Pias Labyrinth

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

2. Kapitel

September 1993

Mathematik ist ganz einfach. Die Zahlen tanzen einen wilden Reigen auf den Rechenkästchen. Rechnen ist wie zaubern, denkt Pia fasziniert, wie neue Welten erfinden. Das Tolle ist, dass es dabei feste Regeln gibt, die keiner, keiner einfach umwirft.

In der neuen Klasse kennt Pia noch niemanden. Das ist das einzig wirklich Traurige an ihrem Klassensprung. Zu gerne wäre sie weiter mit Lotte und Sophia in eine Klasse gegangen. Und mit Max. Wenn es dort nur nicht so schrecklich langweilig gewesen wäre.

Jetzt ist sie mit zehn Jahren schon in der sechsten Klasse, und die anderen Kinder sind mindestens ein Jahr älter. Das schüchtert Pia ein. Bei ihren ersten Arbeiten hatte sie großes Herzklopfen. Sie ist nicht mehr die Beste, aber keine Arbeit ist bisher schlechter als Drei. Englisch ist am schwersten, da fehlt ihr das erste Jahr. Aber sie liebt fremde Sprachen. Am liebsten will sie ab dem nächsten Jahr auch noch Spanisch lernen. Sprachen und Mathematik – das sind ihre Steckenpferde. Die Mathearbeit findet Pia superleicht. Sie will unbedingt studieren. Das wusste sie schon mit sechs. Bloß nicht so wie Mama leben, die nur zu Hause herumsitzt und auf die Kinder aufpasst, und auch nicht wie Papa, der jeden Tag in die Fabrik und danach in die Kneipe geht. Und Mama muss dann jeden Pfennig umdrehen, weil Papa den halben Lohn versäuft.

»Pia, kommst du bitte mit mir.«

Sie sieht erschrocken hoch. Wieso steht denn der Direktor vor ihr? »Ich schreibe gerade eine Mathematikarbeit.« Hilfesuchend sieht sie ihre Lehrerin an.

»Das ist schon in Ordnung. Du kannst deine Arbeit morgen zu Ende schreiben.«

Was geht hier vor? Krampfhaft überlegt sie, was sie angestellt haben könnte. Zum Direx muss man nicht ohne Grund. Ängstlich folgt sie ihm den langen Schulflur entlang.

Eigentlich wirkt er nicht wütend. Im Gegenteil, seine Stimme klingt ganz ruhig. Pia hat das Gefühl, ein Riesenwasserfall dröhnt an ihren Ohren vorbei. Sie versteht kein Wort von dem, was der Direktor erzählt. Sie war erst einmal bei ihm. Als sie die Klasse überspringen durfte. Auch da war er ausgesprochen nett zu ihr. Er wird sie doch heute nicht noch eine Klasse überspringen lassen?

»Komm herein, Pia.« Im Zimmer des Direktors sitzen schon einige Leute, und Pia sieht ihn fragend an.

»Das ist Frau Geritz vom Jugendamt, und das sind Polizeioberkommissar Benz und Frau Hauptkommissarin Gutenberg. Setz dich doch.«

Pia wird schwindelig. Jugendamt? Polizei? Oh Gott. Mechanisch setzt sie sich auf den hingeschobenen Stuhl.

»Wir sind hier, weil wir dir sagen wollen …« Die Stimme von Frau Geritz verliert sich irgendwo auf dem Weg zu Pia. »Dein Vater …« Wieder bricht ihre Stimme ab.

»Wir mussten deinen Vater heute Morgen verhaften, Kind«, sagt nun der Polizist.

Was? Sie haben Papa mitgenommen? Das muss ein Irrtum sein. »Nein.« Sie schüttelt heftig den Kopf.

»Hör zu, wir möchten dich von einer Ärztin untersuchen lassen. Frau Geritz wird bei dir sein, und dir wird nichts passieren.«

Pia schreit. Sie ballt ihre Hände zu Fäusten. Niemand wird sie von der Schule wegschleppen.

Sie geht einige Schritte auf den Direktor zu, der bleich hinter seinem Schreibtisch sitzt. Er sieht weg, als Pia vor ihm steht. »Herr Direktor«, flüstert sie.

»Pia, bitte«, sagt er tonlos. »Bitte geh mit. Es ist wichtig.«

»Und morgen darf ich meine Mathematikarbeit zu Ende schreiben?« Das ist gar nicht echt. Nur ein Spiel, sagt sich Pia verzweifelt.

»Ja, natürlich. Du hast doch gar nichts getan.« Jetzt sieht der Direktor sie doch an. »Geh heute mit, Pia, und morgen sehen wir uns wieder. Versprochen.« Er lächelt sogar, und Pias Herz beruhigt sich langsam.

