Hannah und die Anderen

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»Woran hast du gerade gedacht?«, wollte Hannah wissen

»Ich habe überlegt, dass ich es abenteuerlich finde, jetzt mit dir zusammen zu mir zu fahren.«

»Echt? Na ja«, fügte Hannah nach einem Zögern hinzu, »könnte man wahrscheinlich schon als Abenteuer bezeichnen. Hoffentlich eins mit Happy-End.«

»Ja, das wünsche ich mir auch«, erwiderte Janne.

Der Himmel hatte sich aufgeklart, und Janne sah vereinzelte Sterne und einen wunderschön großen, fast orangen Halbmond schräg über ihrem Kopf.

»Sieh mal«, wollte sie gerade sagen, doch da wies Hannah bereits mit dem Finger in den Himmel und Janne wusste, dass sie genau das Gleiche sah, und nickte.

»Sogar der Regen hat aufgehört«, bemerkte Hannah. »Und so ein schöner Mond. Bestimmt wird alles andere jetzt auch noch gut.«

Janne fragte nicht nach, was Hannah damit meinte.

Als das Licht in der Diele von Jannes Haus aufleuchtete, blühte Hannah auf. »Wow.« Sie blieb mitten im Flur stehen und sah sich um. Janne hatte die Tür zum Wohnzimmer offen gelassen, und mit einem »Darf ich mich hier umsehen« verschwand Hannah darin.

Janne folgte ihr. »Ja, also, das ist mein Wohnzimmer.«

Hannah nickte. »Das ist toll, so riesig irgendwie und mit so vielen Fenstern«, staunte sie.

»Ja, wenn die Sonne scheint, dann wandert sie von morgens bis abends durchs Zimmer«, lachte Janne.

»Ist das ein Kamin?«, fragte Hannah, und als Janne bestätigte, fügte sie leise hinzu: »So einen haben wir zu Hause auch.« Sie sah traurig aus.

»Magst du Kaminfeuer?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, ich mag kein Feuer«, flüsterte sie und sah zu Boden.

»Wenn du müde bist«, versuchte Janne sie abzulenken, »kann ich dir das Zimmer zeigen, das ich für Gäste eingerichtet habe. Da kannst du auch deine Sachen erst mal lassen.«

Hannah folgte ihr und strahlte wieder, als sie das Zimmer sah. »Es ist wirklich super hier. So gemütlich und bunt. Und deine Fußböden sind auch so schön. Wirklich megaklasse.«

»Hast du Lust, das ganze Haus zu sehen?«, fragte Janne, und Hannah nickte begeistert.

»Dann komm mal mit nach oben.«

Bereitwillig folgte ihr Hannah die kleine hölzerne Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock. Janne ließ sie einen Blick in jedes Zimmer werfen.

»Das ist das Zimmer von meiner Freundin Noa«, erklärte sie, und Hannah blieb im Türrahmen stehen, ohne dass Janne etwas sagen musste. Sie schien ein gutes Gespür für Grenzen zu haben.

»Schön«, sagte sie, und dann: »Was ist denn das für ein besonderer Kerzenständer? Der kommt mir irgendwie bekannt vor.«

»Das ist eine Menora«, erklärte Janne. »Es ist tatsächlich ein besonderer Leuchter. Viele Juden stellen ihn sich in ihre Wohnung. Er ist ein wichtiges Symbol, das an den Tempel erinnert.«

»Aha«, meinte Hannah und zog die Stirn ein wenig kraus.

»Die beiden anderen Zimmer sind meine«, setzte Janne ihre Führung fort.

Begeistert stürzte sich Hannah auf einen riesigen Futon, auf dem sich Jannes 43 Kuscheltiere tummelten. »Darf ich?«, versicherte sie sich mit leuchtenden Augen, bevor sie jedes einzeln in die Hand nahm. Dann schüttelte sie den Kopf. »So ’ne Erwachsene wie du ist mir echt in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Sind das alles deine?«

Janne setzte sich zu Hannah aufs Bett. »Ja, sie haben alle einen Namen und eine eigene Geschichte natürlich auch. Ich liebe Kuscheltiere«, fügte sie hinzu.

