Handbuch Arzthaftungsrecht

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V. Kenntnis der vom Patienten beauftragten Anwälte und Wissensvertretung

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Dass es bei Minderjährigen auf die Kenntnis der sorgeberechtigten Eltern und bei unter Betreuung stehenden Erwachsenen auf die Kenntnis ihrer Betreuer in deren Wirkungskreis ankommt[59] und dass ein mit der Prüfung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen beauftragter Rechtsanwalt Wissensvertreter des Geschädigten wird[60], gehört nicht zu den Besonderheiten des Arzthaftungsrechts und muss hier nicht vertieft werden.

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In seiner Entscheidung vom 26.5.2020[61] hatte der BGH dazu Stellung zu nehmen, welches Wissen einer vom Patienten beauftragten Kanzlei ihm zugerechnet werden kann. Die von dem Patienten beauftragte Kanzlei soll nach Ansicht der Beklagtenvertreter in verjährungsrelevanter Zeit (2006) in einem anderen Fall medizinisches Fachwissen dargelegt haben, welches dem Kläger im Streitfall hätte nutzbar gemacht werden müssen. Die Klägervertreter hatten dagegen eingewandt, dass beide Fälle von unterschiedlichen Sozien der Kanzlei bearbeitet worden seien.

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Konkret ging es in diesem Fall um die Folgen einer Schulterdystokie unter der Geburt. Die Beklagtenvertreter hatten gemeint vortragen zu dürfen, die Prozessbevollmächtigten des Klägers hätten in einem ganz anderen Fall, in welchem es auch um die Folgen einer Schulterdystokie ging, 2006 eine medizinische Bewertung vorgenommen, die in gleicher Weise auf die Umstände des konkreten Falles zutrafen. Auch wenn der andere Fall durch einen anderen Sozius bearbeitet wurde, hätte der Sozius, der den konkreten Fall bearbeitete, die medizinische Fachkenntnis seines Kollegen schon 2006 für seinen Fall nutzbar machen müssen. Mit den Beklagtenvertretern sah das OLG Koblenz darin, dass das nicht geschehen war, eine grob fahrlässige Unkenntnis der Prozessbevollmächtigten des Klägers im Jahr 2006, die dem Kläger zuzurechnen sei, da seine Prozessbevollmächtigten Wissensvertreter seien.

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Der BGH hat sich in seiner Entscheidung gegen eine derartige Wissenszusammenrechnung medizinischer Fachkenntnisse einer Kanzlei ausgesprochen. Er weist auf die grundsätzlich anzuerkennende Gepflogenheit hin, innerhalb einer Anwaltssozietät die Bearbeitung der Mandate einzelnen Sozien zur eigenverantwortlichen Erledigung zu übertragen. Auch wenn für eine Anwaltssozietät das Erfordernis eines effektiven Informationssystems zur ordnungsgemäßen Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation und des Informationsaustausches zwischen den Sozien bestehe, könne das für das einzelne Mandat eingebrachte oder erworbene Fachwissen außerhalb von Rechtskenntnissen aus nicht juristischen Wissensgebieten wie beispielsweise der Medizin im Regelfall nicht zu dem in einer Sozietät notwendig auszutauschenden und in ein Informationssystem einzuspeisenden Wissen gehören. Die Vorstellung, in einer Kanzlei mit mehreren Anwälten, die auf Aktivseite Arzthaftungsfälle bearbeiten, könne das in den einzelnen Akten gesammelte medizinische (Halb-)Wissen in einer Art Kenntnis-Pool allen Mandanten zur Verfügung stehen, ist praxisfremd und verkennt die Notwendigkeit interdisziplinärer Bearbeitung arzthaftungsrechtlicher Mandate.

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Anzumerken bleibt zu der Entscheidung des BGH vom 26.5.2020 noch ein Aspekt, der dort keine Beachtung gefunden hat: Der in das Berufungsverfahren von den Beklagtenvertretern eingeführte Schriftsatz der Klägervertreter mit Parteivortrag aus einem anderem Verfahren hätte nicht zur Erörterung gestellt werden dürfen, zumal Parteivortrag ohnehin nicht als Beleg für medizinische Fachkenntnisse herhalten kann. Die Klägervertreter hätten diesen Parteivortrag detailliert nur unter Verstoß gegen ihre Verschwiegenheitspflichten oder um den Preis eines Parteiverrats zu Lasten des Mandanten in dem anderen Verfahren kommentieren können. Egal ob beide Verfahren von demselben Sozius oder von unterschiedlichen Sozien bearbeitet wurden, muss es als ausgeschlossen angesehen werden, dass eine Kanzlei in einem Verfahren A offenlegt, worauf Parteivortrag in einem Verfahren B beruht – auf tatsächlicher medizinischer Fachkenntnis, auf Internetrecherchen der Eltern des im Verfahren B vertretenen Kindes oder z.B. auf einer nicht zur Vorlage bestimmten gutachterlichen Stellungnahme. Auch ohne die Frage nach einer Wissenszusammenrechnung sollten Klägervertreter sich zu derartigen Hinweisen der Beklagtenvertreter aus anderen Mandatsverhältnissen grundsätzlich nicht einlassen.[62]