Die Ärztin stellt fest, worüber Pia niemals sprechen wollte. Nur einmal hat sie versucht, es ihrer Mutter zu sagen. Doch als sie anfing zu weinen und den Finger auf ihre Lippen legte, schwieg Pia. Der Schmerz in ihren Augen war zu entsetzlich. Die Mutter wollte es nicht wissen.

»Dein Vater, er hat dir Gewalt angetan.« Die Stimme der Ärztin klingt bestürzt und ein bisschen wütend.

»Nein«, stammelt Pia. »Das ist nicht so schlimm. Wirklich. Papa soll nicht gehen.«

»Er muss gehen. So etwas darf ein Vater nicht tun.« Die Augen der Ärztin sind gütig.

Pia weiß nicht, was sie sagen soll. »Ich habe das niemandem erzählt«, flüstert sie plötzlich, und eine dicke Träne fällt auf ihre Jeans.

»Ich weiß«, antwortet die Ärztin, »du hast es nicht erzählt. Aber zwei andere Mädchen haben ihren Eltern erzählt, dass dein Vater auch ihnen Gewalt angetan hat. Die Eltern der beiden haben deinen Vater angezeigt.«

»Welche Mädchen?«, fragt Pia, obwohl sie die Antwort schon weiß.

»Lotte Andrews und Sophia Berg …« Pia rast einen Abgrund hinunter. Es wird schwarz um sie und sie stürzt, stürzt, stürzt.

Pia wird krank. Die Mathematikarbeit schreibt sie nie zu Ende. Drei Wochen liegt sie zu Hause im Bett. Nur Schweigen um sie, Schweigen und bleischwere Leere. Die Mutter sitzt manchmal stumm bei ihr. Der Vater darf bis zum Prozess zu Hause bleiben. Pia sieht ihn nicht, aber sie hört ihn mit der Mutter reden. Manchmal hört sie die beiden auch nachts. Dann stopft sie schnell ihre Kopfhörer in beide Ohren und hört laut Musik. Dieter, ihr kleiner Bruder, fängt plötzlich an zu stottern und wieder ins Bett zu pinkeln. Dabei ist er schon neun!

Frau Geritz vom Jugendamt kommt vorbei. Pia geht es noch immer nicht besser. Die Frau spricht lange mit Mama. Und am Abend hat Mama verweinte Augen. Stumm streichelt sie Pias Arm. Immer wieder. »Piaken, et tut mir so Leid. Ach, Piaken.« Das ist alles, was die Mutter sagt.

Als Frau Geritz das zweite Mal kommt, packt Mama Pias Sachen in einen großen Koffer. Warum? Ihr geht es doch seit einer Woche viel besser! Sie ist auch wieder zur Schule gegangen. Ein bisschen hat sich alles angefühlt wie in einem Traum. Sie fühlt sich befangen in der neuen Klasse. Die Verhaftung des Vaters hat in der Zeitung gestanden. Alle wissen es jetzt, und Pia kommt sich dreckig vor. Sie schämt sich entsetzlich. Sie findet keine Freunde in der Klasse. Auch mit Lotte und Sophia kann sie nicht mehr sprechen. Ein unüberwindbarer Graben liegt zwischen ihnen. Immer, wenn ihre Klassenkameraden die Köpfe zusammenstecken, reden sie bestimmt über sie. Pia fühlt sich nackt. Niemand spricht mit ihr über das, was in der Zeitung steht. Sie hat das Gefühl, alle behandeln sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Nicht der Vater ist ins Gefängnis gekommen. Sie ist es, die eingemauert wurde an dem Tag, an dem der Direx sie aus ihrem neuen Klassenzimmer holte.

»Pia, dat Fräulein vom Jugendamt, dat bringt dich jetzt in ein schönet neuet Zimmer«, sagt die Mutter. »Dat is nich für immer«, fügt sie beschwörend hinzu, als Pia sich entsetzt unter dem Tisch versteckt wie vor vielen, vielen Jahren, wenn sich die Eltern gestritten haben.

»Mama, ich habe doch gar nichts getan.« Pia weint.

»Nein, Kind, natürlich nich.« Die Mutter sieht hilflos aus.

»Piaken, mein Kleinet, et is ja vielleicht nich für lang, aber glaub et mir. Dat is besser im Moment. Und du besuchst uns, ja, mein Kleinet?« Wieder sieht die Mutter sie so an wie damals, als Pia versuchte, ihr zu sagen, was der Vater mit ihr tat.