»Das ist nicht zu übersehen«, grinste Hannah und sah sich weiter im Zimmer um. »Wow. Das ist ja abgefahren.« Sie pfiff durch die Zähne, und Janne folgte ihrem Blick. Hannah hatte ihren kleinen Strand entdeckt. In einer Ecke füllte eine dicke Schicht Meeressand den Holzfußboden.

Hannah hockte sich vor die Sandecke. Ganz vorsichtig berührte sie die Muscheln, Steine und Murmeln, die Janne in wechselnden Mustern in den Sand gelegt hatte. Hannah veränderte nichts, berührte nur alles vorsichtig.

»Gefällt es dir?«, fragte Janne und Hannah nickte.

»Ja, es ist toll bei dir«, sagte sie nach einer Weile. »Hast du alles selbst gemacht hier?«

»Ja, ich habe alles selbst renoviert, aber der Vermieter hat das meiste vom Material bezahlt. Er ist echt in Ordnung.«

»Ich baue mir später selbst ein Haus. Mit ganz vielen verschiedenen Zimmern. Eins aus tausenden von Flaschen, so wie ich es in einem Architekturbuch aus Amerika gesehen habe.«

»Du interessierst dich für Architektur?« Dieses Mädchen erstaunte Janne.

»Ja, meinst du vielleicht, ich will mal Friseuse werden? Oder Arzthelferin, Krankenschwester oder Kellnerin? Nee, vielen Dank auch.« Hannah warf Janne einen wütenden Blick zu.

»Viele Mädchen kommen gar nicht auf die Idee, etwas Handwerkliches zu lernen oder etwas zu studieren, was als untypisch für Mädchen gilt«, verteidigte sich Janne.

»Ja, ja, ich weiß. Aber ich bin eben nicht so wie andere Mädchen.«

Hannahs Augen waren bei den letzten Worten sehr dunkel geworden. Ihr Gesicht wirkte schmaler, fast eckig, und Janne stutzte. War das noch das gleiche Mädchen, das sich vorhin auf die Kuscheltiere gestürzt hatte?

»Und? Was gibt es noch zu sehen in deinem tollen Haus?« Fast kampflustig sprang die Jugendliche auf die Füße, und Janne sah sie verunsichert an.

»Hannah, wir können auch einfach runtergehen, und ich mach uns was zu essen.« Janne spielte nervös mit einem Stift, der auf ihrem Schreibtisch lag.

»Nee, wieso, ist doch nett, so ’ne Hausführung. Hab nix dagegen und auch grad eh nichts Besseres zu tun.«

Die Ironie in den Worten entging Janne nicht, aber sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie beschloss, sie einfach zu überhören. »Okay, dann komm. Ist sowieso nur noch ein Zimmer«, sagte sie.

Als Janne ihr das Schlafzimmer zeigte, musste Hannah lachen. »Das ist ja wie im Frauenbuchladen hier«, stellte sie fest, und Janne wunderte sich, dass sie jetzt wieder so wirkte wie vorher. Irritiert schüttelte sie innerlich den Kopf. Was für ein seltsames Mädchen!

»Na ja, ganz so viele Bücher habe ich leider nicht, aber das schaffe ich bestimmt noch. Und meine Auswahl ist auch etwas anders. Denn ich mag einige Schriftsteller gern, die du bei uns im Laden nicht findest, weil es Männer sind.« Was war da eben so plötzlich in das Mädchen gefahren und hatte sich genauso schnell wieder in Luft aufgelöst?

»Ach ja, stimmt«, erwiderte Hannah und sah sich die Bücher in den deckenhohen Regalen an. »Puh«, war alles, was ihr dazu einfiel.

»Ich werde uns jetzt mal was kochen«, schlug Janne vor. »Du kannst gern mitkommen in die Küche.«

»Ich glaube, ich krame noch ein bisschen in meinen neuen Schätzen rum und komm dann nach.«

Nach kurzem Überlegen beschloss Janne, dass Spaghetti mit Tomaten-Käse-Sahnesoße und ein Salat genau das Richtige für den heutigen Abend wären, und machte sich an die Arbeit.

