Ekiden

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„Ein alter Sprinttrainer an der Uni hat mir einmal gesagt, wenn du zehn von diesen Schwüngen hintereinander machen kannst, kannst du die 100 Meter in unter zwölf Sekunden laufen. Schon für einen brauchst du eine Menge Kraft“, sagt er.

Darauf konzentriert er sich wieder und dreht sich noch einmal um die Stange, während ich zusehe. Dann lässt er sich wieder auf den Boden hinunter und wischt sich den Staub von den Händen.

„Ich bin ziemlich außer Übung. Im Moment schaffe ich nur sechs“, erklärt er.


Ein Haus in Japan zu finden, das man für länger als sechs Monate mieten kann, ist nicht so einfach für eine britische Familie. Ich habe von vielen Seiten gehört, dass Japaner nur ungern an Ausländer vermieten. Japan wird oft als ein homogener Inselstaat dargestellt, der nur sehr wenig mit Ausländern zu tun haben will. Für über 200 Jahre war es das Nordkorea der Welt und stellte das Ein- und Ausreisen unter Todesstrafe. Ein wenig von diesem isolationistischen Gedanken ist noch immer vorhanden. Vor einigen Jahren musste der japanische Verkehrsminister, dessen Aufgabe es unter anderem war, den Tourismus im Land anzukurbeln, zurücktreten, da er meinte, dass die Japaner Ausländer nicht besonders mögen. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage fand heraus, dass es Hunderte von Hotels in Japan gibt, die offen zugeben, ausländische Gäste abzuweisen.

2002 führte das Harvard Institute of Economics eine umfassende Studie durch, die zum Ergebnis kam, dass Japan eines der homogensten Länder der Welt ist. Das ganze Konzept von Japan als einzigartige, isolierte Insel wurde schon so oft von Japanern und Nicht-Japanern beschrieben, dass es sogar ein eigenes Genre dafür gibt: Nihonjinron. Dieses Konzept wird allerdings von einigen Gelehrten als veraltete Form eines kulturellen Nationalismus abgetan. Aber noch bevor ich in Japan ankam, stieß ich bereits auf unzählige Türen, die sich auf meiner Suche nach einem Ekiden-Team, dem ich beitreten könnte, vor meiner Nase schlossen. So wie Brendan Reilly es in seiner E-Mail geschrieben hatte: „Japan kann manchmal eine frustrierend verschlossene Gesellschaft sein.“

Just zu jenem Zeitpunkt, als wir am Beginn unserer Reise nach Japan mit dem Eurostar kurz davor waren, in den Channel-Tunnel einzufahren, rief mich Max am Handy an.

Dhar, ich habe ein Haus für euch gefunden, aber du musst mir jetzt sagen, ob ihr es nehmen wollt oder nicht.“

Inzwischen zog die Landschaft Kents am Fenster vorbei. Uma fragte mich, ob ich ihr etwas vorlesen würde, und Ossian sprang laut singend auf seinem Sitzplatz auf und ab.

„Das Haus ist wirklich schön und nicht besonders teuer. Und es liegt nicht weit von der Schule entfernt“, meinte Max.

„Wir nehmen es“, antwortete ich.

Es war die erste konkrete Zusage, die ich bekam, seit ich mit den Arrangements für unseren Umzug nach Japan begonnen hatte. Und ich wollte diese Chance nicht verpassen. Abgesehen davon hatten wir bereits so viel dem Zufall überlassen, dass es im Moment egal war, wo wir wohnen würden. Meiner Meinung nach hatten wir kaum eine andere Wahl, als auf Gott zu vertrauen. Und auf Max.

Ein paar Sekunden später fuhr der Zug in den Tunnel ein, und die Verbindung riss ab.

„Sieht so aus, als hätten wir ein Haus, wenn wir dort sind“, sagte ich zu Marietta, die vor mir saß.

„Wirklich? Wie ist es?“

„Keine Ahnung.“


Das Haus ist schmal und hoch und passt genau zwischen zwei ähnliche Gebäude in einer kleinen, steilen Sackgasse in Kyotanabe. Um dorthin zu gelangen, zwängen wir uns alle in Max’ kleinen roten Sportwagen. Kaum sitzen wir drin, besprüht er wieder zuerst uns mit effektiven Mikroorganismen und dann das Auto. Er besprüht sogar die Reifen und erklärt uns, dass sie sich dadurch weniger schnell abnutzen.