C. Kenntnis von unzureichender Risikoaufklärung oder Alternativaufklärung

69

Die für den Schadenersatzanspruch gegen den Arzt oder Krankenhausträger erforderliche Kenntnis ist in Fällen unzureichender Risikoaufklärung oder Aufklärung über Behandlungsalternativen dann gegeben, wenn der Patient Kenntnis davon hat, dass im ersteren Fall sich in dem Schaden ein bekanntes Risiko verwirklicht hat, über welches hätte aufgeklärt werden müssen, über welches jedoch nicht aufgeklärt wurde. Dazu gehört allerdings auch das Wissen, dass der Schaden nicht auf ein fehlerhaftes Vorgehen zurückgeht.[63]

70

In der zweiten Fallvariante, der unterbliebenen Aufklärung über Behandlungsalternativen, muss der Patient Kenntnis davon haben, dass es zu dem zum Schaden führenden Eingriff eine gleichwertige, wenn auch mit unterschiedlichen Risiken behaftete Alternative gegeben hätte, die ihn, wäre er darüber aufgeklärt worden, vor einen Entscheidungskonflikt gestellt hätte.

71

Die Schwierigkeit bei der Kenntniserlangung liegt in diesen Fällen gerade nicht in der Feststellung eines Abweichens vom medizinischen Standard, sondern erschöpft sich in der Frage, ob der schlechte Ausgang als mögliches Risiko vorhersehbar, aber für den Patienten wegen unzureichender Aufklärung überraschend war.

72

Das Gleiche gilt auch für die Fälle, in denen die Patientin/der Patient überhaupt keine Grundaufklärung erhalten hat, und in denen sich dann ein Operationsrisiko verwirklicht, selbst wenn dieses Risiko für sich genommen nicht aufklärungspflichtig gewesen wäre. Denn bereits die fehlende Grundaufklärung führt dazu, dass die Patientin/der Patient bei zutreffender rechtlicher Würdigung weiß, dass der Eingriff von vornherein rechtswidrig war.[64]

73

Der Patientenseite wird auch zugemutet, sich nach dem Eintritt schwerwiegender Komplikationen nach einer dahingehenden Aufklärungsbedürftigkeit zu erkundigen, soweit sich dadurch das Wissen auf einfache Weise komplettieren lässt.[65]

74

Dennoch gilt auch für den Verjährungsbeginn bei Aufklärungsfehlern, dass keine Verpflichtung besteht, sich Kenntnisse über fachspezifisch medizinische Fragen zu verschaffen. Dies hat der BGH in seiner Entscheidung vom 10.10.2006[66] herausgearbeitet. Wegen einer Adoleszenz-Skoliose war die Klägerin im Alter von 16 Jahren an der Wirbelsäule operiert worden. Bei der Operation war es zu einer Einblutung in den Rückenmarkskanal gekommen, die zur Querschnittslähmung führte. Darüber hinaus entwickelte die Patientin neben anderen Beschwerden auch Verwachsungen im Brustraum, Falschgelenkbildungen und Rippeninstabilitäten. Über das Risiko einer Querschnittslähmung war sie aufgeklärt worden. Über die Risiken einer Falschgelenkbildung, Verwachsungen im Brustraum und Rippeninstabilitäten war sie dagegen nicht aufgeklärt worden.

75

Es handelte sich bei diesen weiteren Folgen um typische Risiken des Eingriffs, deren Verwirklichung für sich genommen die weitere Lebensführung deutlich beeinträchtigt, und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.

76

Der BGH hat in dieser Entscheidung der Patientin zugutegehalten, dass die Verjährung i.d.R. nicht schon beginnt, sobald die Patientin einen Schaden aufgrund der medizinischen Behandlung feststellt. Hinzutreten muss vielmehr auch die Kenntnis, dass der Schaden nicht auf einem Behandlungsfehler, sondern auf einer spezifischen Komplikation der medizinischen Behandlung beruht, über die die Patientin hätte aufgeklärt werden müssen. Eine Erkundigungspflicht treffe die Patientin nicht, soweit es um die fachspezifisch medizinische Frage gehe, inwieweit eine Aufklärung zu erfolgen hatte. Die Patientin sei nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.