Als sie das Nudelwasser abschüttete, hörte sie Hannah in die Küche kommen. Der Tisch war bereits gedeckt und in der Mitte brannte eine Kerze.

»Schön«, sagte Hannah, und nachdem sie sich gesetzt hatte: »Danke, das alles ist echt total toll.«

Janne setzte sich zu Hannah an den runden Küchentisch. »Hier ist Selbstbedienung. Nimm dir einfach von allem, so viel du magst.«

Als Hannah sich Saft eingießen wollte, stieß sie mit der Hand ihr Glas um, und der Saft lief quer über den Tisch und tropfte auf der anderen Seite auf den Boden. Hannah schrie auf und duckte sich. Sie sah entsetzt aus und völlig verängstigt. Janne wollte sie beruhigen, doch Hannah wich vor ihrer Stimme zurück. Ihre Bewegung dabei war so heftig, dass sie beim Aufspringen fast ihren Teller vom Tisch riss. Janne sah sie erschrocken an, und Hannah wich weiter in Richtung Tür aus, die Hände wie zum Kampf geballt und schützend vor den Kopf gehoben.

»Hannah, bitte. Hab keine Angst. Das ist überhaupt nicht schlimm. Ich hole einfach einen Lappen und wische das auf. Ich würde dir niemals etwas tun. Wirklich, Hannah, es ist überhaupt nicht schlimm. Es ist doch nur Saft.«

Hannah blieb regungslos stehen. Janne konnte nicht erkennen, was in ihr vorging. Ihr Gesicht hatte sich völlig verändert. Die Augen waren zu Schlitzen verengt. Sie wirkte um einige Jahre älter, und als sie sprach, klang ihre Stimme sehr hart und sehr tief.

»Und, was haben Sie jetzt mit mir vor? Was soll das Ganze hier? Wie lange werden Sie noch nett und freundlich zu mir sein? Und was haben Sie wirklich vor?«

Bevor Janne antworten konnte, stieß das Mädchen, das da vor ihr stand und das sie kaum wiedererkannte, hervor: »Sie werden mich nicht kriegen. Niemand wird mich je wieder kriegen. Nein.«

Janne beobachtete Hannah. Was war hier los? Was war gerade geschehen? Wovor hatte Hannah eine solch wahnsinnige Angst? Was sollte sie nur tun? Janne besann sich und sagte ganz ruhig: »Hannah, die Tür nach draußen ist gleich da vorne durch die Diele links. Sie ist niemals abgeschlossen. Wenn ich abschließe, dann steckt der Schlüssel immer von innen. Du kannst einfach gehen. Ich will dir nichts tun.«

Janne konnte an Hannahs Gesicht nicht ablesen, wie ihre Worte gewirkt hatten. Wenn Hannah jetzt weglief, konnte sie sie nicht zurückhalten, und sie wusste, dass sie genau das auch nicht versuchen durfte.

Nein, Hannah hatte ihr nicht vertraut. Keinen Augenblick. Sie hatte das alles nur für einen Trick gehalten, um sie zu locken und dann zu verletzen.

Mein Gott, was haben sie ihr nur angetan, fragte sich Janne zutiefst erschrocken, während sie einander unverwandt ansahen. Janne konnte nicht sagen, wie lange. Es kam ihr vor wie viele endlos lange Minuten, in denen es zwischen ihnen so still war, dass das Knistern der Kerze fast wie ein Knall in die gespannte Lautlosigkeit fuhr. Janne wurde immer ruhiger in diesen Minuten, auch wenn sie nicht wagte, sich zu bewegen.

 

Plötzlich setzte sich Hannah auf den Boden und fing leise an zu schluchzen. Das Weinen schüttelte ihren ganzen Oberkörper, obwohl es kaum zu hören war.

Jannes Blick fiel auf ihren kleinen blauen Drachen auf dem Fensterbrett und sie riskierte es, sich ein wenig vorzubeugen, um ihn sich zu angeln. Es war eine Handspielpuppe aus weichem Nickistoff mit einem fröhlichen, frechen Gesicht und einem weit aufgesperrten lachenden Mund.

