Hannah und die Anderen

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»Du, Janne, habt ihr vielleicht zufällig auch eine Dusche?«

»Ja, zufällig ist eine Dusche im kleinen Bad neben der Küche. Brauchst du sonst noch irgendwas?«

Hannah schüttelte den Kopf, trug die neuen Anziehsachen wie einen Schatz ins Bad und duschte fast eine halbe Stunde lang heiß. Sie fand Shampoo und Duschgel und mehrere große, warme, bunte Frottehandtücher, und ihre Laune besserte sich mit jeder Minute, die sie in dem Laden verbrachte. Die neuen Sachen passten ihr eigentlich ganz gut.

Gut, dass Janne so klein ist, dachte sie und verteilte ihre nassen Sachen auf den verschiedenen Heizkörpern im Laden. Ihre kurzen Haare trockneten schnell. Hannah hatte plötzlich das Gefühl, unendlich viel Zeit zu haben. Sie setzte den Wasserkocher erneut auf, weil das Wasser für den Kaffee mittlerweile nur noch lauwarm war, sang, ohne es zu merken, eine Melodie vor sich hin und bot Janne schließlich einen frisch aufgebrühten Kaffee an.

»Die Sachen stehen dir echt gut«, sagte Janne bewundernd. »Ich mach übrigens in einer halben Stunde den Laden zu.« Prüfend sah sie Hannah an. »Wenn du willst, kannst du deine Sachen über Nacht hier lassen. Morgen sind sie bestimmt trocken, dann kannst du sie wieder abholen.«

Hannah erschrak. Daran hatte sie überhaupt nicht gedacht. Dass der Laden schließen könnte. Dass Janne bestimmt was Besseres zu tun hatte, als sich den Rest ihres Lebens mit ihr zu unterhalten.

Scheiße, was mach ich denn jetzt?, überlegte sie fieberhaft. Hannah war den Tränen nah, schluckte sie aber verbissen hinunter. Mir wird schon was einfallen, und fast trotzig sah sie Janne an.

Janne beobachtete Hannah und räusperte sich. »Du, darf ich dich mal was fragen?«

Hannah ließ sich nicht anmerken, ob sie damit einverstanden war. Sie fühlte sich in absoluter Hochspannung und unmittelbar bedroht. Als sie Janne nur schweigend anstarrte, fuhr Janne fort.

»Ich habe den Eindruck, als wäre es vielleicht eine gute Idee, im Mädchenhaus anzurufen. Wenn du das willst, dann kannst du das Telefon da vorne benutzen. Du kannst auch mein Handy haben und in der Küche telefonieren, wenn du lieber deine Ruhe haben willst.«

»Wieso soll ich da anrufen?«, fragte Hannah und fühlte sich elend. Ihre Panik stieg.

»Ich dachte, falls du nicht weißt wohin, wäre das vielleicht ein guter Ort.« Janne sah sie unsicher an. »Ich … es war nur so ein Gefühl. Als ob du im Moment keinen Ort hättest, wo du hinkannst.« Und weil Hannah immer noch nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Ich kann mich ja auch irren.«

Hannah hörte wieder diesen Knall. Und spürte den Sargdeckel, der sich über ihr schloss.

Jemand sprang auf. Jemand, der nicht mehr Hannah war. Jemand, der ziemlich wütend war. Nur wütend und sonst gar nichts. Ihre Augen funkelten.

»Ach, was wissen Sie denn schon«, schrie sie. »Was soll ich denen denn erzählen? Meinen Sie vielleicht, mir glaubt jemand auch nur ein einziges Wort? Mir hat noch nie irgendjemand irgendwas geglaubt. Und Sie, Sie wollen mich doch auch bloß so schnell wie möglich wieder loswerden. Ich … ich kann denen nix erzählen. Ich … ich weiß einfach nichts … Ich kann nicht so tolle Worte machen wie Sie. Ich …«

Dezember brach ab. Wieso stand sie in diesem komischen Zimmer einer wildfremden Frau gegenüber? Was war jetzt bloß wieder passiert? Und wieso fragte die sie aus? War das etwa wieder so eine vom Jugendamt? Sie zitterte. In ihrer Wut hatte sie einen Stuhl umgerissen, der direkt hinter ihr stand. Tränen rannen ihr die Wangen hinunter, sie schmeckten salzig. Mit den Augen suchte sie die Tür. Ihr fiel ein, dass sie bestimmt eine Jacke getragen hatte und dass die noch irgendwo sein musste. Scheiße. Und so was wie einen Rucksack oder eine Tasche hatten sie normalerweise auch immer bei sich. Aber das war eigentlich auch egal. Die Frau sah ziemlich erschrocken aus. Sie war ebenfalls aufgesprungen. Ihre Stimme klang laut.

