Handbuch Arzthaftungsrecht

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1. Diagnoseirrtum

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Diagnoseirrtümer im Sinne einer Fehlinterpretation von erhobenen medizinischen Befunden sind von der Rechtsprechung nur mit Zurückhaltung als Behandlungsfehler gewertet worden.[72] Dies hat seinen Grund zum einen darin, dass der Behandlungsvertrag nach § 630a Abs. 1 BGB zwischen dem Arzt und dem Patienten einen Dienstvertrag höherer Art darstellt und keinen Werkvertrag. Hieraus folgt gleichzeitig, dass der Arzt dem Patienten im Rahmen der Diagnostik vertraglich nicht eine richtige Diagnose schuldet.[73] Dies hat seinen Grund auch darin, dass diagnostische Irrtümer oft nicht die Folge eines vorwerfbaren ärztlichen Verhaltens sind, sondern oftmals die Symptome nicht eindeutig erscheinen. Deshalb muss dem Arzt ein ausreichender Beurteilungs- und Entscheidungsraum auch für die Diagnose gelassen werden, den auch die Haftung nicht verkürzen darf. Eine schematisierte Beurteilung würde zur nicht gewollten Überdiagnose und im Ergebnis zu einer defensiven – lediglich auf Haftungsabwendung zielende – Medizin hinauslaufen.[74]

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Beispielhaft hierfür kann die Diagnose einer akuten Appendizitis (Blinddarmentzündung) gesehen werden. Bis heute gibt es kein sicheres diagnostisches Mittel, um eine operationsbedürftige Blindarmentzündung zu 100 % sicher bestimmen oder ausschließen zu können. Die Diagnose einer akuten Appendizitis setzt sich aus mehreren diagnostischen Mitteln, wie klinische Untersuchung, Ultraschall, Laborwerte etc. zusammen. So kann die im Ergebnis fehlerhafte Annahme einer akuten Appendizitis möglicherweise nicht als behandlungsfehlerhaft angesehen werden, wenn beispielsweise die Feststellung eines auf eine akute Appendizitis hinweisenden Druckschmerzes bei der Untersuchung durch einen erfahrenen Arzt entscheidend sein kann. Das Gericht lehnte einen Diagnosefehler ab, obwohl sich der Verdacht auf eine akute Appendizitis innerhalb der Operation nicht bestätigt hatte.[75]

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Bei dem Problemfeld der Diagnostik einer akuten Appendizitis und der Einstufung eines Behandlungsfehlers handelt es sich immer um eine Einzelfallbewertung, die das Gericht unter sachverständiger Beratung vorzunehmen hat. Teilweise ist eine konkrete Bewertung des ärztlichen Handelns für einzelne nacheinander folgende Zeiträume vorzunehmen.[76] Eine abwartende Haltung zur Operation mit kontrollierter Beobachtung des Patienten unter stationären Bedingungen in Form der „aktiven Beobachtung“ über einen Tag kann ein probates Behandlungskonzept sein, das dem medizinischen Standard entspricht. Dies vor dem Hintergrund der Komplikationsdichte einer Operation ohne Vorliegen einer akuten Appendizitis.[77]

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So zeigt gerade das Behandlungsbeispiel der Diagnose einer akuten Appendizitis, dass die Rechtsprechung diese nur sehr zurückhaltend als Behandlungsfehler interpretiert hat, soweit die Diagnoseirrtümer lediglich auf einer Fehlinterpretation der Befunde zurückzuführen sind.[78] Auch bezüglich anderer Krankheitsbilder sind insoweit Diagnosefehler seitens der Gerichte verneint worden, beispielsweise bei einem für die Bechterew-Erkrankung typischen Befund nicht auch an einen Morbus Crohn gedacht zu haben[79], oder bei Anzeichen, die für einen grippalen Infekt sprachen nicht auch an eine Malaria-Infektion gedacht zu haben.[80] Einem Augenarzt ist ein Diagnoseirrtum nicht vorzuwerfen, wenn ein Patient ihm gegenüber nur über ein Fremdkörpergefühl im Auge klagt und der Bereich des Auges gerötet ist und er hierbei nicht an das sehr seltene Krankheitsbild eines malignen Augentumors denkt. Er darf in einem solchen Fall auch von dem Symptom eines Sicca-Syndroms ausgehen.[81] Soweit ein Arzt einmalig einen Druckschmerz der Kniekehle und Wade feststellt ist ein dezenter Hinweis auf die Möglichkeit einer Thrombose lediglich gegeben, soweit jedoch weitere typische Zeichen, wie eine Verhärtung und eine Schwellung, fehlen, besteht kein Anhaltspunkt für das Vorliegen einer Thrombose.[82] Ebenso ist es nicht als standardunterschreitend angesehen worden, wenn ein Arzt bei Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule nicht frühzeitig eine Schultereckgelenkverletzung mit Sehnenruptur diagnostiziert hat.[83]