Pia krabbelt unter dem Tisch hervor. Nicht dieser Schmerz. Nein, nicht dieser Schmerz. »Ist ja gut, Mama«, sagt sie leise und streicht der Mutter über die Hand. »Ich hab dich lieb, Mama.«

Die Mutter nimmt Pia in die Arme. »Ich liebe dich, Kleinet«, sagt sie.

»Ich weiß, Mama, ich weiß.«

Im Keller ist es totenstill. Pia sieht unsicher von Andrea, die sich neben sie gesetzt hat, zu Nesè und zurück.

Nesè wischt sich eine Träne aus den Augenwinkeln. »Scheiße«, murmelt sie.

Pia spürt erst jetzt, dass Andrea den Arm um sie gelegt hat und vorsichtig ihren Rücken streichelt.

»Danke für dein Vertrauen«, sagt Andrea.

Gut, dass sie es den beiden erzählt hat. Nur was hat sie eigentlich gesagt? Sie räuspert sich, und Andreas Hand auf ihrem Rücken verharrt in der Bewegung.

»Das ist komisch gewesen mit dem Erzählen«, sagt Pia und ihre Stimme krächzt.

»Was meinst du mit komisch?«, fragt Andrea.

»Es ist schwer zu erklären. Es fühlt sich an wie … wie ein Sprung zurück in meine Geschichte. Ein Zeitsprung sozusagen. Diese Zeit«, fährt sie plötzlich atemlos fort, »kommt zurück, als würde alles noch einmal geschehen, genau so wie es vor über fünf Jahren war.«

Andrea nippt an ihrem Glas. »Stimmt, jetzt wo du es sagt, fällt es mir auch auf. Ich habe die Szenen, die du beschrieben hast, ganz deutlich vor mir gesehen.«

»Ging mir genauso.« Nesè wischt sich noch einmal über die Augen. »Es dauert vielleicht, bis du mal redest. Aber wenn du es dann tust, geht es einem verdammt nah«.

»Jetzt reden wir von etwas anderem, ja? Sonst platz ich vor Verlegenheit«, bittet Pia.

»Unser Zusammenwohnen ist übrigens megaklasse, erwähnte ich das schon?«, wechselt Andrea sofort das Thema.

»Nee, tatest du nicht«, grinst Nesè. »Dann seid ihr wohl jetzt ein Liebespaar?«

Pia fährt erschrocken hoch.

»Aua.« Andrea hält sich das Kinn. »Ich hätte mir fast die Zunge abgebissen.« Tränen schießen ihr in die Augen.

»Oh, Mann, Andrea, entschuldige.« Wütend funkelt Pia Nesè an, doch die grinst weiter. »Freut dich wohl«, faucht sie und versteht selbst nicht, wieso sie so auf Nesès Provokation abfährt.

»Bleib cool«, meint Nesè. »Es gibt Schlimmeres als sich in ein Mädchen zu verlieben.«

 

Pia kneift die Augen zusammen. »Was soll das denn heißen?«

»Dass du manchmal ganz schön impulsiv bist, zum Beispiel.«

Pia wirft mit einer Salzstange nach ihr. Ihr Ärger ist genauso plötzlich verflogen, wie er aufgeflammt war.

»Klar sind wir ein Liebespaar«, schmunzelt Andrea. »So wie die Mädchen aus der Regenstraße.«

»Die Mädchen aus der Regenstraße sind andersrum?« Wieso wissen immer alle Bescheid, nur sie nicht? Pia rutscht unruhig auf der Couch hin und her. »Nun sag doch mal«, bohrt sie. »Woher weißt du das?«

»Erstens bin ich mit Hannelies befreundet, und die wohnt ja da, und zweitens hab ich Augen im Kopf.«

»Alle Mädchen?« Pia kann es nicht fassen.

»Nein, nicht alle Mädchen, aber mindestens zwei«, gibt Andrea bereitwillig Auskunft. »Eine ist mit einem Mädchen hier aus dem Internat zusammen und die andere hat eine Freundin in Köln.«

»Also«, sagt Pia langsam, »für mich wäre das nichts.« Die Worte tun ihr weh, aber sie muss sie sagen. Unbedingt!

»Wie spät ist es eigentlich?«, unterbricht Nesè und sieht lässig auf ihre Uhr. »Oh-oh, schon Viertel nach zehn. Ich muss mich jetzt an der ollen Libora vorbeischleichen, während ihr weit weg von Schwester Arnoldis laut pfeifend in euer gemeinsames Zimmer spazieren könnt.« Sie zieht einen Schmollmund.

»Bald kommst du auch raus aus der Horrorgruppe«, tröstet Pia sie, und Nesè steht ächzend auf.

»Okay, ich werde der Libora sagen, dass du mich dazu verführt hast, gegen die Hausordnung zu verstoßen. Dagegen spricht doch wohl nichts?« Nesè zieht die rechte Augenbraue hoch. Das kann keine so gut wie sie.