»Du brauchst keine tollen Worte, verdammt. Du sagst denen einfach, dass du da hinwillst. Das ist alles, was du tun musst. Du musst nix beweisen. Dein Gefühl reicht. Wenn du nicht nach Hause willst, dann hast du das Recht, dorthin zu gehen.«

Die Frau setzte sich wieder. Dezember hob den Stuhl auf und stellte ihn an die gleiche Stelle zurück. Sie sah sich in dem Zimmer um, als suche sie nach einem Halt oder einem Wort.

»Da ist niemand«, hörte sie sich sagen und fühlte sich plötzlich sehr klein.

Die Frau sah Dezember einen Moment lang an. Dann sagte sie: »Im Mädchenhaus ist immer jemand, sie sind Tag und Nacht da.«

»Nein. Das stimmt nicht. Jemand von uns hat schon angerufen und es war niemand da.« Sie verstummte entsetzt. Oh nein, dass hätte sie niemals, niemals sagen dürfen. Das hätte ihr nicht herausrutschen dürfen. Sie hatte sich verraten.

Dezember wurde schlagartig schlecht und sie hielt sich krampfhaft an der Stuhllehne fest.

Gut, jetzt hatte sie es also gesagt. Jetzt würde die Frau sie bestimmt rausschmeißen, sie anschreien oder vielleicht sogar … Dezember duckte sich.

»Hey«, hörte die Stimme der Frau, »es tut mir Leid, dass du nicht sofort jemanden erreicht hast. Stimmt, manchmal unternehmen die Frauen etwas mit den Mädchen und sind dann nicht da. Oder sie sprechen gerade mit einem Mädchen und wollen nicht unterbrochen werden. Aber sie sind dann nie lange weg und man kann später noch einmal anrufen.«

»Aber ich soll eine Nummer sagen, wo die mich erreichen können. Ich habe aber keine.« Dezember schwieg.

»Wir könnten zusammen den Laden aufräumen und vorher rufst du im Mädchenhaus an und hinterlässt die Nummer hier. Und wir bleiben so lange hier, bis dich jemand zurückruft. Was hältst du von der Idee?«

Dezember war plötzlich unendlich müde. Sie konnte überhaupt nicht mehr denken. Immer noch drehte sich alles, und ihr wurde noch übler. Sie hörte tausend Stimmen in ihrem Kopf, die ihr unterschiedliche Sachen sagten. Welche, die unglaublich wütend waren. Andere, die einfach lachten, sie auslachten.

»Ich kann nicht mehr«, sagte Dezember und ließ sich auf den Boden fallen.

Liebes Tagebuch
Donnerstag, den 2. Juni 1994

Tante Lore hat mir heute zum Geburtstag ein Buch mit leeren Seiten geschenkt. Tante Lore ist – glaube ich – die einzige Tante, die ich richtig gerne mag aus meiner ganzen Verwandtschaft. Sie hat gesagt, ich könnte es als Tagebuch benutzen oder um Gedichte darin aufzuschreiben. Dass Tante Lore überhaupt weiß, dass ich Gedichte schreibe! Das Wichtigste ist wahrscheinlich, dass ich das Tagebuch sehr gut verstecke, damit Mama es nicht findet.

Denn sie würde bestimmt alles lesen. Meine Post macht sie ja schließlich auch einfach auf. Sie meint, Briefgeheimnis gilt nicht für Kinder, solange sie noch zu Hause wohnen. Und weil sie das Sorgerecht für mich hat – Mama sagt immer ›die elterliche Gewalt‹, so wie das wohl früher mal hieß, tja, solange sie also für mich noch zuständig ist, hätte sie das Recht, alles zu lesen und zu kontrollieren, was für mich ist oder von mir kommt.

Klar, bei ihrer Paranoia, dass ich sowieso bloß lüge. Woher sie das wohl weiß?

Ich jedenfalls finde es echt gefährlich, hier mal eben so locker ein Tagebuch zu führen. Denn was wirklich zu Hause passiert, sollte man hier wohl lieber nicht reinschreiben. Na, kann mir ja egal sein. Meine Meinung interessiert dich ja sowieso nicht.

