Hannah und die Anderen

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Ein Märchen für Sascha
3. Kapitel, in dem Sascha zwei neue Freunde trifft, ein Märchenbuch sich in einen bösen Traum verwandelt und Hannah heimlich Fragen stellt

Sie sah in ein freundliches blaues Gesicht mit einem großen lachenden Mund, der sich öffnete und schloss, und sie ließ langsam eine Hand auf die Knie sinken. Warum das Tier da vorne wohl gar nicht spricht, überlegte sie und wagte nicht, sich zu bewegen, um den kleinen blauen Kuscheldrachen nicht zu verscheuchen. Sie wusste sehr genau, wie behutsam man sich bewegen musste, um ängstliche kleine Wesen nicht in Panik zu versetzen.

Ja, sie hatte schon oft gehört, dass Kuscheltiere gar nicht wirklich lebendig sind. Vati und Mutti sagten ihr das immer wieder, aber irgendwie wollte sie nicht daran glauben. Wenn ihr kleiner gelber Teddy mit ihr sprechen konnte, warum sollte es dieser blaue Drache dann nicht können?

Sie lächelte unter Tränen und sah den Drachen unverwandt an, in der Hoffnung, dass er etwas zu ihr sagen würde. Dass er ganz lebendig werden würde und sie vielleicht mit ihm spielen könnte. Vorsichtig setzte sie sich ein wenig bequemer hin. Mit jeder ihrer Bewegungen ließ sie sich sehr viel Zeit und nur ganz bedächtig wischte sie sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus dem Augenwinkel.

»Hallo, du«, sagte der Drache plötzlich. Dabei legte er den Kopf schief und grinste über sein ganzes kleines Gesicht.

Sie jubelte innerlich. Mutti und Vati hatten Unrecht. Kuscheltiere sprachen wohl. Nur konnten Erwachsene sie nicht hören.

»Ich heiße Flax Flabi Fledermaus, aber der Einfachheit halber darfst du Flax zu mir sagen, und jetzt bin ich auch noch ein kleiner Drache. Genau genommen nämlich erst achthundertdreiundvierzig Jahre alt, aber die Janne will mir trotzdem schon bald das Feuerspucken beibringen. Das«, fuhr der kleine Drache fort, »habe ich noch nicht gelernt.«

»Ich heiße Sascha und bin schon fünf«, flüsterte sie, und zum Zeichen ihrer Freundschaft legte sie ihren Kopf ebenfalls ein wenig schief.

»Dann kannst du wohl auch noch nicht Feuerspucken?«, wollte der Drache wissen.

Sascha lachte verlegen. »Nein, Feuerspucken, das kann ich nicht. Aber Radfahren«, erklärte sie stolz. Sascha freute sich über den Drachen, und als er ein wenig näher rutschte, streckte sie ihre Hand vorsichtig nach seinem Kuschelfell aus. Nur so weit, dass er noch selbst entscheiden konnte, ob er angefasst werden wollte.

Der Drache wollte dies ganz offensichtlich, denn er schmiegte sein Köpfchen nun gegen ihre Hand. Sascha gluckste vor Vergnügen und ihre Augen begannen zu strahlen. Sie streichelte den blauen Drachen ganz behutsam und sah ihm dabei in die Augen. Sie sahen aus wie dunkle glitzernde Sterne, und Sascha wurde es ganz warm im Bauch. Da entdeckte sie unter dem Küchentisch eine bunte Glaskugel, die verführerisch glänzte.

»Du, Flax?« Das du zog sie in die Länge und die Betonung lag zitternd im Raum. Der Drache beobachtete sie mit weiterhin schief gelegtem Kopf, und sie wagte den zweiten Versuch. »Du, Flax, magst du Murmeln auch so gerne wie ich?«

Der Drache nickte heftig und lachte.

»Soll ich mal die da holen und wir spielen zusammen?« Sascha deutete mit dem Kopf in Richtung Küchentisch.

»Au ja«, freute sich Flax und Sascha rutschte auf Knien unter den Tisch.