»Kein Problem«, steigt Pia ein. »Mehr unten durch kann ich bei der gar nicht sein.«

»Sie hat dich in die Psychiatrie gebracht?«, schaltet Nesè sofort.

»Wer sonst?« Pia ist aufgestanden und hält Andrea ihre Hände hin. »Na los, altes Faultier. Ich helf dir hoch.«

Als Pia im Bett liegt, geht ihr Nesès Frage durch den Kopf. Andrea und sie ein Liebespaar? Vorsichtig schielt sie zu ihrer Freundin hinüber, die tief und fest schläft.

Wie ist Nesè darauf gekommen? Und wieso hat sie darauf so heftig reagiert? Irgendwie hat sie sich ertappt gefühlt. Bescheuert, wieso ertappt? Zwischen ihr und Andrea spielt sich überhaupt nichts ab. Nichts jedenfalls, was mit Liebespaar zu tun hat. Pia schüttelt den Kopf. Und dann fällt ihr das neue Mädchen wieder ein. Phil!

Plötzlich sieht sie Phils Gesicht wieder genau vor sich, und ihr wird heiß. Erschrocken versucht Pia das Bild abzuschütteln. Katzengrüne Augen, etwas schräg gestellt, und Tausende von Sommersprossen, die einen wilden Tanz vollführen, wenn sie lacht. Und die dunkelbraunen Locken erst. Pia denkt an Phils Hände. Wie sie Brot bestreichen, eine Locke hinters Ohr stecken, einen Ball auffangen und wieder wegwerfen, wie sie ihre Worte mit Gesten untermalen.

Wie sie ihre Haut streicheln. Eine heiße Welle steigt Pia in den Kopf und sie spürt ihre Mitte feucht werden. Sie ist verwirrt. Verwirrt und glücklich. Vorsichtig tasten ihre Finger sich nach dorthin vor. Sie schließt die Augen. Stellt sich Phils Hände vor. Als sie aufstöhnt, reißt sie erschrocken die Augen auf. Hat Andrea sich gerade bewegt? Pias Herz galoppiert. Nein, Andrea atmet genauso ruhig und gleichmäßig weiter wie vorhin.

In der Bravo steht fast jede Woche irgendwas über Selbstbefriedigung. Sie betonen immer, wie normal das ist. Und wie normal erotische Phantasien sind. Pia ist sich nicht sicher, ob die Bravo das auch noch findet, wenn ein Mädchen sich vorstellt, von einem Mädchen angefasst zu werden. Sie will nicht aufhören sich zu streicheln. Vielleicht müsste sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Morgen, tröstet sie sich. Morgen kann sie immer noch darüber nachdenken, ob sie jetzt pervers ist oder einfach nur die nächste Kandidatin für die Regenstraße.

3. Kapitel

Ende März 1999

»Pia, wach endlich auf.« Andrea steht schon völlig angezogen vor ihr. »Das ist das dritte Mal, dass ich dich wecke. Das Frühstück hat vor fünf Minuten angefangen und ich habe mächtig Hunger.«

»Alles klar, bin schon im Bad. Reservierst du mir ’nen Kaffee, sonst steh ich den Tag nicht durch.«

Atemlos und mit nassen Haaren taucht sie zehn Minuten nach Andrea im Speisesaal auf. Hey, wieso sitzt du denn heute auf meinem Platz, will sie gerade zu Gudrun sagen, als sie bemerkt, dass der Platz neben Phil dadurch frei geworden ist. Für eine Sekunde setzt ihr Herz aus und sie beißt sich auf die Zunge. »Guten Morgen, Gudrun«, schaltet sie um. »Ich setz mich dann einfach auf deinen Platz.«

Schwester Arnoldis wirft ihr einen ärgerlichen Blick zu, und Pia lässt sich schnell auf den freien Stuhl fallen.

»Hey, hast wohl verschlafen.«

Diese Augen. Pia spürt, wie sie knallrot wird. »Ja, war ’ne anstrengende Nacht«, würgt sie hervor. Als sie sich Kaffee eingießen will, rutscht ihr die Kanne aus den schweißnassen Händen und ein Schwall ergießt sich über Pia, Phil und das weiße Tischtuch. »Oh nein, das tut mir Leid. So ein Mist.« Hektisch versucht Pia, den Schaden an Phil mit einem Tempo wieder gutzumachen. Sie bloß dabei nicht ansehen. Vor Scham würde sie am liebsten im Boden versinken. Als sich ihre Blicke doch treffen, lachen Phils Augen. Sie ist offensichtlich amüsiert. Pia setzt sich erst mal hin.