Jetzt kaue ich schon die ganze Zeit auf meinem Stift herum – eine sehr schlechte Angewohnheit, sagt Papa. Ich glaube, da hat er wohl Recht. Eigentlich war es wohl ein ganz schöner Geburtstag. Ich weiß gar nicht, wieso ich mich trotzdem so allein fühle. So einsam.

Der Blick aus dem Fenster bedeutet Einsamkeit

keine Spur im Sand

die zu mir führt

niemand, der mich erreicht, der mich versteht

niemand, der begreift, was ich selbst nicht begreifen kann

ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich nicht Hannelore heiß

Hannelore ist echt ein bescheuerter Name. Ich würde viel, viel lieber, na ja, vielleicht nicht gerade Rumpelstilzchen heißen, aber auf jeden Fall nicht so. Miriam zum Beispiel, das ist ein Name, der mir gut gefällt. Eigentlich, finde ich auch, heiße ich schon immer so. Wie diese tolle Schriftstellerin, die so viele Bücher übersetzt hat und auch selber tolle Bücher schreibt. Ich möchte gerne noch mindestens zwei andere Sprachen lernen. Leider kann ich die ja nur in der Bibliothek lesen, aber diese Miriam Pressler finde ich einfach klasse. Sie schreibt und übersetzt, finde ich, wirklich wichtige Bücher. Ich weiß ja, dass ich nicht so bin wie sie, aber vielleicht kann ich es mal werden, wenn ich erwachsen bin.

Da fällt mir ein, so ein Tagebuch, das müsste sich an irgendjemanden wenden. Ich muss alles jemandem erzählen können. Jemandem, der mich versteht. Jemand, der ein bisschen so ist wie meine Tante Lore, nach der ich ja immerhin benannt sein soll.

Oh ja, ich weiß. Ich werde mir einfach jemanden vorstellen, so wie es Anne Frank in ihrem Tagebuch gemacht hat. Und sie soll älter sein als ich. Schon erwachsen, aber nicht steinalt. Neunzehn vielleicht. Und sie heißt Klara, weil sie so viel Klarheit hat und mir immer helfen und mich trösten kann, wenn ich nicht mehr weiterweiß.

Okay, also dann fange ich jetzt noch mal ganz neu an.

Liebe Klara,

na ja, das habe ich ja schon aufgeschrieben, dass ich heute Geburtstag habe und mir Tante Lore ein Buch geschenkt hat mit leeren Seiten darin.

 

Sag mal, findest du eigentlich auch meine Schrift so zerfahren und unterschiedlich? Manchmal, das gebe ich zu, habe ich echt eine Sauklaue. Ich glaube, das war auf jeden Fall auch ein Grund, wieso ich vorher noch nie überlegt habe, ein Tagebuch zu schreiben. Weil plötzlich meine Schrift richtig schlecht und krakelig wird und dann tausend Tintenkleckse da reinkommen und Fettspritzer und so, und das finde ich echt eklig. Ich habe keine Ahnung, wieso mir das immer passiert. Ich setze mich eigentlich nie mit Fett- oder Schokoladenfingern an meine Hausaufgaben. Trotzdem passiert das ständig. Das ärgert mich total, zudem mir in der Schule die Lehrer nicht glauben – na ja, wie sollten sie auch –, dass ich echt überhaupt nichts dafür kann – komisch, es sind ja meine Hefte? Scheiße, so was verwirrt mich echt. Interessiert dich das eigentlich? Bestimmt gibt es wichtigere Themen als beschmierte Hefte. Ich muss mal kurz nachdenken, was ich dir erzählen könnte.

Also, Fettfinger sind doch nun wirklich nicht so ein tragisches Problem, ich könnte da über ganz andere Sachen berichten, die ich viel schwieriger finde. Meine Alpträume zum Beispiel. Außerdem liebe ich Käsebrot essen oder Schokolade und dann was aufschreiben echt megamäßig. Ehrlich, ich kann mich viel besser konzentrieren, wenn ich gleichzeitig was in den Bauch bekomme! Und ich würde mich wirklich freuen, Miriam, wenn du meine Existenz wenigstens dadurch mal bemerken würdest!