Die Murmel fühlte sich kühl an in ihrer Hand. Sie war klein und durchsichtig mit winzigen Regenbögen innen und einem Blauschimmer, der leuchtete, wenn Sascha die Kugel leicht bewegte. Sie rollte die Murmel vorsichtig zu dem kleinen Drachen, der vor Freude ein wenig in die Höhe sprang. Dann ließ er die Kugel zu ihr zurückrollen, und es begann ein Spiel, das im Laufe der Minuten immer ausgelassener und wilder wurde.

Sascha hatte sich noch nie in ihrem Leben so wohl gefühlt, und sie vergaß, wie groß ihre Angst sonst immer war. Sie fühlte sich sicher und auch verstanden und endlich, endlich hatte sie einen Freund gefunden, dem sie etwas von sich erzählen konnte und der mit ihr spielte und ihr glaubte, dass es sie wirklich gab. Und endlich fror sie nicht mehr so schrecklich und niemand lachte böse auf diesem schönen Holzfußboden.

Sascha beobachtete immer noch, ob sich Flax vielleicht veränderte und ein böser Wolf wurde, der sich auf sie stürzte und sie zerriss. Aber so lange sie auch hinsah, Flax blieb einfach Flax, der sich über das Glasperlenspiel freute, und deshalb durfte sie endlich auch Sascha bleiben, die mit ihm spielen konnte, ohne sich zu fürchten.

»Sascha, magst du vielleicht auch einen Saft? Ich habe großen Drachendurst.«

Sascha nickte.

»Dann frag ich mal die Janne, ob sie uns was zu trinken holt, ja?«

Als Sascha nicht antwortete, beugte sich der kleine Drache verschwörerisch zu ihr vor und zog eine Augenbraue hoch. »Die Janne, das ist nämlich schon eine große Freundin und sie gibt mir immer alles, was ich haben möchte.« Der Drache lachte verschmitzt. »Die bringt mich sogar ins Bett und liest mir noch Märchen vor, bis ich eingeschlafen bin.«

So etwas hatte Sascha noch nie gehört und vor Staunen wurden ihre Augen ganz groß und kugelrund. Solche Freunde hatte Flax? Sie konnte es kaum glauben, aber als der Drache begeistert nickte, merkte sie, dass sie eigentlich sehr großen Durst hatte und dass sie sich auch jemanden wünschte, der sie in den Arm nahm und ihr eine Geschichte vorlas. Flax war ein bisschen zu klein, um sie in den Arm zu nehmen.

»Willst du die Janne vielleicht kennen lernen?«, fragte Flax.

Sascha zuckte fragend mit den Schultern. Sie überlegte, ob sich der Drache auch bestimmt nicht irrte, und als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er:

»Ich kann die Janne jederzeit wieder wegschicken. Ich habe das schon tausendmal ausprobiert und sie hat immer auf mich gehört. Stimmt doch, oder?«

Mit dieser Frage drehte er sich um und sah nach oben. Sascha folgte seinem Blick, und da saß eine Frau auf dem Küchenboden, die dem Drachen zunickte und sehr ernst sagte: »Ja, Flax, du hast völlig Recht. Ich mache immer ganz genau das, was du mir sagst. Weil du einfach die besten Ideen hast. Und Saft«, jetzt sah die Frau Sascha an, »ist zum Beispiel eine ganz hervorragende Idee.«

Die Frau hatte freundliche Augen und eine schöne Stimme. Sascha konnte sich gut vorstellen, dass sie bestimmt wunderschön Märchen vorlas. Und sie sah auch ganz lustig aus mit ihren bunten Sachen und diesen Haaren, die ein bisschen aussahen wie Drachenhaare. Ihre Augen waren wie große Zaubermurmeln, und Sascha lächelte, während sie von der Frau zu Flax und zurückblickte.

»Ich mag gerne Saft und auch mag ich Murmeln und Märchen«, sagte sie zu beiden.

»Magst du deinen Saft am liebsten unter dem Küchentisch oder willst du dich auf einen Stuhl setzen?«, fragte die Frau mit den Murmelaugen.