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Auch einem Frauenarzt ist im Rahmen der Schwangerschaftsbetreuung nicht als Diagnosefehler angelastet worden, wenn er bei Schmerzen, Durchfall und Erbrechen der Schwangeren ca. einen Monat vor dem errechneten Entbindungstermin nicht an ein sog. HELLP-Syndrom denkt oder darauf gerichtete Untersuchungen veranlasst.[84]

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Andererseits begründet aber das Nichterkennen jeder erkennbaren Erkrankung und der für sie kennzeichnenden Symptome immer einen Schuldvorwurf, sofern nicht ganz besondere Umstände vorliegen.[85] Die generelle Mehrdeutigkeit von Krankheitssymptomen und die Tatsache, dass jeder Patient wegen der Unterschiedlichkeit des menschlichen Organismus die Anzeichen ein und derselben Krankheit in anderer Ausprägung ausweisen kann, endet dort, wo im konkreten Fall kein vernünftiger Zweifel an einer Diagnose möglich ist. Wenn insoweit etwa Symptome vorliegen, die für eine ganz bestimmte Erkrankung erfahrungsgemäß kennzeichnend sind und nicht erkannt werden, begründet dies den Vorwurf eines Behandlungsfehlers.[86] In der Rechtsprechung ist deshalb ein schuldhafter Diagnoseirrtum angenommen worden, wenn der Arzt typische Anzeichen für eine Sudeck‚sche Dystrophie nicht erkannt hat.[87] Auch das Nichterkennen einer Phlegmone trotz eindeutiger Symptome ist gerichtlich als Diagnosefehler angesehen worden.[88] Schließlich ist auch die fehlerhafte Auswertung eines Röntgenbildes, bei der eine Kantenabsprengung am Kahnbein oder ein Schenkelhalsbruch nicht bemerkt wurde, als behandlungsfehlerhafter Diagnoseirrtum angesehen worden.[89]

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Unabhängig von der grundsätzlichen Zurückhaltung bei der Bewertung von Diagnoseirrtümern als Standardunterschreitung kann aber auch ein fundamentaler Diagnoseirrtum als grober Behandlungsfehler angesehen werden, wenn die ärztliche Fehlinterpretation eines Befundes als vollkommen unverständlich angesehen werden muss.[90]

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Daneben ist von der Rechtsprechung dann fehlerhaftes diagnostisches Verhalten angenommen worden, wenn der Arzt zwar zunächst eine isoliert betrachtete Verdachts- oder Arbeitsdiagnose stellt, jedoch im Rahmen der zu fordernden Stufendiagnostik zur Einengung möglicher Diagnosen nicht durchführt, sondern stattdessen an der vorläufig gestellten Verdachts- oder Arbeitsdiagnose festhält. Dies insbesondere dann, wenn die eingeleitete Therapie keine Wirkung zeigt. Schon1985 hatte der BGH entschieden einen Fall, in dem es um eine mit Symptomen einer schweren Erkrankung in ein Krankenhaus eingelieferten Patientin ging. Hierbei gingen die behandelnden Ärzte am ersten Tag von der Arbeitsdiagnose „Periartritis im Bereich des linken Schultergelenkes“ aus, was für sich gesehen nach Ansicht von zwei Sachverständigen noch vertretbar gewesen sei. Am nächsten Tag hätten sie sich allerdings nicht mehr mit ihrer Arbeitsdiagnose zufrieden geben dürfen, insbesondere, da Symptome der zutreffenden Diagnose „bakterieller Infekt“ durch eine eingeleitete Novalgin-Injektion verschleiert wurde.[91] Ebenso wurde auch ein grober Diagnosefehler angenommen für den Fall, dass ein Notarzt trotz einer sich geradezu aufdrängenden Diagnose einer Meningitis ungeprüft an einer höchst unwahrscheinlichen Arbeitsdiagnose einer Mandelentzündung festhielt.[92] Auch eine monatelange Behandlung von Hämorrhoiden mit mehreren Arzt-Patienten-Kontakten ohne die Einleitung einer speziellen Darmuntersuchung zum Ausschluss einer Krebserkrankung hielt das OLG Düsseldorf schon im Jahre 1978 für einen groben Behandlungsfehler.[93]