Mit dem Drachen im Arm ließ sich Janne vorsichtig auf den Boden gleiten. Hannah rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und doch wusste Janne instinktiv, dass sie genau beobachtet wurde. Sie ließ ihre linke Hand in die Handpuppe hineinschlüpfen und bewegte den lachenden Mund auf und zu.

Liebes Tagebuch
Sonntag, 11. September 1994

Jetzt versuche ich schon bestimmt zwei Stunden lang einzuschlafen, aber es gelingt mir einfach nicht. Und ich muss doch morgen eine Mathe-Arbeit schreiben!

Manchmal habe ich richtig Angst vor der Schule. In Mathe bin ich wirklich nicht gut. Ich verstehe ganz oft die Aufgaben nicht. Komischerweise schreibe ich dann trotzdem oft eine Eins. Die anderen in der Klasse denken, das ist ein blöder Trick von mir und dass ich in Wirklichkeit bloß nicht zugeben will, dass ich eine Streberin bin.

Vielleicht haben sie ja Recht und ich bin schon dermaßen unehrlich und verlogen, dass ich nicht mal vor mir selbst zugeben kann, dass ich sehr wohl alles in Mathe und auch in den anderen Fächern kapiere.

Die einzigen Fächer, die ich wirklich liebe und wo ich auch weiß, dass ich darin gut bin, sind Deutsch und Geschichte.

Ach, gerade fällt mir wieder ein, dass ich ja ein Tagebuch an dich, Klara, schreiben wollte.

Ach Klara, mit dem Tagebuchschreiben ist es viel, viel schwerer, als ich mir vorgestellt hatte. Ich habe vorhin gesehen, dass ich über zwei Monate gar nichts hier reingeschrieben habe, und wenn ich versuche, dir zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert ist, dann fällt mir überhaupt nichts mehr ein.

Na ja, ich bin auf jeden Fall versetzt worden in die neunte Klasse. Und mein Klassenlehrer meint, dass ich locker das Abitur schaffen würde. Ich glaube manchmal, er ist der Einzige, der eine hohe Meinung von mir hat.

Gestern habe ich mich ganz schrecklich mit Mama gestritten. Ich bin total ausgerastet, obwohl ich gar nicht mehr weiß, warum eigentlich.

Und ich habe sie richtig angeschrien. Am Schluss hat sie sogar geweint und gesagt, dass sie sich von mir nicht länger fertig machen lässt, dass ich sie noch ins Grab bringen würde und dass ich mal warten soll, bis Papa nach Hause kommt. Ich habe ihr gesagt, dass es mir Leid tut, und es tut mir auch wirklich Leid, aber Mama wollte davon nichts wissen. Sie meinte, mit mir würde es noch mal ein schlimmes Ende nehmen und sie hätte es langsam aufgegeben, aus mir einen anständigen und ehrlichen Menschen machen zu wollen. Sie schlug mir vor, in eine Besserungsanstalt zu gehen, ein Heim für Schwererziehbare. Sie meinte, wenn ich ihr gegenüber noch einmal ausfallend würde, dann würde sie mich schon an den richtigen Ort bringen, und dass sie das mit Papa besprechen wird, sobald er nach Hause kommt.

Als ich dann in meinem Zimmer saß, sah ich plötzlich, dass mein Kleid da unten voller Blut war, und ich bekam schreckliche Bauchkrämpfe. So schlimm, dass ich dachte, ich sterbe gleich.

Heute Nacht war wieder mal die Hölle los. Um Mitternacht kam Papa mit der schwarzen Luxuslimousine nach Hause. Da wusste ich natürlich gleich, was die Uhr geschlagen hat! Oh, Mann, wie ich die hasse. Aber irgendwas war anders als sonst, wenn mich Papa spätabends abholt und ich mit ihm dann zur Burg fahre.