»Sehr erfreut, dich kennen zu lernen«, sagt Phil. »Diese Hose konnte ich noch nie leiden. Ich zieh sie nur an, damit sie sich nicht so schlecht fühlt, denn schließlich kann sie ja nichts für meinen Geschmack.«

Was für ein merkwürdiger Gedanke. Als könnten Gegenstände denken oder fühlen. »Ich finde, du siehst toll darin aus.« Mein Gott, was bin ich nur für ein Idiot. Erschrocken stellt Pia fest, dass sie schon wieder knallrot wird. Pia Drews, am besten, du hältst einfach deine Klappe. Redest nicht und bewegst dich nicht.

»Die Hose gefällt dir?«

Pia nickt vorsichtig. Sie steht Phil total gut, echt. Dunkelbrauner Cordstoff, unten ein Riesenschlag, aber oben hauteng.

»Willst du sie haben?«, erkundigt sich Phil.

»Nee, nee, mir steht so was nicht«, wehrt Pia ab. Sie trägt immer Bluejeans. Röhrenschnitt. Und irgendwelche langen Oberteile. Figurbetont? Nie im Leben!

»Ach, aber an mir gefällt sie dir?«

Pia nickt nochmals.

Phil beißt von ihrem Brötchen ab.

Pia weiß nicht mehr, was sie sagen soll. Sie trinkt schnell ihren Kaffee, schüttet sich noch einen zweiten ein. Hunger hat sie überhaupt nicht. Sie schmiert sich trotzdem ein Brot, nur um etwas in den Mund stecken zu können. Mit vollem Mund muss man bekanntlich nicht reden.

»Hast du heute Nachmittag schon etwas vor?«, fragt Phil, und Pia schüttelt heftig den Kopf, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken. »Spielst du Tischtennis?«, will die Neue wissen.

Pia nickt.

»Treffen wir uns heute Nachmittag?«

Wieder ein Nicken.

»Hast du irgendwie auch eine Stimme?«

»Ja, ich, klar, natürlich. Also, wie wär’s um drei?«

Phil ist einverstanden.

Pia fühlt die Blicke aller Mädchen auf sich gerichtet. Sie werden sich bestimmt das Maul zerreißen. »Unten am Portal und dann gehen wir zuerst in die Stadt. Du bist doch neu hier. Und zum Schluss gehen wir ins Jugendzentrum.« Bloß keine Zuschauerinnen im Internat. Das überlebt Pia nicht.

»Ich habe gehört, dass es hier sehr gute Platten gibt. Sowohl in der Außenanlage als auch im Keller.«

»Nee. Nee, du. Die im Jugendzentrum, die sind um Klassen besser. Und die Kellen dort sind der Hammer«, beeilt sich Pia zu versichern.

»Na ja, du wirst das beurteilen können.«

Von wegen. Die besten Platten im ganzen Ort sind genau hier im Internat, und unter Drei-Sterne-Kellen läuft gar nichts, denkt Pia. Aber das kann sie Phil irgendwann erklären.

»Warst du schon mal beim Mädchentag?« Phil hat sich noch vor Schulbeginn umgezogen. Sie trägt jetzt einen schwarzen Minirock und Turnschuhe.

Pia ist hingerissen. »Ja, zwei-, dreimal. Aber es ist echt öde. Die Mädchen sitzen nur rum und reden über Jungs oder Schminke, und die Pädagogin versucht dann, auf irgendwas anderes abzulenken. Ich meine, wer drauf steht …« Pia zuckt mit den Schultern.

»Und worüber würdest du dich gern unterhalten?«, fragt Phil. Und hat prompt Pias Schmetterball verpasst. »Das war aber nicht fair.« Richtig sauer ist sie nicht. »Cola?«, fragt sie stattdessen.

»Oh ja, Cola und kurze Pause.«

»Aber nicht umschütten, okay?«

Schon wieder wird Pia rot. Vor der Theke steht sie ganz nah neben Phil. Sie kann sie fast berühren. Pia hält sich sicherheitshalber an dem schwarz lackierten Holz fest. Ihre Beine fühlen sich wie Pudding an.

Phil scheint es nicht so zu gehen. Sie trägt beide Gläser ganz selbstverständlich zu einem der kleinen wackligen Holztische, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen danebengeht. Und dabei hat der Junge am Tresen beide bis zum Rand gefüllt. Kein Wunder, so wie Phil ihn angeflirtet hat. Und so wie sie aussieht. Phil flirtet anscheinend gern.

Kaum sitzen sie, kommt der Thekenjunge auch schon auf sie zu. »Kann ich noch irgendwas für dich tun?«

Pia beachtet er gar nicht. Kein Junge beachtet sie. Das fällt ihr heute zum ersten Mal auf. Na ja, schließlich trägt sie keine Miniröcke. Und sie flirtet auch nicht.