77

Im Streitfall hat der BGH Kenntnis daher erst mit Zugang eines Gutachtens angenommen, nach welchem es sich bei der Pseudoarthrose und den weiteren, nicht von der Aufklärung erfassten Folgen nicht um die Folgen eines Operationsfehlers oder schicksalhafte Zufälle handelte, sondern um Risiken, die dem Eingriff spezifisch anhafteten und über die deshalb hätte aufgeklärt werden müssen.

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Entsprechend hat das OLG Bamberg in einer Entscheidung vom 20.7.2015[67] eine Kenntnis vom Aufklärungsmangel erst dann angenommen, als die Patientin, die durch das Robodoc-Verfahren mit einer Hüft-TEP versorgt worden war und intraoperativ eine Nervverletzung erlitten hatte, davon wusste, dass die Wahl des Verfahrens zu einer Erhöhung einzelner Risiken im Vergleich zur herkömmlichen Methode führte. Darüber war sie nicht aufgeklärt worden.

79

Aus den unterschiedlichen Voraussetzungen für den Verjährungsbeginn wird deutlich, dass Ansprüche aus Aufklärungsfehlern zu anderer Zeit verjähren können als solche aus Behandlungsfehlern, zuletzt bestätigt in der Entscheidung des BGH vom 8.11.2016[68]: „Zwischen den Ansprüchen wegen unzureichender ärztlicher Aufklärung einerseits und wegen fehlerhafter Behandlung andererseits besteht zwar eine Verknüpfung dergestalt, dass es Ziel des Schadensersatzbegehrens des Patienten ist, eine Entschädigung für die bei ihm aufgrund der Behandlung eingetretenen gesundheitlichen Nachteile zu erlangen, doch liegen den Haftungstatbeständen verschiedene voneinander abgrenzbare Pflichtverletzungen zugrunde (. . .). Dies kann auch zu unterschiedlichen Verjährungsfristen führen (. . .).“ Da im dortigen Fall von anspruchsbegründenden Aufklärungsfehlern schon in verjährungsrelevanter Zeit die Rede war, sah der BGH derartige Ansprüche anders als Ansprüche aus Behandlungsfehlern als verjährt an.

 

D. Grob fahrlässige Unkenntnis des geschädigten Patienten

80

Einen Verjährungsbeginn ohne volle Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände hatte der BGH schon auf der Grundlage des § 852 Abs. 1 BGB für die Fälle entwickelt, in denen der Verletzte es in der Hand gehabt hätte, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer „gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühen verursacht“ hätte, verschließt.[69] Der Hauptanwendungsfall war und ist die Situation, in welcher der Geschädigte sich durch einfache Nachfrage Kenntnis von der Person des Schädigers hätte beschaffen können.[70] In diesen Fällen hatte der BGH stets betont, dass grob fahrlässige Unkenntnis nicht ausreiche und der rechtsmissbräuchlichen Nichtkenntnis nicht gleichzustellen sei.

81

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass in den Kommentierungen der Begriff der grob fahrlässigen Unkenntnis i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB n.F. als etwas neues, über die rechtsmissbräuchliche Nichtkenntnis hinausgehendes gesehen wurde. Peters/Jacoby[71] sprechen sogar von einer „radikalen Änderung gegenüber § 852 Abs. 1 a.F.“. Sieht man sich ansonsten jedoch die Literatur zu den mit der Schuldrechtsmodernisierung eingeführten Neuerungen im Verjährungsrecht an, fällt fast durchgängig eine Diktion auf, die der auf den Rechtsgedanken des § 162 BGB gestützten Rechtsprechung zum missbräuchlichen Sich-Verschließen vor einer Erkenntnismöglichkeit entspricht.[72] Da im Behandlungsfehlerbereich zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen gehört, dass sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit das Behandlungs- und nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht hat, und da dieses Wissen in der Regel nur durch Einsicht in die Behandlungsunterlagen und medizinische Beratung oder Begutachtung organisiert werden kann, ist der Aufwand für die Klärung der den Anspruch begründenden Umstände i.d.R. erheblich. Schon deshalb war nicht mit einem nennenswerten Anstieg kenntnislos verjährter Schadensersatzansprüche aus Behandlungsfehlern zu rechnen.[73]