Wir fahren durch die Stadt, vorbei am kaiserlichen Palast und hinaus in die Vororte südlich von Kyoto, wo wir auf die Autobahn auffahren, die sich auf hohen Betonpfeilern in die Lüfte erhebt. Die Straßen biegen und kreuzen sich, dass man sich beinahe nicht mehr auskennt, und ehe wir uns versehen, befinden wir uns wieder auf Straßenniveau, wo wir an eintönigen Flächen mit Reisfeldern und vereinzelten Lagerhäusern, Scheunen und alten Plakatwänden vorbeikommen.

Nach etwa zehn Minuten erreichen wir wieder eine verbaute Gegend, mit großen Einkaufszentren, Parkplätzen und einem McDonalds Drive-Through.

„Willkommen in eurer neuen Nachbarschaft“, sagt Max, während Marietta und ich nervöse Blicke austauschen.

Die Kinder sind ganz aufgeregt, als wir an einer Feuerwehrstation vorbeikommen. Die Feuerwehrautos glänzen rot und sind vielleicht halb so groß wie die, die wir aus England kennen. Auch ein kleiner Ambulanzwagen parkt vor der Station.

Während wir weiterfahren, ertappe ich mich dabei, vergeblich nach einem Park zwischen den vielen Gebäuden Ausschau zu halten oder nach Anzeichen einer Grünfläche, auf der man spielen, laufen oder sich irgendwie anders vom Betondschungel erholen könnte.

An einem Tante-Emma-Laden biegen wir rechts ab und fahren einen steilen Hügel hinauf, vorbei an der Steiner-Schule und in ein Wohnviertel. Wir befinden uns noch immer in den Sommerferien, und die Straßen sind ruhig. Es hat etwa 30 Grad. Die Häuser stehen nahe an der Straße und so knapp nebeneinander, dass kaum eine Person dazwischenpasst. Bei fast allen Häusern sind die Rollläden unten.

Schließlich halten wir vor dem Haus, das für die nächsten sechs Monate unser Heim sein wird. Wir steigen aus. Wir sind sicher ein Kuriosum hier in der Gegend, doch es gibt kein Anzeichen dafür, dass uns jemand heimlich beobachtet. Max schließt die Eingangstür auf. Drinnen ist es dunkel. Die Jalousien sind unten, und das Haus ist komplett leer. Keine Möbel, Töpfe oder Pfannen. Nicht einmal ein Kühlschrank oder eine Waschmaschine.

„Lasst uns einkaufen gehen“, sagt Max.

4

Und so beginnt unser neues Leben in Japan. Bevor wir England verließen, las ich das Buch Mister Aufziehvogel des japanischen Autors Haruki Murakami. Es spielt in einer unscheinbaren Nachbarschaft in einem japanischen Vorort wie diesem hier. Doch hinter der scheinbaren Normalität des Alltagslebens verbirgt sich eine dunkle, verstörende und surreale Welt. Während wir unsere Futons auf dem nackten Holzboden ausrollen, frage ich mich, worauf wir in unserer kleinen Sackgasse stoßen werden.

Die erste Person aus unserer Nachbarschaft, die sich uns vorstellt, ist eine Dame namens Rie, die nebenan wohnt. Es ist eine kräftige Frau mit einem breiten, freundlichen Lächeln. Und sie spricht sogar Englisch. In ihrer Jugend, bevor sie heiratete und Kinder bekam, hatte sie ein halbes Jahr in London verbracht. Während der nächsten sechs Monate sollte sie unsere gute Fee sein. Immer, wenn es Schwierigkeiten gibt, wir Briefe in unserem Briefkasten nicht lesen können oder wissen wollen, wie wir unsere Rechnungen bezahlen müssen, uns Bücher aus der Bibliothek ausborgen wollen oder einen Arzt suchen, erscheint sie wie aus dem Nichts an unserer Tür und bietet uns ihre Hilfe an.

Ein paar Monate, nachdem wir eingezogen sind, bestellen wir unabsichtlich eine große Menge an Meeresfrüchten. Als es an der Tür läutet, steht ein Mann mit einer Schachtel und einem Zettel da. Ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt, und so nehme ich beides entgegen. Meine Kinder wollen sehen, was sich in der Schachtel befindet. Wir nehmen den Deckel ab und sehen, dass die Box bis oben hin mit Eis und Plastiktüten mit Wasser gefüllt ist, in denen sich noch lebende Schalentiere räkeln.