Halb fasziniert und halb verärgert beobachtet Pia die beiden. Für die scheint sie überhaupt nicht mehr zu existieren. Jetzt fordert der Junge Phil auch noch zu einer Runde Tischtennis auf.

»Pia, du hast doch nichts dagegen, wenn ich mit Rainer ein Match austrage?«

Soll sie schreien, um sich schlagen, ihn zusammentreten? »Natürlich nicht«, gibt sie nervös zurück.

Pia weiß plötzlich nicht mehr, wohin mit ihren Händen, ihren Füßen. Obwohl es ihr wehtut, Phil flirten zu sehen, kann sie nicht weggucken. Und schon gar nicht gehen. Sonst ist der Laden hier immer brechend voll, und heute? Kein Schwein lässt sich sehen. Vielleicht sollte sie etwas bestellen, schließlich muss der Typ sie bedienen. Langsam schlendert sie die paar Schritte zur Tischtennisplatte. »Ich will noch ’ne Cola.«

»Bedien dich einfach selbst, okay? Du siehst ja, ich bin beschäftigt.«

Vor Wut bleibt Pia fast die Luft weg. Sie schnappt sich hinter der Theke ein Glas, überlegt kurz, alles in Schutt und Asche zu legen, bückt sich dann aber nur, um die Cola aus dem Kühlschrank zu holen. Als sie wieder hochkommt, sind Rainer und Phil verschwunden.

Wo sind die in den paar Sekunden hin? Spinnt die, sich einfach davonzumachen? Pia knallt das Glas wütend auf die Theke und die Flasche landet mit einem Knall in der Spüle. Was, wenn der Typ grade irgendwas mit ihr macht? Vielleicht hat er sie ja auch in eine dunkle Ecke gezerrt und …

Pia sieht sich beunruhigt um. Sie kann jedenfalls nicht ohne Phil zurück ins Internat. Schließlich sind sie zusammen hergekommen. Wenn sie Phil gefunden hat, kann sie ihr immer noch die Meinung sagen.

Sie versucht sich zu erinnern, wo im Jugendzentrum welche Räume liegen. Links die Mädchenklos, daneben die Disco. Pia schleicht in die Toilette. »Phil, bist du hier?«, ruft sie leise. Sie geht von Kabine zu Kabine. Im Mädchenklo ist niemand.

Sie geht weiter bis zur Disco. Ein Lichtschein fällt durch die nur angelehnte Tür. Pia hört leise Musik. Vorsichtig öffnet sie die Tür einen Spalt weiter. Da läuft ihr Lieblingsstück von Mariah Carey. Pia schlüpft schnell hinein.

Die Lichter tauchen den dämmrigen Raum in Discostimmung. Endlich erkennt sie direkt vor sich einen Pfeiler, weiter links eine Art Sitztribüne. Sie tastet sich dorthin vor und setzt sich auf die äußerste Kante. Die Tanzfläche ist leer. Seltsam, irgendjemand muss die Beleuchtung und die Anlage doch angeworfen haben? Suchend lässt Pia ihren Blick durch den Raum wandern. Nein, niemand zu sehen.

Das Stück ist zu Ende. Die plötzliche Stille ist gespenstisch, und Pia hält automatisch den Atem an. War da nicht grade ein Lachen? Ja, eindeutig. Phils Lachen. Aber von wo kommt es?

Die Musik setzt wieder ein. Noch mal das gleiche Stück. Plötzlich entdeckt Pia eine kleine Kabine hinter der Tanzfläche. Die Anlage und das Mischpult sind dort eingeschlossen. Ein Raum, gerade groß genug für zwei.

Die Tür öffnet sich und Pia rutscht instinktiv etwas weiter Richtung Ausgang. Fast verliert sie das Gleichgewicht.

Rainer und Phil gehen Hand in Hand in die Mitte der Tanzfläche. Rainer legt seinen Arm um sie und sie rückt nah an ihn heran. Er zieht sie noch näher zu sich. Die beiden Körper bewegen sich rhythmisch und eng zusammen. Phil schmiegt sich an den Jungen. Ihr Kopf ruht auf seiner Schulter. Willig lässt sie sich von ihm führen. Seine Hand gleitet langsam an ihrem Rücken hinunter. Davon, dass Phil sich wehrt, kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Seine Hand hat jetzt ihren Po erreicht.

 

Pia hält sich krampfhaft an der Kante der Tribüne fest. Sie müsste verschwinden, raus aus dem Laden. Aber sie ist wie gelähmt. Sie kann ihre Augen nicht von dem Paar lassen. Widerwillen mischt sich mit Faszination. Es erregt sie, Phil so zu sehen.