»Wo sitzt denn der Flax?«, wollte Sascha wissen, und Flax grübelte und antwortete dann:

»Am allerliebsten vor dem warmen Kamin auf dem großen Sofa im Wohnzimmer, weil ich Feuer doch so gerne mag.«

»Was haltet ihr davon, wenn ich euch ins Wohnzimmer rüberbringe und ihr kuschelt euch zusammen in die Decke ein. Und du, Flax«, wandte sie sich dem Drachen zu, »du passt auf deine neue Freundin sehr gut auf, wenn ich für uns alle den Kamin anmache, und Sascha, dir gebe ich ein Märchenbuch mit vielen Bildern und du sagst mir dann, welches Märchen ich euch erzählen soll. Den Saft bringe ich euch natürlich zum Sofa.«

Sascha hörte aufmerksam zu. Sie mochte Feuer nicht so gern, aber Drachen, die mochte sie sehr. Und vielleicht war ja ein Drachenfeuer etwas ganz anderes als ein Höllenfeuer und sie musste davor keine Angst haben? Vielleicht gab es liebe Drachen, die sich nicht verwandelten, und böse Drachen, die sich wohl verwandeln konnten, und Flax aber gehörte zu den lieben Drachen, die auch nur liebes Feuer machten? Sie wollte es ausprobieren und sie wollte so gerne ein Märchenbuch mit vielen bunten Bildern anschauen.

»Darf ich das Märchen mit den schönen Bildern wirklich ganz alleine aussuchen?«, fragte sie vorsichtshalber noch einmal nach.

Die Frau nickte. »Ja klar, du darfst entscheiden und Flax bleibt bei dir und lässt dich ganz in Ruhe aussuchen. Okay?«

Statt einer Antwort krabbelte Sascha unter dem Küchentisch hervor und streckte der Murmelaugenfrau ihre Hand entgegen. Die Frau stand auf, nahm die kleine Kinderhand in die ihre und gemeinsam mit Flax gingen sie in das nahe gelegene Wohnzimmer.

Auf dem Weg durch den bunten Flur dachte Sascha darüber nach, ob die Frau vielleicht eine Hexe sein könnte, weil sie einen sprechenden Drachen hatte und in den Märchen immer stand, dass Hexen anfangs ganz lieb zu Kindern sind und erst dann böse werden, wenn die Kinder gar nicht mehr damit rechnen. Ihr fiel plötzlich ein, dass auch die Hexe von Hänsel und Gretel zuerst sehr lieb war, dabei wollte sie den Hänsel in Wirklichkeit nur essen und in den großen brennenden Ofen werfen. Saschas Herz begann wild zu schlagen und sie riss ihre Hand aus der der Frau.

Die blieb sofort stehen und sagte sehr leise: »Sascha, was ist passiert? Sag mir, wovor hast du Angst?«

Sascha schluckte. Flax musste ihr helfen. Er würde die Wahrheit kennen. Er hatte sich nicht verwandelt und sie wusste, dass er es auch nicht mehr tun würde.

»Ich mag mit Flax reden.«

Leise fielen die Worte aus ihrem Mund und Flax sah sofort zu ihr hin und legte den Kopf schief und lachte sein lustiges Drachenlachen. Sascha fasste neuen Mut.

»Ist die Janne nicht in Wirklichkeit eine Hexe?«, fragte sie leise und starrte Flax unverwandt an.

 

»Also«, begann Flax, »die Janne, die kenne ich schon viele Jahre und sie ist in Wirklichkeit eine Fee. Weißt du, was das ist?«

Sascha war sich nicht ganz sicher und schüttelte deshalb lieber den Kopf.

»Feen«, setzte Flax seine Erklärung fort, »sind meistens Frauen, die Kindern helfen, die von zu Hause weglaufen, weil die Mutter und der Vater ganz gemein sind. Und dem Kind nicht helfen, wenn es Angst hat oder sich wehgetan hat. Diese Eltern sagen ganz oft, dass Feen Hexen sind, damit die Kinder sich nicht trauen, den Feen zu erzählen, was der Vater und die Mutter tun.«

Mit offenem Mund und großen, überraschten Augen stand Sascha da. Woher konnte denn der kleine Drache das wissen? Genau das hatten Vati und Mutti ihr immer erzählt.