2. Diagnosefehler oder Befunderhebungsfehler

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Festzustellen ist in diesem Zusammenhang, dass direkte Diagnosefehler sowohl in der veröffentlichten Rechtsprechung, als auch in der arzthaftungsrechtlichen Praxis selten vorkommen und eine Ausnahme bilden. Ein solcher Diagnoseirrtum geht von der Fehlinterpretation von Befunden aus. Insofern kann ein solcher Irrtum aber nur vorliegen, wenn der Arzt die notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat oder aber hat erheben lassen. Deshalb wird Ärzten eine Fehldiagnose vorwerfbar sein, die elementare Kontrollbefunde zur Sicherung oder Findung einer Diagnose nicht erhoben haben.[94]

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Hierbei handelt sich aber nicht etwa um einen Diagnosefehler, sondern vielmehr um einen Behandlungsfehler, der haftungsrechtlich nicht nach den besonderen Erfordernissen die Annahme eines Diagnoseirrtums zu beurteilen ist, sondern für den die normalen Voraussetzungen einer Haftung aus fehlerhafter ärztlicher Behandlung gelten.[95] So ist der Vorwurf eines schuldhaften Behandlungsfehlers festgestellt worden, wenn drei Tage nach einer Kaiserschnittgeburt bei der Mutter Symptome einsetzen, wie starkes Fieber und kleine fleckige Exantheme und zur Klärung der Ursache keine laborchemischen Untersuchungen eingeleitet werden.[96] Auch die bei einem frühgeborenen Kind mit dem Risiko einer sog. Frühgeborenen-Retinopathie nicht durchgeführte augenärztliche Kontrolle ist im Jahr 1988 allein schon als behandlungsfehlerhaft angesehen worden.[97]

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Der BGH hat für Fallkonstellationen einer unterlassenen gebotenen Befunderhebung in fortgesetzter Rechtsentwicklung entschieden, dass auch bei einem einfachen Befunderhebungsfehler eine Beweislastumkehr für die Frage des Ursachenzusammenhangs zu dem Gesundheitsschaden des Patienten anzunehmen ist, wenn bei unterstellter Befunderhebung sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein deutlicher und gravierender Befund ergeben hätte, dessen Verkennung als fundamental anzusehen wäre oder eine Nichtreaktion auf diesen Befund als grob fehlerhaft einzustufen wäre.[98]Damit kommt für derartige Fälle eine Beweislastumkehr für den Primärschaden des Patienten gleichsam einem groben Behandlungsfehler oder einem groben Diagnosefehler in Betracht. Dieses Rechtsinstitut hat in der arzthaftungsrechtlichen Praxis gravierende Auswirkungen auf die Beweissituation zwischen den Parteien und lässt eine Beweislastumkehr mit der Folge einer Haftung auf Seiten der Behandelnden zu, ohne dass explizit ein medizinischer Sachverständiger eine ärztliche Handlung oder ein Unterlassen selbst als schwer fehlerhaft und nicht mehr nachvollziehbar bewertet hat. Die Bewertung als „grob fehlerhaft“ findet in derartigen Konstellationen auf der Ebene der Bewertung eines fiktiven Sachverhaltes statt, nämlich derjenigen, wie denn das Verhalten des Arztes zu bewerten wäre, wenn ein vermeintlich positiver – reaktionspflichtiger – Befund vorgelegen hätte.

 

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Der Gesetzgeber hat mit der Einführung des Patientenrechtegesetz diese Rechtsprechung des BGH aufgenommen in den § 630h Abs. 5 S. 2 BGB. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass in den engen vom BGH in der vorgenannten Rechtsprechung vorgegebenen Grenzen eine Umkehr der Beweislast angezeigt ist. Weiterhin soll sich dies aber nur auf Primärschäden beziehen, Sekundärschäden sollen weiterhin vom Patienten zu beweisen sein, wie auch bei einfachen Behandlungsfehlern, da dem Patienten die Aufklärung des Behandlungsgeschehens hier nicht erschwert sei und anderenfalls eine nicht gerechtfertigte deutliche Ausweitung der Haftung Behandelnder eintreten würde, obwohl nicht der Behandlungsfehler, sondern eine etwaige Vorerkrankung des Patienten für den Eintritt des Schadens ursächlich wäre.[99]