Seine Hand streichelt ihren Po.

Plötzlich legt Phil ihren Kopf in den Nacken und lässt sich von ihm küssen. Sie drängt sich weiter an ihn und er küsst sie immer wilder.

Als er ein Bein zwischen ihre schiebt und sie ihn weiterküsst, stürzt Pia aus der Disco.

Tränenüberströmt rennt sie den ganzen Weg bis zum Internat. Ihr Herz rast, ihre Hände zittern, in ihr ein einziger Schrei. Es tut so weh, dass sie glaubt, in der Mitte zerrissen zu werden.

Andrea ist zum Glück nicht da, und Pia legt sich aufs Bett. Ihr Körper fühlt sich heiß an, aber sie friert. Erst als sie unter ihrer Bettdecke liegt und noch eine Wolldecke über sich geworfen hat, wird ihr langsam wärmer.

Sie ist wütend auf sich selbst, auf Phil und wieder auf sich selbst.

Natürlich will Phil, dass ein Junge sie anfasst. Das ist schließlich normal. Was ist nur in sie gefahren? Und wieso regt sie sich darüber auf? Richtig, sie war mit Phil zum Tischtennisspielen verabredet. Phil hat sie sogar dazu eingeladen. Vielleicht ja nur, um den erstbesten Typen aufzureißen. Sind eigentlich außer Andrea und Nesè alle Mädchen so?

Wieso hat Nesè sie gefragt, ob sie und Andrea ein Liebespaar sind? Pia stellt sich Andreas Gesicht vor. Ihre Hände, ihr Lachen. Wie sie den Schulflur entlangläuft. Bei schwierigen Aufgaben auf ihrem Füller kaut. Immer wieder schiebt sich das Gesicht von Phil dazwischen.

Andrea löst nicht solche Gefühle in Pia aus. Sie versucht es mit Nesè. Aber auch sie ist einfach nur eine gute Freundin, nicht mehr.

Pia ist verwirrt. Es hat sie erregt, Phil so erotisch zu sehen. Gleichzeitig schämt sie sich, eine so sexuelle Szene auch noch erregend zu finden. Und ist wütend, dass Phil sie auf diese miese Art hat sitzen lassen.

Dabei sieht der Typ nicht mal besonders gut aus. Na ja. Eigentlich, muss sie zugeben, sieht der Typ sogar ziemlich gut aus. Aber muss Phil sich deswegen so an ihn ranschmeißen? Die kennen sich doch gar nicht. Wer weiß, vielleicht haben sie es schon getan? Auf der Tanzfläche oder in der Kabine oder auf einer der Couchs. Es – das, was die Bravo jede Woche auf etlichen Seiten beschreibt. Als ob Mädchen nur im Kopf hätten, wann sie ihn wo und wie dazu kriegen, dass er dieses Ding in sie reinsteckt.

Die Nonnen halten die Bravo ja für Teufelszeug. Pia nicht. Obwohl sie gerade genauso moralisch denkt, wie die Nonnen reden. Bei den anderen Mädchen ist es ihr egal. Aber nicht bei Phil.

»Hey, worüber brütest du denn? Ich dachte, du bist mit Phil im –« Die letzten Worte bleiben Andrea im Hals stecken.

»Und ich dachte, du bist beim Basketball?«

»War ich auch. Aber jetzt bin ich hier.« Andrea setzt sich ans Fußende von Pias Bett. »Bist du krank oder was?«

»Nee, hab bloß einen beschissenen Nachmittag hinter mir.«

»Wieso? Habt ihr euch gestritten?«

»Nein.« Pia starrt die Wolldecke an.

»Was denn dann?«

Pia starrt weiter dumpf ins Leere. Sie will nicht reden. Reden macht alles nur schlimmer.

Außerdem, was ist schon dabei? Phil hat mit ’nem Jungen rumgemacht. Das ist ja wohl nicht verboten. Und geht sie im Übrigen auch gar nichts an. Schließlich kann sie nicht erwarten, dass Phil weiß, dass sie, dass sie …

»Pia, gestern hast du endlich mal was von dir erzählt. Und jetzt sitzt du schon wieder vor mir, als wärst du gar nicht richtig da. Wo bist du, wenn du Löcher in die Luft starrst?«

»Ich denke nach.« Pia setzt sich im Schneidersitz auf ihr Bett. Seit Andrea am Fußende sitzt, ist ihr wärmer geworden.