Mama war so freundlich. Echt richtig unheimlich. So wie sie sonst nie zu mir ist. Vor allem nicht, wenn’s draußen dunkel ist. Sie hat mich in die Badewanne gesteckt und mich mit Duftöl gebadet. Ich dachte, jetzt ist sie völlig durchgeknallt. Also, das geht doch wohl echt zu weit. Dann hat sie mich regelrecht bestochen. Mit Cola. Ich dachte, ich glaub’s nicht. Plötzlich darf ich Cola trinken? Naja, okay, dachte ich mir, was soll’s. Sitz ich halt dumm rum in der Badewanne und trink dafür ne coole Cola. Der Deal ist schon okay, irgendwie.

Na ja, und wie ich da so sitze in der Wanne und mich langsam an den Gestank gewöhne, wird mir plötzlich total anders. Ganz dumpf im Kopf und ich kann meine Arme und Beine überhaupt nicht mehr bewegen.

Und meine Mutter sieht original aus wie ein Zombie. Und sie sagt immer: Sunny, Sunny – echt völlig bescheuert und ihre Stimme hallt so komisch in meinem Kopf.

Wisst ihr was? Die hat mir irgendwas ins Glas getan. Echt jede Wette!

Du, Klara, stell dir vor, ich weiß nicht mal mehr, was wir in den großen Ferien gemacht haben. Ich zermarter mir schon seit bestimmt einer halben Stunde das Hirn, aber es fällt mir nicht ein.

Das ist vielleicht komisch. Ich sitze seit einer halben Stunde vor dem Tagebuch und es fällt mir immer weniger ein, was ich dir schreiben könnte. Mit der Angst vor der Mathe-Arbeit, das habe ich ja schon geschrieben. Und morgen wird die Arbeit bestimmt wieder erste Klasse, obwohl ich überhaupt nicht das Gefühl habe, dass ich etwas von Algebra verstanden habe.

Ich wollte dir noch ein Geheimnis anvertrauen. Etwas, was ich mit niemandem besprechen kann. Ich glaube, weil ich mich viel zu sehr deswegen schäme.

Also gut, ich traue mich jetzt. Aber bitte versprich mir, dass du mich nicht auslachen wirst und mir auch trotzdem weiter zuhörst, auch wenn das wirklich irre klingt und ich selbst auch schon das Gefühl habe, wirklich verrückt zu sein. Okay?

Also – manchmal, wenn ich spazieren gehe und ganz alleine bin, dann höre ich plötzlich Stimmen. Obwohl da überhaupt niemand anderes ist. Die unterhalten sich richtig und lachen auch und manchmal schreien sie, und wenn ich mich umdrehe, dann ist niemand da. Aber ich, ich höre sie ganz deutlich. Irgendwo drin in mir, und manchmal reden die auch laut. Hört sich dann an wie Selbstgespräche. Ich habe Mama übrigens schon öfter heimlich dabei belauscht, wie die auch mit sich selbst gesprochen hat. Das klingt richtig gruselig. Die hat dann auch verschiedene Stimmen.

Mein Herz rast, wenn ich dir das schreibe. Ich habe das Gefühl, dass es total verboten ist, was ich schreibe.

Sollte Mama das Tagebuch jemals finden, bringt sie mich mit Sicherheit um. Glaubst du, ich habe das von Mama geerbt? Dieses zwanghafte Selbstgesprächeführen? Dabei wollte ich nie so werden wie Mama. Das ist für mich der größte Horror. Obwohl ich dir gar nicht sagen kann wieso. Oder was ich an Mama eigentlich so schrecklich finde.

Ich will nicht so leben wie sie. Das weiß ich auf jeden Fall.

Sie hat irgendwie immer eine Maske auf, wenn sie mit anderen Leuten zu tun hat. Ich habe das Gefühl, Mama ist so gut wie nie sie selbst. Sie spielt dauernd irgendwelche Rollen. Die tolle Ehefrau, die tolle Mutter, die tolle Erzieherin. Nie weiß ich, was Mama wirklich denkt. Wer sie wirklich ist.

Und ich finde es auch schrecklich, dass sie mich nie in den Arm nimmt, mich nie tröstet, mich nie fragt, wie es mir geht. Irgendwie scheint sie überhaupt nicht davon auszugehen, dass es mir überhaupt mal irgendwie geht. Sie fragt mich nicht nach der Schule, nicht nach Freundschaften, außer nach Jungs. Danach fragt sie mich dauernd. Ich muss ihr haarklein erzählen, was ich mit den Jungen in der Klasse rede und mit ihnen zusammen mache, und am Schluss glaubt sie mir sowieso kein Wort und schreit mich nur an.