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Zu beachten bei dieser Bewertung einfacher Befunderhebungsfehler ist, dass es ausreicht, dass bei einem reaktionspflichtigen Befund entweder sich dessen Verkennung als fundamental erweist oder die Nichtreaktion bzw. verspätete Reaktion auf ihn als grob fehlerhaft anzusehen ist. Es ist nicht Voraussetzung für eine Beweislastumkehr, dass die Verkennung des Befundes und die Nichtreaktion hierauf völlig unverständlich sind.[100]

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Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass bei gebotener Befunderhebung auch ein reaktionspflichtiger Befund vorgelegen hätte, liegt vor, wenn ein positiver Befund mit mehr als 50 %iger Wahrscheinlichkeit zu erwarten war.[101]

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In der Praxis bereitet allerdings die Abgrenzung der Frage, ob ein Diagnosefehler oder aber ein Fall unterlassener, aber gebotener Befunderhebung vorliegt, Schwierigkeiten. Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 21.12.2010[102]hierzu ausgeführt, dass ein Befunderhebungsfehler gegeben ist, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen wird. Im Unterschied dazu liegt ein Diagnoseirrtum vor, wenn der Arzt erhobene oder sonst vorliegende Befunde falsch interpretiert und deshalb aus seiner fachärztlichen Sicht die gebotenen Maßnahmen unterlässt. In der Sache ging es um eine fehlerhafte Interpretation eines Röntgenbildes auf dem ein Zufallsbefund nicht erkannt worden war. Der BGH hat damit zur Unterscheidung zwischen Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler abgestellt auf die Frage, wo im Ergebnis der Schwerpunkt der ärztlichen Fehlleistung liegt. Und schließlich hat der BGH in dieser Entscheidung auch klarstellend ausgeführt, dass aus einem Diagnosefehler nicht dadurch ein Befunderhebungsfehler wird, als bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären.[103]

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Nachvollziehbar liegt daher ein Befunderhebungsfehler vor, wenn ein Arzt ein unklares klinisches Beschwerdebild des Patienten erkennt, welches umgehend weitere diagnostische Maßnahmen – hier Hirndiagnostik – erfordert und er den Patienten nicht umgehend in ein ausreichend ausgestattetes Krankenhaus verlegt.[104] Um zu der Einordnung eines Diagnoseirrtums zu kommen ist Voraussetzung, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Wenn der Arzt diese Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat und deshalb vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ist im Ergebnis von einem Befunderhebungsfehler auszugehen. Bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um eine Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung, wie der BGH deutlich gemacht hat.[105]

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Auch im Hinblick auf eine unterlassene Befunderhebung vor Vornahme einer Schönheitsoperation trotz Verdachts auf eine psychische Störung des Patienten neigt der BGH zur Annahme eines Befunderhebungsfehlers, auch wenn die Schönheitsoperation selbst nur bedingt kontraindiziert sei.[106]Ein einfacher Diagnosefehler liegt hingegen vor, wenn ein Arzt aber die vom Patienten geschilderten Beschwerden – letztlich fehlerhaft – ausschließlich einem HWS-Syndrom zuordnet und daher folgerichtig der Frage eines möglichen Schlaganfalls differentialdiagnostisch nicht mehr nachgeht.[107] Es zeigt sich aber auch hier, dass für die Frage der Einordnung des ärztlichen Handelns und die Frage, welche Befunderhebungen zur grundsätzlichen Diagnosesicherung in der konkreten Situation medizinisch veranlasst waren nur unter Zuhilfenahme des medizinischen Sachversständigen zu ermitteln ist.

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Einen Befunderhebungsfehler hat der BGH zwischenzeitlich auch abgegrenzt von einem Verstoß gegen die therapeutische Aufklärungspflicht des Arztes, wenn der Arzt den Patienten über die Dringlichkeit der medizinisch gebotenen Maßnahmen und den Folgen im Falle des Unterbleibens nicht informiert hat. Begründet ist dies auch hier damit, dass der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens in solchen Konstellationen regelmäßig nicht in der unterbliebenen Befunderhebung als solcher, sondern in dem Unterlassen von Warnhinweisen zum Zwecke der Therapiesicherung liegt.[108]