»Und worüber denkst du nach?«

»Na ja. Über mich, meine Gefühle, über andere Menschen und was sie wohl denken und fühlen. Solche Sachen halt.«

»Ganz ehrlich, damit kann ich überhaupt nichts anfangen. Geht’s auch konkreter?«

»Na, zum Beispiel frage ich mich, was du von mir hältst.«

»Das solltest du lieber mich fragen«, grinst Andrea. »Wovor hast du eigentlich solche Angst?«

»Weiß nicht«, murmelt Pia.

»Selbst wenn deine schlimmsten Befürchtungen wahr werden, ist es immer besser zu wissen, was die anderen denken, sonst kannst du doch gar nicht handeln.«

»So was Ähnliches hat mir Michael auch schon gesagt«, bemerkt Pia verblüfft.

»Wer ist denn Michael?«

»Eine lange Geschichte. Erzähl ich dir mal irgendwann.«

»Also, sind wir jetzt Freundinnen oder nicht?«

Pia nickt.

»Okay.« Andreas Stimme klingt klar, aber auch angespannt. »Schon an der Tür habe ich gesehen, dass irgendetwas mit dir absolut nicht in Ordnung ist. Und langsam fängt es an, mir wehzutun, dass du mich wie eine Feindin siehst. Wie jemand, dem du keinen Millimeter trauen kannst. Warum erzählst du mir nicht einfach, was passiert ist?«

Pia fühlt Tränen die Wange hinunterlaufen. Sie möchte sich bei Andrea anlehnen und weinen, weinen, weinen.

»Pia, was denkst du gerade? Los sag, ohne nachzudenken«, fordert Andrea.

»Dass mir zum Heulen ist und dass ich, dass ich am liebsten …« Pia verstummt.

»Dass du am liebsten was?« Andreas Stimme klingt sanft, kein bisschen mehr wütend.

»Mich bei dir ausheulen würde«, flüstert Pia.

»Also, dann komm schon her, kleine Pia.« Andrea lächelt.

Pia kuschelt sich an sie und die Tränen fließen aus ihr heraus.

Als sie anfängt zu reden, ist es draußen schon fast dunkel. Sie erzählt Andrea die ganze Geschichte vom verpatzten Nachmittag.

»Also, die kommt nicht in unseren Club, wenn sie dich so behandelt«, sagt Andrea entschieden.

Pia druckst herum.

»Ist noch was anderes passiert?« Andrea setzt sich aufrecht hin.

»Wieso hat Nesè uns gefragt, ob wir ein Paar sind?«, platzt Pia heraus.

»Weiß nicht. Hätte ja sein können, wo wir so viel zusammenstecken und in einem Zimmer wohnen. Warum nicht?«

»Na ja, das ist doch …«, Pia sucht nach Worten.

»Nicht normal?«, hilft Andrea weiter.

»Genau.«

»Pia, du denkst zu viel darüber nach, was andere Leute von dir halten könnten. Das ist doch total überflüssig. Wenn ich mich in dich verlieben würde, na und? Wäre doch klasse.«

»Du bist doch nicht wirklich in mich verliebt?«, sagt Pia erschrocken. So wollte sie es nicht rüberbringen, aber jetzt ist es passiert.

»Nein, ich bin in Ramon verliebt, schon vergessen? Und er auch in mich.«

»Hast du dich schon mal … ich meine … in ein Mädchen verliebt?«

»Nein«, sagt Andrea. »Ich glaube, ich bin einfach keine Lesbe. Ich verliebe mich in Jungs. Nicht in alle natürlich«, fügt sie scherzend hinzu. »Nur in die tollen.«

»Und wie fühlt sich das an?« Pia rückt ein bisschen von Andrea weg und macht die Nachttischlampe an. »Damit ich dich besser sehen kann«, grinst sie verlegen.

»Gut, mein Wolf.« Andrea grinst zurück. »Tja, das fühlt sich toll an.« Ein verträumtes Glitzern mischt sich in die leuchtenden Augen. »Als er vorsichtig meine Hand genommen hat, hat es bei mir gefunkt, als hätte ein Blitz eingeschlagen.«

»Wie? Gefunkt?«

»Meine Knie sind weich geworden, mein Herz begann zu rasen, meine Hände haben gezittert. Und dann dieses Ziehen im Bauch. Wie tausend Ameisen, die darin herumkrabbeln. Und schwindlig war mir. Das ist mir noch immer, wenn er mich ansieht.«

»Aha«, sagt Pia gedehnt. »Und das ist Verliebtsein?«

»Pia, jetzt sag bloß, du warst noch nie verliebt?« Überrascht mustert Andrea sie.

Pia guckt schnell weg.

»Ach so, jetzt verstehe ich. Du hast dich verliebt! Na, erzähl schon, wie heißt er, wie sieht er aus, wo und wann hast du ihn kennen gelernt?«

Inne książki tego autora