Anekdoten frommer Chaoten

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Das war der größte Lacher des Abends.

VIER

Lieber Adrian,

danke für Deinen Brief, der mich dazu inspiriert hat, hinunter zur Videothek in meiner Straße zu gehen (die immer noch so heißt, obwohl es da seit dem Erscheinen der allmächtigen DVD gar keine Videos mehr gibt) und mir The Commitments auszuleihen. In der Videothek passierte etwas, was eigentlich gar nicht mit irgendetwas von Belang zu tun hat, aber da ich es amüsant fand, würde ich Dir gern davon erzählen. Glaub mir, das Folgende hat sich wirklich so abgespielt.

Während ich mich mit meiner DVD in der Hand ( The Commitments hatten sie leider nicht) an der Kasse anstellte, um mein Kleingeld loszuwerden, fiel mir ein Aufkleber auf der DVD-Hülle auf. »Bitte zurückspulen!«, stand darauf. Die Aufschrift verwirrte mich zutiefst, da es ja gänzlich unmöglich ist, eine DVD zurückzuspulen. Warum also dieser Aufkleber? Ich beschloss, mich bei dem Neunjährigen, der hinter dem Tresen Dienst tat, danach zu erkundigen.

Zwischen mir und dem etwas desinteressierten, aknegeplagten Jüngling entspann sich folgendes Gespräch:

Ich: Entschuldigung, dürfte ich Sie nach diesem Aufkleber fragen?

Pickliger Jüngling: Ja, was ist damit?

Ich: Nun, da steht »Bitte zurückspulen!« drauf. Pickliger Jüngling: Richtig. Das steht da.

Ich: Aber das ist doch albern. Pickliger Jüngling: Was? Wieso?

Ich: Weil das eine DVD ist. Die kann man doch gar nicht zurückspulen.

Pickliger Jüngling: (die Augen verdrehend) Natürlich kann man eine DVD nicht zurückspulen. Es ist ja eine DVD.

Ich: Äh, ja, das habe ich ja gerade gesagt. Also warum kleben Sie dann diesen Aufkleber drauf, der die Leute nur verwirrt und dazu bringt, deswegen nachzufragen?

Pickliger Jüngling: Ganz einfach. Als wir die Videos abgeschafft haben und zu DVDs übergewechselt sind, hatten wir noch Hunderte von diesen Aufklebern übrig. Die Chefin wollte sie nicht wegschmeißen; wir hatten sie ja extra drucken lassen. Also ließ sie uns die Dinger auf die DVDs aufkleben …

Ich: Also Ihre Chefin hat Geld für Aufkleber ausgegeben, die jetzt überflüssig sind, und dann noch mehr Geld für Arbeitszeit investiert, um diese unnützen Aufkleber auf DVD-Hüllen zu kleben, wo sie Kunden wie mich nur verwirren?

Pickliger Jüngling: (wirft über meine Schulter dem Kunden hinter mir einen Blick zu, der besagt: »Der Trottel hier hält den ganzen Betrieb auf.«) Genau. Wir haben die übrig gebliebenen Aufkleber verbraucht. Sonst noch Fragen?

Wie gesagt, Adrian, dieser Wortwechsel ist ohne jeden Belang für unsere Unterhaltung, aber ich fand ihn so grotesk, dass ich ihn Dir nicht vorenthalten wollte.

Wenn ich an Dich in diesem christlichen Gästehaus denke, wünschte ich, Du hättest Deinen Mut zusammengerafft und das »Er-ist-auferstanden«-Plakat mit einem frechen Graffitispruch verziert. Allerdings vermute ich, damit hättest Du unsere gemeinsame Gabe der Albernheit vielleicht einen Schritt zu weit getrieben. Zumindest ist »Er ist auferstanden« kein kitschiger Spruch, und es ist die Wahrheit. In meiner ersten Zeit als Christ trug ich immer einen großen Button, fast so groß wie ein Mülleimerdeckel. Er brüllte irgendeine ziemlich brachiale Botschaft hinaus – so etwas wie

»Hallo, du bist auf dem Weg in die Hölle« oder so. Ich hatte eine große Schwäche für Buttons und sonstige Accessoires aus unserer christlichen Buchhandlung am Ort. Am Heck meines Autos klebten so viele Fische, dass es aussah wie ein fahrendes Aquarium. (Übrigens, in meiner christlichen Buchhandlung hier gibt es im Moment Pfefferminzbonbons mit aufgedruckten Bibelstellen. Sie heißen »Testamints«. Auf der Packung steht »Bonbon für Bonbon die Welt verändern«. … Hätte es die Dinger doch nur schon gegeben, als Paulus lebte. Dann wäre er bestimmt als Gemeindegründer noch erfolgreicher gewesen, und Mundgeruch hätte er obendrein vermeiden können …)