Ich denke zum Beispiel sehr viel darüber nach, dass ich mich so oft schlecht fühle, obwohl, wenn ich dann darüber nachdenke, was an dem Tag so alles passiert ist, dann muss ich doch zu dem Ergebnis kommen, dass es eigentlich ein schöner Tag gewesen ist. Aber ich fühle das einfach nicht. Mama sagt, dass ich vom Leben zu viel erwarte und dass man mich nie zufrieden stellen könne, egal, was auch immer man Tolles für mich tut. Dann kriege ich richtig Schuldgefühle, wenn ich mich so schlecht fühle, und fühle mich noch viel schlechter als vorher sowieso schon. Das ist wie ein Hamsterrad. Manchmal kann ich aus dem überhaupt nicht mehr aussteigen, dann wird es manchmal so schlimm, dass ich am liebsten sterben würde. Oh bitte, Klara, das darfst du niemandem weitersagen. Versprich es mir! Aber natürlich, du bist ja meine Freundin und du hilfst mir ja auch. Auch wenn ich dir nicht genau sagen kann wie, kannst du mir ja vielleicht trotzdem helfen.

Vor zwei Wochen habe ich mal in der Kirche gebeichtet, weil ich mit diesen ganzen schrecklichen Gedanken überhaupt nicht mehr fertig geworden bin. Aber der Pastor meinte, das wäre in meinem Alter ganz normal. Er meinte, ich müsste den Sinn in meinem Leben erst noch finden und alle Jugendlichen würden sich mal eine Zeit lang so schlecht fühlen. Und dass es eine Sünde wäre, an Selbstmord zu denken. Da habe ich dann lieber nichts mehr gesagt. Aber warum, warum fühle ich mich so dreckig und schlecht und nutzlos? Ach Klara, ich will doch lieber bald erwachsen sein. Wenn dann diese Gefühle endlich aufhören. Oh, jetzt fällt mir schon eine erste Hilfe ein. Schreib mir doch bitte auf, wo ich das Buch am sichersten verstecken kann? Ach Mann, ich hab manchmal schon komische Ideen. Na ja, ich hoffe du verzeihst mir. Ich wünschte so sehr, dass es dich wirklich gäbe.

Oh je, ich glaube, Papa ruft mich.

Komisch, ich bekomme dann manchmal richtiges Herzrasen und mir wird ganz schummrig und ich kann gar nicht mehr richtig gucken.

Ich habe schon mal überlegt, ob ich vielleicht eine unheilbare Krankheit im Gehirn habe. Komisch, das will ich auf keinen Fall. Ich glaube, in Wirklichkeit will ich gar nicht sterben, sondern mich einfach nur nicht so schlecht und sinnlos fühlen. Und siehst du, kaum schreibe ich an dich, schon fühle ich mich wieder viel besser.

Oh Gott, Papa ruft schon wieder. Klara, mir ist so schlecht auf einmal …

Sonntag, 5. Juni 1994

Vielleicht als Schulbuch tarnen, eins, wo eine Mutter niemals reinguckt, zum Beispiel Geschichte oder Erdkunde oder Biologie. Gut, oder?

Zu Besuch bei Janne
2. Kapitel, in dem Janne sich erschreckt und eine richtig gute Idee hat

Janne sah erschrocken auf das Mädchen hinunter. Tausend Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.

Scheiße, was mache ich denn jetzt … Wie alt sie wohl ist … Hätte ich doch letzten Herbst bloß diesen Erste-Hilfe-Kurs gemacht … Ich weiß nicht mal, wie sie heißt … Wovor hat sie so eine schreckliche Angst? … Ob sie wohl gesucht wird? … Ich weiß nicht mal, wo sie herkommt … Ich weiß überhaupt gar nichts von ihr … Verdammt, ich muss den Laden abschließen … Ich bin um acht mit Noa verabredet … Noa! Ich kann nicht schon wieder einen Termin verbauen … Ob das Mädchen ohnmächtig ist? … Ich muss irgendwas tun.

Janne versuchte sich zu beruhigen. Ihr Herz raste. Sie sah das Mädchen am Boden liegen und fühlte einen Schmerz, sehr, sehr weit weg … so weit, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte und das Gefühl von Unwirklichkeit sie unwillkürlich zusammenzucken ließ. Sie sah sich selbst mit fünfzehn verzweifelt in ihrem Zimmer hocken und die Wände anstarren. Sie schob die Erinnerung zur Seite. Bloß nicht. Nicht jetzt. Sie beugte sich zu dem Mädchen hinunter und setzte sich dann neben sie auf den Boden.