»Kennst du die Geschichte von Hänsel und Gretel?«, hörte sie Flax fragen, und als sie nickte, fuhr er fort: »In dieser Geschichte jagen die Eltern die beiden Kinder in den Wald und sind sehr, sehr böse zu ihnen. Sie wollen, dass die Kinder frieren und verhungern und sich im Wald verirren und dann vielleicht sogar aus Angst sterben. Und dann kommt die Fee und hilft den Kindern. Sie gibt ihnen zu essen und ein warmes Bett und sagt ihnen, dass sie nicht mehr nach Hause zurückmüssen. In der Zwischenzeit fragen die Lehrer in der Schule, wo die Kinder geblieben sind, und die Eltern erzählen, dass eine böse Hexe sie im Wald gefangen hält. Und weil niemand glauben will, dass Eltern wirklich böse zu ihren Kindern sein können, glauben die Lehrer und auch andere Leute, dass die Eltern natürlich die Wahrheit sagen. Und so werden aus den Feen Hexen gemacht. Und die Eltern können zu ihren Kindern weiter böse sein.«

Sascha hatte sehr aufmerksam zugehört. Es war nicht leicht zu verstehen, was ihr der Drache da erklärte. Aber sie erinnerte sich jetzt, dass am Anfang des Märchens die Eltern böse gewesen waren und an die große Angst der Kinder.

»Gibt es dann gar keine bösen Hexen?«, fragte sie.

Flax ließ sich eine Weile Zeit mit seiner Antwort. »Also«, er kratzte sich am Kopf, »ich glaube schon, dass es auch böse Hexen geben kann. Genauso wie es auch böse und liebe Eltern geben kann und böse und liebe Drachen. Ich kenne ein Geheimnis, wie du herausfinden kannst, ob jemand böse oder lieb ist. Wenn du willst, verrate ich es dir.«

Sascha nickte begeistert, und gemeinsam gingen sie weiter ins Wohnzimmer, wo Sascha von der Murmelaugenfrau eine warme, weiche Decke bekam und sich einkuschelte. Der Drache rollte sich neben ihr zusammen und legte seinen Kopf an ihre Schulter.

Nachdem die Frau den Saft geholt und sich vor die beiden auf den Boden gesetzt hatte, senkte Flax seine Stimme fast zu einem Flüstern.

»Das Geheimnis liegt in jedem Kind und in jedem Drachen selbst. Man muss es nur wiederfinden. Wenn du irgendwo bist und dein Bauch fühlt sich warm an und schön und du fängst an zu träumen und zu lachen und zu spielen und du bist so richtig froh darüber, dass du an diesem Ort bist, wo du dich so wohl fühlst, dann hast du einen lieben Menschen oder einen lieben Drachen getroffen.

Und wenn du dann Angst bekommst, weil du nicht sicher bist, ob jemand dich nur locken will, so wie es von der Hexe bei Hänsel und Gretel berichtet wird, und du das fragst und dich dann jemand tröstet und in den Arm nimmt, bis dein Bauch sich wieder warm und fröhlich anfühlt, dann ist es ein guter Mensch oder ein guter Drache.

Wenn du aber Angst hast und dein Bauch wird ganz kalt und klein und tut dir sogar weh und dein Herz beginnt ganz doll in dir zu galoppieren und in deinem Kopf rast alles und du darfst nicht weinen und niemand hilft dir, dann sind das böse Menschen oder auch böse Drachen. Und wenn sie sagen, dass deine Angst und deine Schmerzen falsch sind, dann sind es sogar sehr böse Menschen oder Drachen, die dich ganz doll angelogen haben und denen du nicht glauben musst.«

Sascha sah den kleinen Drachen lange an. Dann fragte sie: »Wenn mein Bauch warm ist, dann habe ich einen lieben Drachen und eine liebe Fee getroffen?«

»Ja, genau«, bestätigte Flax.

»Aber«, sagte Sascha und stockte. Stille Tränen liefen über ihr Gesicht. »Wenn sich doch dann die Fee in eine Hexe verwandelt und der Drache in einen Wolf?« Ihre Worte hingen wie eine dunkle Gewitterwand im Raum und Sascha wurde sehr kalt unter ihrer Decke.