3. Überdiagnostik

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Es ist jedoch auch zu beachten, dass sich der Umfang der Diagnostik am vorhandenen Krankheitsbild orientieren muss. So darf die Rechtsprechung zum Diagnosefehler, insbesondere Unterlassen bezüglich der Erhebung elementarer Befunde und zum Festhalten an einer nicht mehr zu haltenden ersten Verdachts-Arbeitsdiagnose nicht zu einer Überdiagnostik führen.[109] Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine Überdiagnostik, insbesondere wenn es sich um Maßnahmen handelt, die selbst mit hohen Risiken verbunden sind, selbst einen ärztlichen Diagnosefehler darstellen kann.[110] Beispielhaft kann angeführt werden, das bei einem Migränepatienten eine Hirnangiographie erst am Ende einer Reihe zuvor gebotener diagnostischer Schritte stehen darf, insbesondere auf Grund des schwer wiegenden Komplikationsrisikos dieser Untersuchung.[111] Auch die Vornahme einer Leberbiopsie mit der Frage einer Prognose ist bei einer chronischen Hepatitis-C-Erkrankung fragwürdig.[112]

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Auch bei einem Verdacht auf ein sog. chronisches Erschöpfungssyndrom (CFS) ist auch im Hinblick auf Laboruntersuchungen keine umfassende Diagnostik gerechtfertigt, die weder der Verdachtsdiagnose noch dem Krankheitsbild angemessen ist, insbesondere ist im Hinblick auf Laboruntersuchungen eine Stufendiagnostik, abgestuft nach einer Basis-, Aufbau- und schließlich Spezialdiagnostik angebracht.[113] Ohne Anhaltspunkte und damit ohne medizinische Indikation ist auch eine prophylaktische Allergietestung nicht angezeigt.[114]

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Insbesondere gilt das Verbot einer Überdiagnostik für Fälle, bei denen eine infauste Prognose der Krankheit besteht, gerechtfertigt und sinnvoll sind diagnostische Eingriffe nämlich nur dort, wo sie eine Therapie ermöglichen, was vor allem dann gilt, wenn sie mit nicht unerheblichen Schmerzen für den Patienten verbunden sind.[115]

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Nicht fehlerhaft ist es, wenn ein Radiologe, an den eine Patientin zwecks Durchführung von Mammographien überwiesen wird nicht fehlerhaft, wenn er weitere diagnostische Maßnahmen – Biopsie, Ultraschalluntersuchung – unterlässt und die erstellten Mammographien keinen Anlass geben einen Tumorverdacht zu äußern.[116] Andererseits ist eine unterbliebene radiologische Untersuchung des nach einer Brustoperation entnommenen Nachresektats ein grober Behandlungsfehler.[117]

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Aber auch einschneidende diagnostische Maßnahmen können im Rahmen der vom Arzt vorzunehmenden Abwägung zwischen den Risiken des Eingriffs und der in Frage stehenden Erkrankung indiziert sein. So ist die Entnahme einer Gewebeprobe aus dem Gebärmutterhals indiziert, wenn bei erkennbar suspekten Änderungen eine zuverlässige Diagnose nur auf Grund einer histologischen Untersuchung möglich ist[118], ebenso muss der Verdacht auf ein Lungentumor durch eine feingewebliche Untersuchung, nämlich durch eine transthorakale Nadelbiopsie abgeklärt werden.[119] Hinweise auf eine Bauchhöhlenschwangerschaft indizieren regelmäßig die Durchführung einer Laparoskopie[120], eine laparoskopische Untersuchung des Bauchraums selbst dann, wenn aufgrund bekannter Verwachsungen eine geringe Erfolgsaussicht besteht.[121] Eine Arthroskopie ist auch bei einem zunehmenden Schmerzempfinden im Kniegelenk indiziert.[122] Bei einem unklaren Befund nach Auftreten von okkultem Blut im Stuhl eines Patienten ist regelmäßig auch eine Koloskopie indiziert[123], ebenso ist bei diffusen Herzbeschwerden beginnender coronarer Herzkrankheit und Hinweisen auf eine leichte Angina pectoris eine Herzkatheteruntersuchung indiziert.[124]

III. Therapiefehler – was ist das?

1. Allgemeine Begrifflichkeit

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Was ein Therapiefehler ist, lässt sich leichter definieren als in der Praxis tatsächlich bestimmen. Die Arzthaftung setzt zur Begründung einer Haftung stets ein Verschulden voraus. Dieses Verschulden bestimmt sich gemäß § 276 Abs. 2 BGB. Danach muss die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ außer Acht gelassen worden sein. Die „im Verkehr erforderliche Sorgfalt“ wird im Arzthaftungsrecht durch den ärztlichen Standard bestimmt.[125]

2. Standardverstoß