untergesetzliche Normen, an die Gerichte gebunden sind. Die Richtlinien des GBA sind daher mit dem medizinischen Standard gleichzusetzen.

98

Dagegen hat beispielsweise die Bundesärztekammer keine Rechtssetzungskompetenz und es besteht keine richterliche Bindung der Rechtsprechung an die Richtlinien der BÄK.

c) Empfehlungen

99

Empfehlungen können dagegen von beliebigen Personen, Gremien oder Stellen ausgesprochen werden und sind für den Arzt grundsätzlich unverbindlich. Zwar kann die Missachtung einer Empfehlung einen Verstoß gegen Sorgfaltspflichten begründen, doch ergeben sich diese nicht aus der Empfehlung, sondern aus dem Standardverstoß.

100

Es gibt auch Leitlinien, die lediglich Empfehlungsniveau erreichen. So war das OLG Düsseldorf in seinem Urteil vom 25.1.2007[149] mit einer S1-Leitlinie konfrontiert. Da es sich angesichts der Entwicklungsstufe 1 um einen Expertenkonsens handelte, wurde von einer bloßen Empfehlung ausgegangen. Es handele sich bei der Leitlinie um eine solche der Entwicklungsstufe 1 (S1-Leitlinie), also lediglich um eine von einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaft im informellen Konsens erarbeitete Empfehlung.[150]

101

Merke


Ein Verstoß gegen eine Leitlinie indiziert noch nicht das Vorliegen eines Behandlungsfehlers.
Leitlinien können den medizinischen Standard des jeweiligen Fachgebiets wiedergeben, müssen dies aber nicht.
Der Arzt kann im Einzelfall von einer bestehenden Leitlinie abweichen, muss dann aber die Gründe hierfür darlegen.
Ein Abweichen von Hygieneleitlinien „nach unten“ wird ungleich schwerer zu erklären sein.
Da der Patient im Regelfall eine dem Standard oder einer Leitlinie entsprechende Behandlung erwartet, kann die beabsichtigte Abweichung hiervon – abhängig vom Einzelfall – eine entsprechende Aufklärung erfordern.

IV. Allgemeine Organisationsfehler/Delegation/Entlassmanagement

1. Ziel des Kapitels

102

Das nachfolgende Kapitel soll aufzeigen, welchen allgemeinen organisatorischen Verpflichtungen ambulante und stationäre Leistungserbringer unterliegen, um einen ordnungsgemäßen und gefahrlosen Ablauf einer Patientenbehandlung zu gewährleisten. Es wird aufgezeigt, welche normativen und durch die Rechtsprechung entwickelten Grundsätze gelten und wie sich diese auswirken. Das Kapital erläutert die grundsätzliche gesetzliche Ausgangslage, die dogmatische Konstruktion, die materiellen Voraussetzungen einer Organisationspflichtverletzung als auch die materiellen rechtlichen und prozessualen Konsequenzen. Ziel ist es, einen strukturierten Überblick über allgemeine Organisationspflichten zu geben umso für die am praktischen Fall orientierte Bearbeitung eines Mandats Lösungswege aufzeigen zu können.

2. Grundsätzliches zu Organisationspflichten

103

Ärzte und Krankenhäuser, genauer: der Krankenhausträger, ist grundsätzlich dazu verpflichtet, organisatorische Vorkehrungen für jede Art der Behandlung zu treffen. Sie unterliegen damit weitreichenden Pflichten. Es gilt eine den Aufgaben entsprechende Organisationsstruktur zu schaffen, um die Aufgaben zweckmäßig und zuverlässig erfüllen zu können.[152] Es bestehen Pflichten zur Organisationsanweisung, also zur Etablierung einer grundsätzlichen Ablaufstruktur des Behandlungsbetriebes, weiter bestehen Pflichten zur Auswahl-, Überwachung- und Anleitung des Personals. Ziel dieser Pflichten ist es, eine reibungslose und sichere Behandlung zu gewährleisten.

104

Allgemeine Organisationspflichten bestehen also bei:


der Auswahl des Personals,
der räumlichen Ausstattung,
der medizinischen Ausstattung,
der Etablierung von strukturierten Behandlungspfaden, sowie
hinsichtlich der Sicherheit während der Behandlung.

105

Mängel und Fehler in der Organisation werden nach allgemeinen deliktsrechtlichen Grundsätzen beurteilt, deren Vermeidung stellt aber auch eine wesentliche Pflicht aus dem Behandlungsvertrag dar.

106

Organisationsfehler zeichnen sich oftmals dadurch aus, dass sie nicht einer strikten normativen Auflistung folgen, sondern vielmehr vereinzelte gesetzliche Anknüpfungspunkte zur Bestimmung von Organisationspflichten bestehen und im Übrigen eine langjährige Entwicklung durch die Rechtsprechung erfolgt ist. So finden sich gesetzliche und normative Anknüpfungspunkte im SGB V, dem BGB als auch den untergesetzlichen Vorgaben wie den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses. Für die ambulante Leistungserbringung finden sich (ordnungsrechtlich aber eher nicht relevante) organisatorische Vorgaben im Bundesmantelvertrag für Ärztinnen und Ärzte, der Zulassungsverordnung für Ärztinnen und Ärzte als auch der jeweils einschlägigen Musterberufsordnung für Ärztinnen und Ärzte.