»Dann«, sagte Flax und streichelte mit seiner Pfote sanft über ihr Gesicht, »musst du ganz schnell zu einer Fee laufen und ihr alles erzählen. Es gibt Feen, die dir glauben und dir helfen. Und auch Drachen. Ich zum Beispiel«, sagte Flax und grub seinen Kopf ein wenig tiefer in ihren Nicki.

»Bist du mein Freund?«, fragte Sascha und ihr Herz setzte aus, als sie ihre eigene Stimme hörte.

»Ja, ich bin dein Freund. Und auch Janne ist deine Freundin. Sie wird dir helfen, so wie sie mir geholfen hat, als ich zu ihr gelaufen bin.« Der kleine blaue Drache schwieg jetzt.

»Hast du auch böse Menschen und Drachen getroffen, die sich verwandelt haben?« Sascha wischte ihre Tränen weg und sah ihrem neuen Freund forschend in sein freundliches Gesicht. Der nickte und sah plötzlich traurig aus.

»Ja, ich lebte in einer Drachenfamilie, wo mich die Großen immer ausgelacht und gesagt haben, dass ich ganz hässlich und ganz dumm bin.«

Sascha konnte nicht glauben, was sie da hörte. Ihr lieber kleiner neuer Freund? Nein, so etwas konnte doch niemand über ihn sagen. Er war der schönste und liebevollste und ehrlichste Drache, den sie je getroffen hatte. Was für gemeine Leute das gewesen sein mussten.

»Dann haben sie mich eingesperrt und geschlagen, weil ich kein Feuer machen konnte. Dabei war ich dazu noch viel zu klein. Bevor ein Drache nicht mindestens eintausenddreihundertsechzig Jahre alt ist, kann er das gar nicht lernen. Aber all das wusste ich leider nicht. Ich habe selber geglaubt, dass ich ein böser, dummer Lügendrache bin, der seinen Eltern nur Kummer bringt.«

Sascha sah ihn erschrocken an. So böse waren seine Eltern zu ihm? Sie nahm ihn ein wenig fester in den Arm und drückte ihr Gesicht in sein blaues Fell.

»Das finde ich dolle gemein und es stimmt auch gar nicht. Du bist ein lieber Drache und ich mag gerne deine Freundin sein.« Sie gab ihm einen vorsichtigen Kuss auf seinen türkisgrünen Flügel und er lachte glücklich.

»Ich bin sehr froh, dass du mir glaubst. Und ich glaube dir auch. Und«, Flax überlegte einen Moment, »die Janne hat mir das auch alles geglaubt. Deswegen weiß ich«, schloss er seine kleine Rede ab, »dass die Janne eine Fee ist und auf keinen Fall eine böse Hexe.«

Sascha nickte und streichelte Flax über sein flauschiges Fell. Noch nie hatte sich jemand so mit ihr unterhalten. Ihr Bauch fühlte sich wieder ganz warm an und sie erinnerte sich an das Geheimnis, das ihr der Drache soeben geschenkt hatte. Wenn der Bauch sich warm anfühlte und keine Angst in ihr war, dann handelte es sich um liebe Menschen und Drachen.

Verstohlen betrachtete sie die Murmelaugenfrau, die ein wenig abseits auf dem Fußboden saß und nachdenklich den Drachen ansah, als habe sie ihm genauso aufmerksam zugehört wie sie selbst. Wenn der Drache sagte, dass sie eine Fee war, dann musste das einfach stimmen. Und tatsächlich fühlte sich ihr Bauch warm an und sie fühlte ein kleines Lachen darin und ein wenig Vertrauen, dass niemand in diesem Haus sich plötzlich verwandeln würde.