82

Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 10.11.2009[74] diejenigen bestätigt, die für den Bereich der Arzthaftung keine weitreichenden Änderungen erwartet haben. Er hält fest, dass grob fahrlässige Unkenntnis nur vorliegt, wenn der Gläubiger ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt oder das nicht beachtet hat, was jedem hätte einleuchten müssen, dass aber für den Gläubiger keine generelle Obliegenheit besteht, im Interesse des Schädigers an einem möglichst frühzeitigen Beginn der Verjährungsfrist Initiative zur Klärung von Schadenshergang oder Person des Schädigers zu entfalten. Für den Gläubiger müssen konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich sein und es muss sich ihm der Verdacht einer möglichen Schädigung aufdrängen. Der Patient kann nicht ohne Weiteres aus einer Verletzungshandlung, die zu einem Schaden geführt hat, auf einen schuldhaften Behandlungs- oder Aufklärungsfehler schließen und er muss ohne weitere sich aufdrängende Anhaltspunkte für ein behandlungsfehlerhaftes Geschehen auch nicht die Initiative zur Aufklärung des Behandlungsgeschehens entfalten.

83

In dem am 10.11.2009 entschiedenen Fall hält der BGH dem Berufungsgericht vor, dass es nicht aufgezeigt habe, welche konkreten Umstände abgesehen vom negativen Ausgang der ärztlichen Behandlung der Klägerin Veranlassung hätten geben sollen, wegen eines Behandlungsfehlers nachzufragen, und dass weder festgestellt noch vorgetragen sei, dass eine etwaige Nachfrage der Klägerin Klarheit über die Ursache ihrer Beschwerden gebracht hätte, um ihr die Möglichkeit zu geben, aussichtsreich, wenn auch nicht risikolos Klage zu erheben.[75]

84

Die Behandlerseite müsste mithin, um erfolgreich eine Verjährungseinrede erheben zu können, vortragen und unter Beweis stellen, dass ganz naheliegende Überlegungen in Richtung eines Behandlungsfehlers nicht angestellt wurden, konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Anspruchs ersichtlich waren, eine jedem einleuchtende Nachfragemöglichkeit nicht genutzt wurde und eine entsprechende Nachfrage auch in verjährungsrelevanter Zeit zu einer so weitgehenden Klärung geführt hätte, dass eine Klage, wenn auch nicht risikolos, hätte erhoben werden können.

85

Zum Vorwurf grob fahrlässiger Unkenntnis gehört auch, dass die Beschaffung der Informationen mühelos und ohne nennenswerten Aufwand möglich gewesen wäre.[76]

86

Diese Anforderungen stehen im Arzthaftungsbereich im Regelfall der Annahme grob fahrlässiger Unkenntnis so lange entgegen, bis die Patientin/der Patient durch eine medizinische Begutachtung den Verdacht eines Behandlungsfehlers und dessen Kausalität für den Schaden bestätigt erhält oder der Zusammenhang durch Beweiserleichterungen konstruiert werden kann. Die Patientin/der Patient ist nicht verpflichtet, eine solche medizinische Begutachtung zu veranlassen, um sich auf diesem Wege die nötige fachmedizinische Kenntnis zu beschaffen.[77]

87

Nach der Entscheidung des BGH vom 26.5.2020[78] wird grob fahrlässige Unkenntnis auch dann nicht angenommen, wenn die den Patienten vertretende Anwaltskanzlei über medizinische Fachkenntnisse verfügt, die Behandlungsunterlagen vorliegen, der zuständige Anwalt diese Unterlagen aber noch nicht auf schadenskausale Behandlungsfehler ausgewertet hat. Es könne vom Patienten oder seinem Wissensvertreter nicht verlangt werden, dass er Krankenhausunterlagen auf ärztliche Behandlungsfehler überprüft, es sei denn, es handelte sich um Feststellungen, die sich ohne weiteres treffen lassen.[79]