»Hey, du. Hallo. Bitte, sag doch etwas. Komm, bitte, mach die Augen auf.«

Sie versuchte sich daran zu erinnern, welche Augenfarbe das Mädchen hatte, aber es fiel ihr nicht ein. Sie nahm ihre Hand und suchte hektisch nach ihrem Puls. Dann atmete sie erleichtert auf. Ein regelmäßiges Pochen war deutlich zu fühlen.

Ob Noa schon zu Hause ist?, überlegte sie. Ich würde sie so gerne fragen, was ich machen soll. Noa hat immer gute Ideen, gerade in Krisensituationen. Und mit Mädchen sowieso. Ach, fiel ihr dann ein, ich kann sie überhaupt nicht anrufen. Immerhin arbeitet sie im Mädchenhaus, und wenn ich jetzt eine Mitarbeiterin des Mädchenhauses anriefe, wäre das für die Kleine bestimmt ein Vertrauensbruch. Vielleicht hole ich lieber eine Decke. Im Büro müsste eigentlich eine sein.

»Du, ich hole mal eine Decke für dich. Ich komme sofort zurück, okay?«

Das Mädchen reagierte nicht und Janne stand auf, lief die wenigen Schritte an den Bücherregalen vorbei auf das winzige Büro zu, in dem gerade genug Platz war für einen Computer, einen Stuhl und zwei lange, schmale, bis zur Decke reichende Regale, in denen sich Buchhaltungsordner und Leseexemplare stapelten.

Janne bemerkte, dass sie den Computer noch nicht ausgemacht hatte, und die Hälfte der zu erledigenden Tagespost sprang sie regelrecht vorwurfsvoll an.

»Immer mir muss so was passieren«, seufzte sie. Immer bin ich diejenige, der Hunde zulaufen oder Mädchen, die nicht wissen wohin, oder Migranten, die vor der Hetze durch Rechtsradikale in den Laden flüchten, so wie vor einem halben Jahr Lois. Komisch, dass den anderen so was nie zu passieren scheint. Sie werden mir meine Geschichten bald überhaupt nicht mehr glauben.

Janne seufzte erneut und sah sich stirnrunzelnd in dem kleinen Büro um. Ihr fiel ihre Schulzeit wieder ein. Die Lehrer hatten auch immer geglaubt, sie hätte einfach nur eine sehr ausgeprägte Phantasie und einen besonderen Sinn für die originellsten Ausreden, wenn sie zu spät kam oder mal wieder die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, was zugegebenermaßen ziemlich häufig vorgekommen war …

In der hintersten Büroecke sah Janne die rote Plüschdecke fein säuberlich zusammengefaltet liegen. Sie nahm sie und ging zum Verkaufsraum zurück. Das Mädchen lag immer noch genauso da, und Janne sah mehr als besorgt zu ihr hinunter.

Ich muss sie irgendwie wach kriegen. Ich kann sie unmöglich hier liegen lassen. Sie ist ja regelrecht umgefallen. Vielleicht ist sie krank und ich sollte eine Ärztin rufen.

Ihr fiel ein, dass sie es in alten Filmen immer mit Riechsalz lösten, wenn eine Frau in Ohnmacht gefallen war. Und dass überhaupt in allen Filmen ausschließlich Frauen in Ohnmacht fielen. Natürlich, dachte sie höhnisch.

Sie hatte sich noch nie überlegt, was in diesem Riechsalz genau drin war, und das bereute sie jetzt. Ihre Interessen waren weiß Gott vielfältig, aber Riechsalz hatte bislang nicht dazugehört.

Musik! Das ist es. Ich mach Musik. Irgendwas Lautes, Fetziges. Vielleicht Pur oder so. Das könnte ihr gefallen. Janne deckte das Mädchen zu und strich ihr leicht über die Hand. »Ich helfe dir. Du bist nicht allein. Hab keine Angst. Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«

Hatte sich im Gesicht des Mädchens nicht gerade etwas bewegt? Hatte sie nicht ganz schwach gelächelt? Janne war sich nicht sicher, aber sie redete weiter in der Hoffnung, dass die Jugendliche sie hörte.

»Ich leg mal Pur auf. Kennst du die? Ist echt eine ziemlich coole Gruppe. Ich kenne viele Mädchen, die diese Musik total klasse finden. Eigentlich habe ich sie durch die Mädchen kennen gelernt und jetzt höre ich sie selber ständig.«

Janne hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie wach und würde ihr auf jede Frage ganz selbstverständlich antworten. Und weil sie immer noch das Gefühl hatte, wirklich von dem Mädchen gehört zu werden, sprach sie weiter.