Ich schweife ab. Zurück zu Slogans. Ich bin ein eifriger Beobachter von Gemeindeschaukästen und -schrifttafeln, besonders in Amerika, und ich habe schon so manchen Knaller zu Gesicht bekommen.Während einer Hitzewelle in Oklahoma, der einige Menschen zum Opfer fielen, hatte eine Gemeinde in ihrem Bestreben, die »gute Nachricht« zu verbreiten, vor ihrem Gebäude folgendes Plakat aufgehängt:

Wenn Sie meinen, hier wäre es heiß,

warten Sie nur ab.

Das ist fast so schlimm wie die markige, aber brutale Schrifttafel, die verkündete:

Ewigkeit: Raucher oder Nichtraucher?

Diese christliche Neigung zu grafischen Tiraden hat allerdings auch den einen oder anderen amüsanten Ableger hervorgebracht. Meine persönlichen Lieblingsbeispiele sind die Autoaufkleber mit der Aufschrift:

Jesus kommt wieder, tut so, als wärt ihr beschäftigt.

Oder auch:

Jesus liebt dich.

Alle anderen halten dich für ein *&%$@*&!§

Um wieder ernster zu werden: Es tat mir richtig leid, von Deiner Begegnung mit dem Mann zu hören, den Du als »Terrier« beschrieben hast. Die Bezeichnung passt perfekt auf jene Sorte frommer Leute, die einem gerne nach den Fersen schnappen, sich über jede Kleinigkeit aufregen und nicht mehr loslassen, wenn sie einen erst einmal zwischen die Zähne bekommen haben. Ich schätze, wir beide gemeinsam sind schon genug Terriern begegnet, um ein ganzes Tierheim damit zu füllen.Vielleicht hast Du ja ein dickeres Fell als ich (obwohl ich da so meine Zweifel habe), aber diese kleinen Schnapper und Bisse tun weh. Deine Geschichte von dem Terrier, der sagte, er hasse Dich (und dann leider doch noch beschloss, er liebe Dich), finde ich atemberaubend.

Man hat über die Jahre schon so manches Mal nach meiner Ferse geschnappt, und manchmal werden die Leute sehr persönlich. Du hast den Burschen erwähnt, der meinte, Du sähest alt genug aus, um Dein eigener Vater zu sein.Auf mich kam einmal eine Frau zu, nachdem ich gepredigt hatte, und fragte mich, ob ich jemals einen Schlaganfall gehabt hätte. Nein, erwiderte ich und fragte zurück, was sie zu der Frage veranlasst habe. Sie antwortete: »Wenn Sie lächeln, zieht sich nur eine Hälfte Ihres Gesichts nach oben.« Am liebsten hätte ich ihr gesagt, ich sei von Natur aus hässlich, und sie gefragt, was ihre Ausrede sei, aber so etwas können wir ja nicht machen, oder? Wir müssen uns schließlich wie Christen benehmen. Wie wär’s, wenn wir Gott fragen, ob wir jede Woche eine halbe Stunde freibekommen könnten und in Schaltjahren einen Monat? Nein, das ist keine gute Idee …

Aber das war nur ein kleiner Schnapper, verglichen mit dem üblen Biss, den ich einmal erhielt, nachdem ich in einer Gemeinde gepredigt hatte. Die Ironie ist, dass ich den Schäferhund nie zu Gesicht bekam, der sich da an mir gütlich getan hatte. Er (oder sie) schnappte einfach nur zu und war auf und davon, bevor ich auch nur »Platz!« rufen konnte. Der betreffende bissige Hund hatte nicht einmal den Mut, mich persönlich anzusprechen, sondern hinterließ mir nur einen Zettel ohne Unterschrift (ich kann anonyme Briefe nicht ausstehen; sie sind so feige) am Büchertisch. Er war säuberlich zusammengefaltet, mit rasiermesserscharfen Falten, die schon ahnen ließen, wie schneidend sich der Inhalt anhörte. Darin stand:

Sir, wir möchten Jesus hören, nicht Ihr unsinniges Geschwafel. Mit all diesen Dummheiten können Sie keine Seelen für Jesus gewinnen. Sie sind kein Prediger, Sie sind ein Komiker. Sie haben Ihren Beruf verfehlt.