88

Das OLG Bamberg hat in einem PKH-Prüfungsverfahren grob fahrlässige Unkenntnis des Patienten daraus abgeleitet, dass er nach anfänglicher Einschaltung seiner Krankenkasse in einer jedem elementaren Sorgfaltsmaßstab zuwider laufenden Weise die ihm erwachsenen Erkenntnismöglichkeiten aus der Zusammenarbeit mit der Krankenkasse ungenutzt gelassen habe.[80] Es sei daher ausschlaggebend der Untätigkeit des Klägers bzw. seines damals tätigen Anwalts zuzuschreiben gewesen, dass der durch zwei Vorgutachten des MDK bei der Krankenkasse schrittweise erlangte und dort von der Patientenseite jederzeit abrufbare Kenntnisstand nicht in verjährungsrelevanter Zeit erreicht worden war. Das OLG Bamberg spricht insoweit von einer „Kooperationsvereinbarung“ mit der Krankenkasse, die der Patient nicht genutzt habe. Das Urteil ist im Ergebnis nachvollziehbar, zumal sich der Behandlungsfehlerverdacht durch die bereits eingeholten MDK-Gutachten bereits verdichtet hatte, es also sehr naheliegend war, an der kostenlosen Aufklärung des Behandlungsgeschehens weiter mitzuwirken. Es hätte nur einzelner ergänzender Informationen oder Unterlagen bedurft, um zu den erforderlichen medizinischen Erkenntnissen zu gelangen. Ich halte den Begriff der Kooperationsvereinbarung jedoch für nicht passend. Dem gesetzlich Versicherten steht ein Leistungsanspruch aus § 66 SGB V zu, dessen Erfüllung weit in das Ermessen der Krankenkasse gestellt ist. Bedient er sich dieses Anspruches, geht er keine Kooperationsvereinbarung ein. Er lässt sich beraten. Dass dieser Beratungsanspruch auch eng gesehen werden kann, lässt sich der Entscheidung des LSG Schleswig-Holstein vom 23.3.2015 entnehmen, welches die notwendige Information des Versicherten regelmäßig in der Angabe der Diagnose, der Therapie sowie des Namens des behandelnden Arztes als erschöpft ansieht, ggf. noch ergänzt um ein Gutachten des MDK.[81]

89

Allgemein wird man aber eine Nachfrageobliegenheit bei der Krankenkasse und über diese bei dem MDK nicht mit den Grundsätzen der Entscheidung des BGH vom 10.11.2009 in Einklang bringen können. Der MDK kann nicht als leicht zugängliche, sich jedem aufdrängende Informationsquelle angesehen werden.[82] Es bedarf, wie der BGH in seiner Entscheidung vom 10.11.2009 deutlich gemacht hat, weiterer Umstände, die eine Nachfrage bzw. Inanspruchnahme einer Informationsquelle in besonderer Weise nahelegen. Wenn der Patient andere Wege zur Kenntnisbeschaffung wählt, kann ihm mit Sicherheit nicht vorgehalten werden, er hätte günstiger, schneller und leichter die Einschaltung des MDK veranlassen können. Ist der Patient schon nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen möglichen Haftungsprozess medizinisches Fachwissen anzueignen.[83], muss ihm erst Recht überlassen bleiben, welchen Weg er zur Klärung eines möglichen Behandlungsfehlers wählt.

90

Wird in einem MDK-Gutachten der Behandlungsverlauf dargestellt und dahingehend bewertet, dass keinerlei Versäumnisse festzustellen seien, hat die Patientenseite keine Kenntnis von einem Behandlungsfehler erhalten und sie muss das Gutachten auch nicht anzweifeln oder überprüfen lassen.[84] Es fehlt weiterhin an den subjektiven Voraussetzungen des Verjährungsbeginns.

E. Besonderheiten bei der Kenntnis und grob fahrlässigen Unkenntnis von Sozialversicherungsträgern

91

Da der Schadensersatzanspruch im Rahmen der Leistungspflichten eines Sozialversicherungsträgers (SVT) auf diesen i.d.R. bereits im Schadenszeitpunkt übergeht, kommt es für die Frage der verjährungsrelevanten Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis nicht darauf an, welche Kenntnis die/der Versicherte hat. Es kommt auf die Kenntnis des SVT und dort auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der zuständigen Bediensteten der für Regresse zuständigen Abteilung an.[85]

92

Ein besonderes Augenmerk ist in der Literatur zur Schuldrechtsmodernisierung auf die Frage gesetzt worden, inwieweit eine mangelnde Organisation des Informationsflusses innerhalb eines SVT oder einer Behörde diesen als grob fahrlässige Unkenntnis zugerechnet werden kann. Mansel/Budzikiewicz[86] sahen in dem Unterlassen eines Mindestmaßes an aktenmäßiger Erfassung und geregeltem Informationsaustausch über verjährungsrelevante Tatsachen innerhalb arbeitsteiliger Unternehmen, Behörden und Körperschaften einen Fall der grob fahrlässigen Unkenntnis. Mit dieser Ansicht würde Kenntnis auch über den Kreis der Bediensteten der Regressabteilung hinaus Relevanz entfalten. Marburger[87] wollte dagegen allein die grob fahrlässige Unkenntnis dieser Bediensteten gelten lassen. Der BGH hat, wie unter I. zu zeigen sein wird, einen vermittelnden Weg gefunden, nach dem Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis bei der für Regresse zuständigen Abteilung vorliegen muss, diese aber zugleich auch in die Verantwortung für die Organisation eines ausreichenden Informationsflusses genommen wird.