»Ich mache Kurse für Mädchen. Selbstbehauptungskurse nennen sich die. Dort spielen die Mädchen ganz viel und sie lernen zu sagen, was sie selbst wollen, und vor allem, sich gegen das zu wehren, was sie auf gar keinen Fall wollen. Und sie stellen viele Fragen. Eltern sind nämlich oft leider so bescheuert, dass Mädchen die für sie wirklich wichtigen Dinge von ihnen am allerwenigsten erfahren können.«

Janne sah zu ihr hin. Das Mädchen schien eingeschlafen zu sein. So, wie sie jetzt dalag, wirkte es auf Janne nicht mehr beunruhigend.

Vielleicht ist sie nur müde, überlegte sie. Wer weiß, wie lange sie schon unterwegs ist. Vielleicht hat sie seit Ewigkeiten weder geschlafen noch irgendwas gegessen. Und bestimmt hatte sie die ganze Zeit Angst.

Janne hatte in dem Mädchen eine ungeheure Kraft wahrgenommen. Und sie hatte in den vergangenen vielleicht eineinhalb Stunden völlig unterschiedlich auf Janne gewirkt. Trotzig, mutig, kämpferisch, selbstbewusst, klug und humorvoll. Und gleichzeitig auch verzweifelt, ängstlich und sehr verletzt. Misstrauisch und klein. Unglaublich viele Facetten in so kurzer Zeit.

Es ging etwas von ihr aus, das schwer zu beschreiben war. Eine Welle von Energie, die Janne tief berührte, sie ganz wach werden ließ und sehr aufmerksam.

Janne hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht. Schon wie sie mit Marissa zur Tür hereingekommen war und darauf bestanden hatte, dass alles mit ihr in Ordnung sei. Wo es doch offensichtlich alles andere als völlig in Ordnung war, was in dem Leben des Mädchens los sein musste. Diese Jugendliche beeindruckte Janne.

Sie nahm sich vor, ihr zu helfen, zumindest so lange, bis sie an einem guten, sicheren Ort angekommen war, an dem sie sich geborgen fühlen konnte. Und an dem sie sie auch in guten Händen wusste. Bei Frauen, die dafür sorgten, dass sie nicht dahin zurückmusste, von wo sie offensichtlich und aus sicher schwer wiegenden Gründen geflohen war.

Janne stand auf und wandte sich nach links, wo auf einem kleinen Tisch ein CD-Player stand. Sie drehte die Musik laut und setzte sich auf den Stuhl von vorher, ein wenig abseits, damit das Mädchen in Ruhe aufwachen konnte. Sie hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Draußen war es schon eine Weile ziemlich dunkel, aber einige Läden hatten noch offen.

Als Janne gerade beschlossen hatte, sich noch einen Kaffee aufzubrühen und das Mädchen einen Moment sich selbst zu überlassen, bewegte sich der rote Plüschberg. Also blieb sie sitzen und wartete gespannt ab.

Das Mädchen setzte sich auf und sah sich langsam und vorsichtig um. Als sie Janne erblickte, nickte die ihr kurz zu und lächelte.

Das Mädchen schien verwirrt und gleichzeitig darum bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Janne beschloss, als Erste etwas zu sagen.

»Hey, ich heiße Janne und arbeite hier im Buchladen. Du bist wohl vor etwa einer viertel Stunde eingeschlafen. Ich dachte, ich weck dich lieber, denn der Boden ist nicht sehr gemütlich.«

Janne versuchte herauszufinden, wie ihre Worte gewirkt hatten. Der rote Plüschberg schwieg. Die beiden sahen einander an.

»Magst du die Musik?«, fragte Janne und das Mädchen nickte.

»Hm-hm«, murmelte sie zustimmend. »Pur finde ich gut. Die haben echt gute Texte. Jedenfalls viele Texte finde ich klasse.«

 

»Ich wüsste gerne, wie du heißt, damit ich dich mit deinem Namen ansprechen kann.« Janne stutzte einen Moment und fügte dann hinzu: »Wenn du willst, natürlich nur.«

Das Mädchen sah aus dem Fenster in den nachtdunklen Hinterhof. »Zu Hause nennen sie mich Hannelore«, sagte sie dann, ohne sich umzudrehen. »Aber in Wirklichkeit heiße ich Hannah«, fügte sie leise hinzu.