Es hört sich erbärmlich an, das zuzugeben, aber dieser kleine Pfeil aus der Dunkelheit ließ mich in Tränen ausbrechen. Dabei dachte die Person, die den Zettel geschrieben hatte, zweifellos, sie wäre damit treu für die Wahrheit eingestanden, zumindest aus ihrer Sicht. Und das bringt mich wieder zu dem Gedanken, »Wahrheit« weiterzugeben. Wir haben uns darüber unterhalten, dass Gemeinden Orte brauchen, wo man ohne Angst vor Repressalien alles sagen kann, was einem im Sinn ist. Aber ist da nicht auch eine gewisse Vorsicht angebracht? Schließlich sind manche Christen unterwegs, um »die Wahrheit zu sagen«, und richten damit großen Schaden an. Wenn mir heutzutage jemand ankündigt, er werde mir »in Liebe die Wahrheit sagen«, schaue ich mich nach dem nächsten Atombunker um. Meist bedeutet die Ankündigung, »in Liebe« sprechen zu wollen, das genaue Gegenteil.

Warst Du schon einmal in einer dieser christlichen Versammlungen, wo der Prediger über Vergebung und Versöhnung spricht und der Gottesdienst dann mit einer qualvollen Zeit endet, in der alle aufgefordert werden, zu jemandem hinzugehen, dem sie Unrecht getan haben, um sich die Hand zu geben und sich wieder zu vertragen? Diese Folterveranstaltungen verschaffen ungeschickten (oder auch rachsüchtigen) Leuten eine ideale Gelegenheit, zu jemandem zu sagen: »Übrigens, ich hasse dich schon seit Jahren. Bitte vergib mir.« So können sie ihren Groll herauslassen und sich gleichzeitig mächtig fromm dabei vorkommen. Was soll mir das denn bringen, wenn einer auf mich zumarschiert und mir »bekennt«, er habe mich gehasst? Ich wäre besser dran, wenn ich ahnungslos bleiben könnte. Dann stapfen sie wieder davon, freuen sich, dass sie sich ihren Kram von der Seele geredet haben, und ich bleibe taumelnd zurück. Und manchmal gehen diese Momente grauenhaft schief, bevor auch nur ein Wort gesprochen wurde …

Bei einer christlichen Großveranstaltung (deren Namen ich nicht nennen möchte, aber sie findet im Frühjahr [engl. spring] statt, wenn man die Ernte [engl. harvest] einbringt)

hatte eine Bühnenpersönlichkeit, die notorisch schwierig war, so vielen Leuten auf die Füße getreten (die ihren Groll nun bekennen wollten), dass sich eine lange Schlange bildete. Stell Dir das vor – so allseits unbeliebt zu sein, dass die Leute sich wie an der Käsetheke eine Nummer ziehen und anstellen müssen, um Dir zu sagen, wie sehr sie Dich hassen. Wie leicht können wir selbst schöne Dinge wie Frieden und Versöhnung verderben.

 

Und deshalb stoße ich einen riesigen Seufzer der Erleichterung aus, wenn Du davon sprichst, dass Gott uns mitten in unserem Chaos begegnet. Heiligkeit und Chaos bestehen Seite an Seite. Kürzlich stieß ich auf die folgenden Worte von Erzbischof Rowan Williams (dem mit dem berühmten merkwürdigen Haarschnitt, unter dem sich ein Gehirn von der Größe eines Planeten zu verbergen scheint):

Ein Mensch ist nicht dadurch heilig, dass er durch Willenskraft über Chaos und Schuld triumphiert und ein makelloses Leben führt, sondern dadurch, dass dieses Leben den Sieg der Treue Gottes inmitten der Unordnung und Unvollkommenheit zeigt. Die Kirche ist heilig … nicht, weil sei eine Versammlung der Guten und Wohlgesitteten wäre, sondern weil sie vom Triumph der Gnade im Zusammenkommen von Fremden und Sündern spricht, die einander durch ein Wunder genug vertrauen, um sich zu gemeinsamer Buße und gemeinsamem Lobpreis zusammenzuschließen. … Menschlich gesprochen ist Heiligkeit immer dies: Gottes Duldsamkeit inmitten unserer Ablehnung ihm gegenüber, seine Fähigkeit, jeder Ablehnung mit dem Geschenk seiner selbst zu begegnen.1

Verzeih das lange Zitat. Ich füge es ein, weil ich a) finde, es ist sehr schön ausgedrückt, und b) wünschte, ich hätte nur zehn Prozent von dem Verstand Seiner Eminenz. (Siehst Du? Bei mir sind bisweilen selbst Momente der Einsicht mit Ehrgeiz und Neid befleckt.)