»Murmelaugenfrau?« Sascha sah sie zum ersten Mal direkt an. »Der Drache sagt, du bist eine Fee und verwandelst dich nicht. Da hat er doch Recht, oder?«

»Ja«, sagte die Frau und lächelte. »Und jetzt hole ich dir endlich mal das Märchenbuch. Ich glaube«, sagte sie mit einem Blick auf Flax, »dein neuer Freund ist ein bisschen müde geworden. Meinst du, du kannst kurz auf ihn aufpassen? So lange, bis das Feuer im Kamin brennt? Dann könnten wir ihn wieder aufwecken und ich lese euch das Märchen vor, das du für euch ausgesucht hast.«

»Meinst du, ich kann das? Auf ihn aufpassen?«

»Ja, er wird in deinen Armen bestimmt gut träumen. Sieh mal, er lächelt im Schlaf.«

Und tatsächlich, Flax hatte sich ganz und gar zusammengerollt und lächelte ein wunderschönes Drachenlächeln. Sascha war sehr stolz, dass ihr der kleine Drache so sehr vertraute. Die Murmelaugenfrau war aufgestanden und in ein anderes Zimmer gegangen. Sascha hörte ihre Schritte, und kurz darauf kam sie mit einem großen, bunten Buch zurück. Saschas Herz klopfte vor Aufregung. Sie streckte eine Hand nach dem Buch aus und die Frau legte es vorsichtig neben den Drachen auf ihren Schoß.

Sascha befühlte die Seiten und blätterte jede einzelne vorsichtig um. Lesen konnte sie fast noch gar nicht, aber die Bilder erzählten so vieles, dass sie bald ganz in den Farben und Bildern des Buches versank. Sie begann zu träumen, und all das, was sie von ihrem neuen Freund gehört hatte, die Wärme der Decke, die Geräusche, die die Murmelaugenfrau beim Feueranzünden machte, und die Farben und Muster auf jeder Buchseite verwoben sich für sie zu einem ganz eigenen Märchen, und wie durch eine neue, noch unbekannte und doch vertraute Märchenwelt flog sie immer weiter.

Sie begegnete Hänsel und Gretel, die verzweifelt versuchten, der verwirrten Frau Krebs vom Jugendamt zu erklären, dass die Murmelaugenfrau keine Hexe, sondern im Gegenteil eine liebe Fee sei. In ihrem Märchen hörte sie die Eltern böse Dinge über die Murmelaugenfrau sagen, und sie traf einen kleinen gefangenen Drachen, der mit einem Stock geschlagen wurde, weil er nicht Feuerspucken konnte. Sie sah Hannah, die wütend um sich schlug, und ein Fenster auf dem Dachboden zerbarst in tausend Scherben, die bunte Regenbögen auf den schmutzigen, spinnenübersäten Holzboden warfen. Und dann kam Flax herangeflogen, und Sascha beschwor Hannah in schnellen, wilden Worten, daran zu glauben, dass Flax sich bestimmt nicht in einen bösen bissigen Wolf verwandeln, sondern sie beide sicher zur Murmelaugenfrau bringen würde. Weg von diesem stickigen, heißen, gefährlichen Ort.

Aber Hannah wollte ihr nicht glauben, und auch John sah sie wütend an und sagte »du Traumtänzerin« zu ihr, und plötzlich wusste Sascha nicht mehr, ob sie vielleicht doch alles nur geträumt hatte und John Recht hatte und sie in Wirklichkeit überhaupt nicht auf einem gemütlichen Sofa saß mit einem Märchenbuch auf den Knien und einem lustigen blauen Drachen im Arm und einer Murmelaugenfrau in der Nähe, die eine Fee und keine Hexe war und gerade für ihren kleinen Drachen ein Feuer machte, weil er sich das so sehr gewünscht hatte.

Entsetzt fuhr sie auf. Das Buch fiel krachend zu Boden und die Frau drehte sich erschrocken um.

»Entschuldigung«, sagte Hannah, »ich hab gar nicht mitbekommen, dass ein Buch auf meinen Knien lag.«

»Das macht doch nichts«, sagte Janne und sah sie forschend an.

»Ist irgendwas?«, wollte Hannah wissen, die Jannes Blick nicht einordnen konnte. Sie überlegte fieberhaft, was eigentlich gerade passiert war. Hatten sie nicht eben noch in der Küche gesessen und leckere Spaghetti gegessen? Aber dann? Irgendetwas war passiert, aber sie wusste nicht, was. Jetzt jedenfalls saß sie im Wohnzimmer und Janne fachte offensichtlich gerade den Kamin an. Verwirrt und wie gelähmt beobachtete Hannah sie dabei. Sie hatte Janne doch gesagt, dass sie kein Kaminfeuer mochte!