Komisch, Mama denkt, ich bin eine Hure. Das hat sie selbst gesagt.

Oh Gott, Klara, warum denkt Mama so schreckliche Sachen über mich? Dabei will ich doch nur, dass Mama mich lieb hat. Was mache ich denn nur so schrecklich falsch, dass sie so von mir denkt?

Ich würde niemals mit einem Jungen ins Bett gehen oder so was. Bestimmt nicht, Klara! Ich hoffe, du glaubst mir das.

Warum nur glaubt Mama mir nicht?

Ich versuche so oft, ihr zu helfen und sie zu verstehen, aber zwischen uns liegt ein riesiger Graben, den ich nicht überwinden kann.

Ich möchte noch immer ganz oft sterben! Zur Kirche gehe ich aber jetzt nicht mehr. Ich trau mich auch nicht mehr, mit welchen in der Klasse darüber zu reden, nachdem ich Anne gefragt habe, ob sie auch so oft an den Tod denkt. Erst hat die mich angeguckt, als hätte sie einen Marsmenschen vor sich, und dann hatte sie nichts Besseres zu tun als das gleich Frau Liesban weiterzupetzen, und die hat dann mit mir ein Gespräch gemacht, weil sie doch Vertrauenslehrerin ist.

Dabei hat der Pfarrer doch gesagt, alle Jugendlichen denken in meinem Alter an Selbstmord! Ich habe Frau Liesban natürlich nix erzählt. Die denkt am Schluss doch nur, dass ich verrückt bin und in die Klapse gehöre, nur weil ich sterben will wegen Mama und weil Mama mich niemals lieben wird.

Ach Klara, was soll ich nur tun? Ich verstehe mich selbst immer weniger und es gibt keinen Menschen, mit dem ich über mich reden könnte.

Ich bin wirklich total verzweifelt und fühle mich schrecklich allein. Ich glaube, der Pfarrer hat gelogen. Der wollte wahrscheinlich einfach nichts hören von meinen Gedanken und Gefühlen. Na ja, kann man ja verstehen. Aber er hätte trotzdem nicht so tun müssen, als sei das ganz normal mit dem, was ich denke.

Warum bin ich nur so geworden, Klara? So verkorkst und so. Depressiv, meinte Frau Liesban. Ich würde depressiv auf sie wirken, und dann fragte sie, ob ich Probleme zu Hause hätte.

Na, die hat vielleicht Nerven! Probleme zu Hause. Mit ihrem Chef womöglich. Das vergessen die Pauker hier immer so gerne. Dass good old Daddy schließlich der Schuldirektor ist. Ich kann das jedenfalls nicht vergessen. Tut mir Leid. Auch wenn ich Paps an sich ganz in Ordnung finde, so weiß ich doch andererseits schon längst, dass er zu Mädchen alles andere als nett ist. Aber das würde mir an dieser Schule sowieso niemand glauben. Also wieso fragt die blöde Lehrerin uns überhaupt, wenn sie die Antwort doch sowieso nicht hören will?

Und wie ich mit ihr über meine nächtlichen Abenteuer reden soll – das ist mir das absolute Rätsel überhaupt!

Siehst du, Klara, jetzt hab ich schon wieder die ersten Flecken in meinem neuen Tagebuch. Ich bin doch wirklich ein hoffnungsloser Fall. Bitte, verzeih mir! Ich habe gerade auf die Uhr geguckt. Ich muss unbedingt schlafen. Aber ich verspreche dir, dass ich jetzt öfter in das Buch hier schreibe, weil das toll ist und ich mich jedes Mal nach dem Schreiben richtig gut fühle. Es war übrigens eine gute Idee von dir mit dem Schulbuch. Ich glaube, es ist die perfekte Tarnung.

Komisch, wer kommt denn da die Treppe rauf mitten in der Nacht? Oh Gott, Mama …

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