Manchmal denke ich, wir Christen denken nur in der Vergangenheitsform gern über unsere Kaputtheit nach. In dem Sinne:Wir waren kaputt, aber dann kam Jesus, und jetzt sind wir nette Leute. Dabei hat uns die Gnade nicht nur gerettet, sondern sie begleitet uns in jeder Sekunde, mit all dem Chaos und Unrat, die uns immer noch anhaften.

Ich versuche heutzutage ganz offen über meine Kaputtheit zu sprechen, und im Allgemeinen höre ich einen Seufzer der Erleichterung, wenn ich von meinen Kämpfen erzähle. Es macht mich zugleich froh und nervös, wenn Leute so nett sind, mir zu sagen, ich sei wie ein frischer Lufthauch und sie wüssten die Authentizität zu schätzen, um die ich mich bemühe. Aber das macht mir wirklich Sorgen im Blick auf den Zustand der Kirche, denn ich fürchte, dass Leute, die Echtheit ungewöhnlich und erfrischend finden, offenbar täglich per Sonde ernährt werden. Ich gebe zu, dass es mir manchmal schwerfällt, mich angreifbar zu machen (es kostet immer etwas, nicht wahr?), weil ich es auch ernst zu nehmen versuche, wenn die Bibel sagt, dass leitende Christen Vorbilder sein sollten. Doch ein Vorbild zu sein kann ja wohl nicht bedeuten, dass man ein falsches Bild vorspiegeln soll. Und ich möchte in meiner Kaputtheit befreiend sein, wenn Du verstehst, was ich meine.Wenn ich mich hinstelle und sage: »Ich bin ein mieser Kerl, und ich habe vor, das auch zu bleiben und olympiareif zu sündigen.Wer macht mit?«, dann verrate ich den innersten Kern der Botschaft Jesu. Er möchte mich liebevoll formen und, ja, verändern. Aber wenn ich andererseits einfach nur den Eindruck erwecke, ich wäre besser, als ich bin, dann erreiche ich doch nichts, außer dass ich jeden entmutige, der mir zuhört. Zumindest denke ich, dass es so läuft. Aber dann will ich auch nicht den Fehler machen, einfach nur öffentlich meine schmutzige Wäsche zu waschen …

Noch einmal zurück zu dem Mann, der sagte, er hasse Dich: Es liegt nicht nur daran, dass Du der Gemeinde Jesu ihre Schwächen und Macken vor Augen führst, sondern auch daran, dass Du ehrlich von Dir selbst und Deinen eigenen Schwierigkeiten und Ängsten sprichst. Vielleicht lässt Deine Bereitschaft, dich schwach zu zeigen, anderen ihre eigenen verborgenen Fehler unbehaglich nahe kommen. Oder vielleicht denken sie auch, Deine Bekenntnisse über noch nicht ausgestandene Kämpfe seien irgendwie ein »Verrat« am Evangelium. Manche Christen meinen ja, wir müssten alle auf Hochglanz polierte »Trophäen der Gnade« sein. Wie kommst Du damit klar, nicht nur zur Albernheit, sondern auch zur Transparenz berufen zu sein?

Ich stimme Dir vollkommen zu – wir wollen immer alles hübsch sauber und ordentlich haben, und am liebsten würden wir die Gnade steuern und zu denen hinlenken, die sie verdienen, was natürlich ein Widerspruch in sich ist. Und wenn wir das versuchen, kriegen wir am Ende haufenweise lächerliche kleine Regeln und Vorschriften heraus – das, was in Zen and the Art of Motorcycle Maintenance »kleinkarierte Regeln für kleinkarierte Leute« genannt wird. Jesus war auf Schritt und Tritt von Leuten umgeben, die Experten darin waren, die Religion zu einer hektischen Plackerei zu machen, den Pharisäern. Sie hatten Vorschriften darüber, wie innig man eine Braut an ihrem Hochzeitstag begrüßen durfte und wie man eine Witwe bei einer Beerdigung zu trösten hatte. Sie beschäftigten sich mit so schwerwiegenden Fragen wie der, ob man beten dürfe, während man in einer Baumkrone arbeitet. Und (warte, was jetzt kommt) wenn jemand Brot backt und dabei nackt ist und dieses Brot dann für ein Opfer verwenden will, ist es dann unrein? Darüber habe ich mir eine ganze Weile lang den Kopf zerbrochen … Zweifellos geschah das alles in dem Bemühen, das Chaos in den Griff zu bekommen und zu bestimmen, wie »gute« Menschen aussehen. Hier ankreuzen und hurra, schon bist Du heilig und gehörst mit zum Klub. Doch wie alle Systeme war es zum Scheitern verurteilt, denn wie Du sagst: Die Gnade wirkt in jedem Einzelnen auf einzigartige Weise. Gott schafft keine Systeme, er schreibt einmalige Gedichte.