Das Feuer brannte schon und Hannah versuchte panisch, woanders hinzusehen und das würgende Gefühl im Hals loszuwerden. Ihre Beine waren eingeschlafen und kribbelten unangenehm. Beim Strecken fiel etwas Blaues auf den Boden und sie bückte sich, um es aufzuheben. Als sie sah, was es war, vergaß sie für einen Augenblick ihre Angst.

»Och, der ist ja süß. Ist das deiner?«

Janne nickte. »Hannah, was ist los? Du siehst plötzlich so blass aus.«

Sie folgte Hannahs Blick, der wie gelähmt im Kamin festhing. Bevor Hannah ihre Panik in Worte fassen konnte, ging Janne zum Kamin und begann das Feuer zu ersticken.

»Oh, tut mir Leid, Hannah. Ich hatte vergessen, dass du Feuer nicht magst. Es ist gleich vorbei. Dauert nur einen Moment.«

Janne sah sie immer noch an, als hätte sie sie nie zuvor gesehen. Hannah zog sich misstrauisch in sich selbst zurück. Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Verdammt, wieso kam sie nicht drauf? Sie spürte, dass sie etwas sagen musste. Sie wusste nur nicht, was und wie sie es anfangen sollte. Schließlich gab sie sich einen Ruck.

»Du willst mich bald loswerden, stimmt’s? Ich wachse dir irgendwie über den Kopf, wie es die Erwachsenen immer so schön ausdrücken.«

 

»Nein«, sagte Janne, »das ist es nicht. Ich hole mir einen Tee aus der Küche. Willst du auch einen?«

»Du bist irgendwie sauer auf mich, oder? Stimmt doch! Ich kann auch gehen. Du brauchst es nur zu sagen, dann bin ich in drei Sekunden weg.«

»Hannah, lass uns doch bitte gleich zusammen überlegen, wie es weitergehen kann, okay? Ich freue mich, dass du heute mein Besuch bist, und ich möchte wirklich gerne wissen, was du weiter machen willst.« Janne schien zu überlegen, dann sagte sie: »Ich will nicht, dass du ziellos durch die Straßen ziehst. Es gibt andere und viel bessere Möglichkeiten. Aber um darüber zu reden, brauche ich einen Tee und eine Zigarette. Das ist alles. Kannst du mir das glauben?«

»Ja, ja, ist schon okay. Ich will auch einen Tee und vielleicht sogar eine Zigarette und irgendwie habe ich immer noch Hunger.«

»Du hast auch fast gar nichts gegessen. Ich mache das Essen noch mal warm und bringe es dann mit. Dauert nur ein paar Minuten.«

»Ist gut, ich lese solange das Buch weiter, das du mir geschenkt hast.«

Hannah fand ihren Rucksack in dem kleinen Gästezimmer und setzte sich aufs Bett. Verdammt, was war in der Zwischenzeit geschehen? Wie war sie von der Küche ins Wohnzimmer geraten? Mit einem Buch auf den Knien, in eine Decke gewickelt, zusammen mit einem Plüschtier? Das ist doch total verrückt, dachte sie.

Sie hatte so sehr gehofft, dass ihr das nie wieder passieren würde, wenn sie erst von zu Hause weg war. Stattdessen war es sogar noch schlimmer geworden. Warum konnte sie mit niemandem darüber reden, dass immer wieder Zeit verging, ohne dass sie es merkte? Und warum sprach sonst niemand über dieses Phänomen? Vielleicht hatte ihre Mutter doch Recht damit, dass sie vollkommen durchgeknallt und verhaltensgestört war. Also lieber nicht nachfragen!

Seufzend nahm sie das Buch und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie hörte Janne in der Küche rumoren, und trotz ihrer plötzlichen Unsicherheit und einem schleichenden Gefühl von Angst fühlte sie sich geborgen und sicher in dem kleinen alten Häuschen.

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