Janne nickte. »Magst du deinen Namen?«

»Ich glaube schon«, antwortete das Mädchen. Sie zögerte einen Moment. »Doch, Hannah ist ein schöner Name, irgendwie.«

»Ich weiß nicht«, fing Janne das Gespräch neu an und fühlte sich unsicher. Sie wollte Hannah nicht zu nahe treten, sie mit ihren Fragen nicht erschrecken. Der Gedanke, dass Hannah fluchtartig den Buchladen verlassen könnte, war für sie mehr als beunruhigend. Hannah sah sie an. Fragend, ein wenig trotzig und mit einer Spur von Geringschätzigkeit.

Bestimmt findet sie mich genauso bescheuert wie alle Erwachsenen, dachte Janne und der Gedanke machte sie traurig.

»Hier den Laden, den wollte ich jetzt abschließen und nach Hause gehen. Ich will dich nicht auf die Straße setzen. Wenn du magst, kannst du erst mal mit mir kommen.« Halb fragend sah Janne sie an.

»Und dann?«, wollte Hannah wissen.

»Dann können wir zusammen überlegen, was du machen willst, und ich könnte dich beraten. Vielleicht«, setzte sie etwas zweifelnd hinzu.

»Wieso willst du das?«

»Weil wir zusammen vielleicht eine gute Idee haben. Falls du nichts Besseres vorhast, könntest du doch einfach erst mal mitkommen und dann weitersehen. Was meinst du?«

»Und du rufst nicht die Bullen an?«

»Nein, ich rufe nicht die Bullen an.«

»Und bei mir zu Hause?«

»Nein, auch dort nicht. Und überhaupt werde ich nichts unternehmen, was du nicht willst. Echt nicht.«

Hannah runzelte die Stirn. »Da wärst du aber die erste Erwachsene, die das wirklich nicht macht.«

»Na, und?« Janne grinste. »Kennst du vielleicht Erwachsene, die Pur gut finden?«

»Okay. Eins zu null für dich«, stimmte Hannah anerkennend zu und Janne spürte, dass sie ihr ein wenig vertraute.

Die Abschlussarbeiten, die notwendig waren, um den Laden verlassen zu können, nahmen jeden Tag etwa eine halbe Stunde in Anspruch. Hannah hatte sich aus einem der Regale ein Jugendbuch ausgesucht, in das sie sich vertiefte, während Janne zügig und konzentriert die letzten Arbeiten erledigte. Ihr fiel wieder ein, dass sie mit Noa verabredet war.

Gut, dass sie einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Dann kommt sie auf jeden Fall rein, falls ich erst nach acht mit Hannah nach Hause komme. Dann dachte sie: Oh, vielleicht ist das keine so gute Idee, dass Noa einfach so bei mir auftaucht. Vielleicht macht es Hannah Angst. Auch, überlegte sie weiter, weil sie im Mädchenhaus arbeitet, und möglicherweise denkt Hannah dann noch, ich hätte heimlich im Mädchenhaus angerufen.

Janne spürte, wie schnell das hauchdünne Vertrauen, das Hannah ihr entgegenbrachte, zerstört werden konnte. Durch ihre Arbeit als Selbstverteidigungstrainerin wusste sie, wie wichtig es war, auf gar keinen Fall etwas gegen den Willen eines Mädchens zu unternehmen. Ganz egal, wie sinnvoll ihr ihre Ideen vorkommen mochten.

Dass Menschen gegen Hannahs Willen über sie bestimmt hatten, ihr Gewalt angetan hatten oder Schlimmeres, um dann auch noch zu behaupten, es sei nur zu ihrem Besten, das hatte sie zu Hause mit Sicherheit schon zur Genüge erlebt.

Dass es bei Hannah um Schlimmeres ging, dessen war sich Janne sicher.

Wahrscheinlich hat niemand ihre Situation erkannt oder ihre Hilferufe ernst genommen. Wer weiß, Erwachsene haben gerade in dieser Hinsicht oft erstaunliche Bretter vorm Kopf, grübelte Janne.

Sie würde Noa anrufen und ihr erklären, dass sie sich später noch einmal melden würde. Noa würde das schon verstehen.

»Du, Hannah?« Janne ging zu dem kleinen Lesetisch, an dem das Mädchen saß und um sich herum alles vergessen zu haben schien. Hannah fuhr unwillkürlich auf.