Vielleicht ist ja meine »Bitte-zurückspulen«-Geschichte doch nicht ganz so belanglos. Religion kann genauso nutzlos, genauso eine Zeitverschwendung und genauso verwirrend sein wie das Anbringen dieser veralteten Etiketten. Da schnaufen und keuchen wir uns dann durchs Leben und jagen allen möglichen irrelevanten und unwichtigen Dingen nach.Vielleicht gibt das ja unserer Gabe der Albernheit einen gewissen Wert: Indem wir lachen, vor allem über uns selbst, kratzen wir an der Kruste der Irrelevanz und Aufgeblasenheit, die Religion erzeugen kann, und machen uns auf die Suche nach dem, was eigentlich den Kern des Ganzen ausmacht. Wir schürfen nach dem, worauf es wirklich ankommt.

Wie herrlich, zu wissen, dass Gott uns alle in unserer Kaputtheit gebraucht – nicht ausnahmsweise, sondern als Regel. Daher erzählt die Bibel nicht die Geschichten einer Reihe strahlender, auf Hochglanz polierter Helden, sondern die von fehlerhaften, verwirrten Genies und Idioten, die mal etwas richtig machten, um dann in der nächsten Sekunde schon wieder etwas falsch zu machen. Wie Du sagst, Elia ist eines der besten Beispiele dafür.

Gut, Adrian, das mag für heute reichen. Irgendwann würde ich gerne noch ein bisschen mehr über den gigantischen Absturz Elias nachdenken – und ich liebe diese Formulierung, die du gebraucht hast: »Gnade ist kreativ, beziehungsorientiert, konstruktiv, überraschend und befreiend, und jeder von uns hat die Aufgabe, sie an die Menschen weiterzugeben, denen wir begegnen.« Der Satz hat mich gestern Abend wach gehalten …

Alles Liebe, Jeff

FÜNF

Lieber Adrian,

okay, ich weiß, ich bin eigentlich nicht an der Reihe. Aber Deine herrliche Beschreibung der »kreativen Gnade« hat die Erinnerung an einen der bewegendsten Momente meines Lebens geweckt, als jemand viel Mühe auf sich nahm, um mir auf kreative Weise liebevolle Freundlichkeit – die die Wurzel der Gnade ist – zu erweisen.

Dieser Jemand war mein Vater. Er war betroffen und aufgebracht, als ich als Teenager Christ wurde. Im Rückblick kann ich es ihm nicht verdenken. Er dachte vermutlich, ich hätte meine Seele irgendeiner merkwürdigen Sekte überschrieben, und sah meine Bekehrung als einen Verrat an meiner Kinderstube. Traurigerweise muss ich zugeben, dass er für mich alsbald zu einem evangelistischen Projekt wurde. Ich war so erpicht darauf, ihn mit der himmlischen Nachricht bekannt zu machen, dass ich ihm das Leben zur Hölle machte. Er ließ meine drängenden Monologe geduldig über sich ergehen, lächelte freundlich und sagte mir, er mache sich Sorgen, dass ich mein Leben an einen Mythos verschleudern könnte. Er hatte es selbst im Leben nicht leicht gehabt, und ihm lag viel daran, dass ich meines nicht vergeudete. Mit neunzehn Jahren in der afrikanischen Wüste in Gefangenschaft geraten, saß er in italienischen und deutschen Kriegsgefangenenlagern und sah seine Jugend vor sich hinfaulen, bis er, zu einer Verzweiflungstat gedrängt, die Flucht ergriff, um seiner Hinrichtung zu entgehen, sich seinen Weg quer durch Deutschland bahnte und es kurz vor dem Ende des Krieges schließlich nach Hause schaffte. Ich habe viel über jene vier Jahre nachgedacht, in denen er ständig dem Hungertod nahe war; gesprochen hat er nie viel über diese schrecklichen Tage. Gelegentlich ließ er sich dazu drängen, von der einen oder anderen Begebenheit zu erzählen, aber wie er sich dabei fühlte , darüber redete er mit mir nie. Manchmal frage ich mich, warum, Adrian. Sperrte er manche Emotionen weg, um all dem Grauen und der Ungewissheit nicht wieder begegnen zu müssen? Oder sind spätere Generationen nur gesprächiger geworden und vielleicht ein bisschen zu erpicht auf Verarbeitung?