107

Die Besonderheit von Organisationspflichtverletzungen liegt darin, dass die einzelnen Fallgruppen in der Regel mit einer Verschuldensvermutung einhergehen, sodass die Leistungserbringer hier den jeweiligen Exkulpationsbeweis führen müssen. Organisationsfehler führen grundsätzlich nicht zu einer Beweislastumkehr für die haftungsbegründende Kausalität zum eingetretenen Primärschaden. Sie können im Einzelfall lediglich die Beweisführung des Verschuldens erleichtern.

 

108

Mit dem Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes im Jahre 2013 ist § 630a Abs. 2 BGB eingeführt worden. Demnach hat die Behandlung nach dem zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemeinen anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist. Ausweislich der Gesetzesbegründung[153] soll auch die allgemeine ordnungsgemäße Organisation Teil des anerkannten fachlichen Standards sein. In der Gesetzesbegründung heißt es hierzu wörtlich:

Nicht zuletzt erfordert der medizinische Standard auch die Pflicht zur allgemeinen ordnungsgemäßen Organisation. Sowohl in personeller als auch in organisatorischer Hinsicht bedarf es einer ausreichenden Planung. Eine sachgerechte Koordinierung setzt insbesondere eine in sich schlüssige und zuverlässige Planung der Arbeitsabläufe und des Personaleinsatzes voraus. Die für eine Behandlung im Einzelfall verantwortlichen Personen sowie das mit der medizinischen Behandlung im Übrigen betraute Personal sind ordnungsgemäß auszuwählen und stetig zu überwachen. Diese Personen müssen über die erforderliche fachliche und körperliche Eignung zur Durchführung medizinischer Behandlungen verfügen. Verstößt ein Krankenhausträger oder ein Behandler gegen diesen besonderen Sorgfaltsmaßstab, indem etwa einem noch nicht ausreichend qualifizierten Anfänger die Durchführung eines schwerwiegenden Eingriffs eigenverantwortlich übertragen wird, so führt diese organisatorische Fehlentscheidung zu einer Verletzung des Abs. 2 und schließlich zu einer Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Abs. 1. Insoweit folgt der Entwurf der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu den Anfängerfehler (BGH VersR 1993, 1231; KG VersR 2008, 1267). Zuständigkeiten sind klar zu regeln, Kompetenzbereiche von Mitarbeitern sind festzulegen und Vertretungsregelungen für den Fall der Krankheit bzw. des Urlaubs sind sicher zu stellen. Schließlich müssen die gebotenen operativen Anforderungen und Standardmedikamente bereitgestellt sowie Standards der Gerätesicherung beachtet werden. Auch die Einhaltung der notwendigen Hygiene gehört zum medizinischen Standard. Bei Notfällen orientieren sich die Anforderungen der medizinischen Standards am Einzelfall.

109

Organisationsfehler werden von der Rechtsprechung regelmäßig der Fallgruppe des „vollbeherrschbaren Risiko“ zugeordnet.

110

Vollbeherrschbare Risiken zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Realisierung nicht den Besonderheiten des menschlichen Organismus, also der Erkrankung und der Behandlung der Erkrankung geschuldet ist, sondern einem Defizit im Bereich der Organisation, dass durch geeignete organisatorische Maßnahmen durch die Behandlerseite sicher beherrscht und ausgeschlossen werden kann[154].

111

Für das Vorliegen eines vollbeherrschbaren Risikos ist der Patient regelmäßig beweisbelastet. Es gilt der Maßstab des § 286 Abs. 1 ZPO. Erst dann wenn dieser Vollbeweis geführt ist und feststeht, dass sich ein vollbeherrschbares Risiko verwirklicht hat, greift in Anlehnung an § 280 Abs. 1 S. 2 BGB eine Verschuldensvermutung ein mit der Konsequenz, dass der Gegenbeweis zu führen ist (vgl. hierzu auch 3. Teil, 2. Kap., Rn. 10 ff.)

112

Merke


Diese reduzierten Substantiierungsanforderungen gelten aber lediglich für solche Gesichtspunkte, die medizinisches Fachwissen voraussetzen.
Sämtliche weiteren, nicht medizinisches Fachwissen voraussetzenden, Tatsachenbehauptungen unterliegen der vollständigen Substantiierungslast des Patienten.

Konsequenz:

Der Patient kann sich bei behaupteten Organisationspflichtverletzungen nicht von vorne herein auf eine sekundäre Darlegungslast der Behandlerseite berufen. Vielmehr muss der Patient den entsprechenden Vollbeweis führen. Ist der Vollbeweis geführt, greift die mit § 280 Abs. 1 S. 2 BGB dogmatisch begründete Verschuldensvermutung ein.