»Oh, Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will kurz eine Freundin anrufen, die mich heute Abend besuchen wollte, und ihr absagen. Weil ja heute du schon mein Besuch bist.«

Hannah sah erstaunt aus und auch ein wenig stolz. »Ja?«, fragte sie. »Bin ich dein Besuch?«

Janne lachte und bestätigte das, und Hannah strahlte über das ganze Gesicht.

»Okay, Hannah, ich rufe dann also mal kurz an.«

Sie wandte sich dem Telefon zu und warf dabei einen Blick auf den kleinen Wecker, der direkt zwischen dem Telefon, den Notizzetteln und der Stiftbox stand. Es war schon halb acht.

Noa war sicher noch zu Hause. Der Weg von ihr zu Jannes Wohnung betrug nur etwas mehr als einen Kilometer. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. Noa besprach ihren AB grundsätzlich zweisprachig, weil sie viele Leute kannte, die nur Englisch verstanden. Leider dauerte es deswegen immer ewig, bis der Signalton zu hören war.

»Mensch, hallo. Da hast du aber Glück gehabt, dass du mich noch erreichst. Ich wollte gerade los. Ist irgendwas passiert?«

»Ja«, erwiderte Janne. »Das kann man schon so sagen. Ich habe überraschend Besuch bekommen. Ich würd’s dir gern später erklären. Ist das in Ordnung so?«

»Ja. Ja, klar. Was denn für Besuch?«

»Ich kann und will im Moment nichts dazu sagen. Lass uns doch einfach später noch mal telefonieren, okay?«

Noa schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ja gut, Janne. Ich hab mich nur so auf dich gefreut, weißt du. Schade, dass wir uns nicht sehen. Ruf mich auf jeden Fall an, vergiss es nicht, ja?

»Ja, natürlich ruf ich dich an. Sei mir nicht böse. Diesmal kann ich es wirklich nicht anders lösen.« Janne spürte Noas Enttäuschung. »Bis später, liebste Noa. Ich vermisse dich und ruf dich bestimmt an.« Sie murmelte »Scheiße«, als sie den Hörer auf die Gabel zurückgleiten ließ.

Hannah, die immer noch unverändert am Lesetisch saß, sah von ihrem Buch auf. »Du?«, fragte sie. »Kann ich das Buch vielleicht ausleihen und bei dir weiterlesen? Es ist wirklich total spannend.«

»Ja, klar. Zeig mal, was liest du denn da?«

Hannah reichte ihr das Buch. Janne kannte es gut. Es war die Geschichte eines Mädchens, die zusammen mit einigen Delphinen ihrem autistischen Bruder half, in die Welt der Sprache zurückzufinden.

»Weißt du, ich würde dir das Buch gerne schenken.«

Hannah überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »Weil es dir gefällt?«

»Ja, genau. Deshalb würde ich es dir gern schenken.«

Hannah legte den Kopf schief und lächelte. »Danke. Ich freue mich«, sagte sie nur, stand auf, klappte das Buch zu und verstaute es in ihrem Rucksack. Sie klaubte auch ihre immer noch feuchten Kleidungsstücke von den verschiedenen Heizkörpern und stopfte sie ebenfalls in den Rucksack, der nun aus allen Nähten zu platzen schien.

»Ist ja ein richtiger Geschenketag heute«, kommentierte sie den Anblick und verwandte dann ziemlich viel Kraft darauf, den Rucksack zuzuschnüren.

Es nieselte noch immer, und Hannah und Janne liefen schweigend zur nächstgelegenen U-Bahnstation. Sie mussten einige Minuten auf den nächsten Zug warten, und in der grellen Beleuchtung auf dem Bahnsteig schien Janne alles wie unwirklich.

Hannah trat von einem Fuß auf den anderen. Ihr schien der Bahnsteig auch nicht sonderlich zu gefallen. Als die U-Bahn nach einer Ewigkeit einfuhr, murmelte sie »na endlich«. Schweigend schaute sie aus dem Fenster, obwohl es dort nichts zu sehen gab außer den tiefschwarzen Wänden des Schachtes.

Janne betrachtete sie heimlich. Da stecke ich mal wieder mitten in einem Abenteuer, dachte sie. Wer weiß, wohin es mich führen wird. Sie lächelte und in diesem Augenblick trafen sich ihre Blicke mit Hannahs.

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