Was er mir immerhin sagte, war, dass er nach all dem Schrecklichen, das er im Krieg gesehen hatte, nie wieder an Gott glauben könne. Zwanzig Jahre nach dem Beginn meiner ungestümen evangelistischen Bemühungen (und nicht als ihre Folge, sondern wohl eher ihnen zum Trotz) wurde mein Vater endlich Christ – das ist eine andere Geschichte. Hier soll es genügen, wenn ich sage, dass es ein wunderbar glücklicher Tag war.Von nun an wurde dieser recht viktorianisch geprägte Mann viel milder und konnte seine Liebe zu mir sehr offen ausdrücken. Dann traf ihn ein schwerer Schlaganfall. Er hatte schon immer gern geredet und hatte eine Meinung zu allem. Nun jedoch konnte er nur noch endloses Kauderwelsch von sich geben. Ich erinnere mich an lange Telefonate mit ihm, bei denen er unentwegt brabbelte und ich dazu nickte und grunzte und zustimmte, bis wir beide anfingen zu weinen – Tränen waren die einzige gemeinsame Sprache, die uns geblieben war –, weil wir wussten, dass wir uns nicht miteinander verständigen konnten und wahrscheinlich nie wieder dazu in der Lage sein würden. Die Ärzte hielten es für unwahrscheinlich, dass er seine Sprache je wiedergewinnen würde. Ihre Vermutung bestätigte sich. Der junge Mann, der vier Jahre hinter Stacheldraht gelebt hatte, saß nun wieder in einem anderen Gefängnis. In jener kalten Zelle sollte er sterben, eingeschlossen und stumm bis zum Ende.

Aber nicht ganz. Noch einmal heckte er einen großen Fluchtplan aus.

Eines Nachts übernachtete ich bei meinen Eltern. Es war schon spät, und ich war schon dabei, im Schlummer zu versinken – da klopfte es an meiner Zimmertür. Es war mein Vater. Als ich ihn hereinbat, wunderte ich mich, was er wohl wollte – schließlich kam ein Schwätzchen vor dem Schlafengehen nicht infrage.

Bildlich gesprochen, hatte mein Vater eine Lücke in dem Elektrozaun gefunden, eine Möglichkeit, mir auf kreative Weise Liebe und Gnade mitzuteilen. Er kam herein und kniete sich neben meinem Bett auf den Boden. Ein breites Lächeln strahlte aus seinem Gesicht. Und dann, Adrian, kuschelte er mich in meine Bettdecke ein.

Da lag ich, ein Mann von vierzig Jahren mit eigenen Kindern und einer Hypothek, und er nahm die Decken und die Laken und kuschelte mich ein. Dann beugte er sich über mich, strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn und gab mir einen Kuss auf die Wange. Und mit einem weiteren strahlenden Lächeln verschwand er zur Tür hinaus. Es war unbeschreiblich.

Ich konnte ihm die Wohltat erwidern. Einige Monate später trat ich in sein Zimmer, ohne anzuklopfen, denn er war nur halb bei Bewusstsein. Man hatte in seinem Krankenhauszimmer das Licht gedämpft, damit er nicht im grellen Schein der Leuchtstoffröhren würde sterben müssen. In dem Wissen, dass er nur noch Stunden zu leben hatte, beschloss ich, noch ein letztes Mal etwas für ihn zu tun. Ich kuschelte ihn ein. Ich nahm die Decken und das Laken, gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange und flüsterte ihm ins Ohr: »Geh jetzt, Papa. Mach dich aus dem Staub. Schluss mit dem Leiden. Du brauchst nicht zu kämpfen. Jesus hält dich sicher.«

Und binnen weniger Minuten war er fort.

Ich erzähle Dir das, Adrian, weil ich glaube, dass wir alle Wege finden können, um Gnade kreativ weiterzugeben. Freundlichkeit zu verbreiten ist nicht nur etwas für die Starken oder die Klugen. Und wenn wir Möglichkeiten dazu finden, werden andere durch unsere Bemühungen verändert. Ich kann die Wärme dieses einen Kusses noch bis heute spüren.

 

Alles Liebe, Jeff

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