„Marietta“, rufe ich, „hast du das bestellt?“

Das Einzige, was uns in so einem Fall übrig bleibt, ist, hinüber zu Rie zu gehen. Sie sieht sich den Zettel an und meint, dass wir wahrscheinlich das falsche Kästchen auf einem Formular angekreuzt haben. Wir verwenden sehr oft einen örtlichen Zustelldienst, der uns Essen liefert. So bestellen wir auch einmal unabsichtlich 100 Zwiebeln. Wir hatten kaum ein paar davon aufgebraucht, als in der folgenden Woche bereits eine weitere Großlieferung Zwiebeln auftaucht.

Mit Meeresfrüchten ist das etwas anderes, die müssen schnell verzehrt werden, vor allem wenn man sich ansieht, wie sie sich noch in den Tüten bewegen. Unser Problem ist allerdings, dass wir alle Vegetarier sind. Rie lächelt und meint, wir sollen uns keine Sorgen machen. Sie kauft uns die Schalentiere ab und wird sie selbst zum Abendessen zubereiten.

„Meine Kinder werden sich freuen“, sagt sie, als hätten wir ihr damit einen großen Gefallen getan.

Die anderen Leute, mit denen wir in den ersten Tagen Bekanntschaft schließen, sind eine Familie, die gegenüber wohnt und deren drei Kinder ebenfalls die Steiner-Schule besuchen. Wie es der Zufall so will, geht eine der Töchter in Lilas und eine in Umas Klasse. Sie haben auch einen 15-jährigen Sohn. Die Familie spricht kein Wort Englisch, doch als sie hören, dass ich nach Japan gekommen bin, um ein Buch über das Laufen zu schreiben, ist Yoshiko, die Mutter, ganz verzückt. Wir brauchen ein Weilchen, um zu verstehen, was sie uns sagen will, doch es stellt sich heraus, dass ihr Sohn oft zusammen mit seinen Freunden läuft. Und zwar jeden Morgen vor Schulbeginn. Um halb sechs.

Zuerst glaube ich, dass ich sie missverstanden habe. 15-jährige Burschen, die jeden Morgen bei Sonnenaufgang miteinander laufen gehen? Wirklich? Sie gehören nicht zu einem Verein, sie tun es nur, weil es ihnen Spaß mache, meint sie. Das kann ich mir nicht vorstellen, und so frage ich sie, ob ich vielleicht einmal mitlaufen dürfe. Sie sieht mich an, als wäre ich eine Art Priester, der ihr einen Freipass in den Himmel anbietet.

 

„Danke, danke“, sagt sie immer wieder, während ich mich frage, worauf ich mich da wohl eingelassen habe.


Am nächsten Morgen, es ist 5:20 Uhr, läutet mein Wecker. Ich ziehe meine Laufsachen an und trete vor die Haustür in den stillen Morgen. Es ist bereits recht warm. Ryohei, der Junge aus dem Haus gegenüber, wartet bereits. Er trägt einen Mund-Nasen-Schutz und lehnt an seinem Fahrrad. Er verbeugt sich höflichst und deutet auf die Räder in unserer Auffahrt. Es war uns gelungen, Fahrräder für uns alle – außer für mich – zu erstehen. Also nehme ich das von Marietta und folge ihm die Straße hinunter.

Vor dem Tante-Emma-Laden an der Ecke hält er, steigt vom Rad und schaut herum, fast so, als ob sich seine Freunde in den Büschen verstecken würden. Nichts bewegt sich im gräulichen Zwielicht. Es ist noch sehr früh. Dann sehen wir einen Jungen auf seinem Fahrrad die Straße entlang in unsere Richtung kommen. Ohne etwas zu sagen, bleibt er neben uns stehen und steigt ab. Er sieht nicht gerade überrascht aus, mich zu sehen. Einige Minuten später gesellt sich ein dritter Junge zu uns. Er lächelt und begrüßt mich auf Englisch, bevor er sich seinen beiden Kameraden zuwendet und sich leise mit ihnen unterhält. Sie alle tragen Shorts und T-Shirts. Keine spezielle Laufkleidung, sondern einfache Baumwollleibchen und normale kurze Hosen.

Es ist nur schwer vorstellbar, dass englische Teenager so zeitig am Morgen aufstehen würden, um laufen zu gehen. Aber ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, wie oft das in Japan vorkommt. Das Ganze kann auch reiner Zufall sein, dass ich genau in der einzigen Seitengasse gelandet bin, in der es Teenager gibt, die um halb sechs in der Früh laufen gehen. Doch das scheint auch etwas weit hergeholt. So entdecke ich zum Beispiel einen anderen Jungen, der gerade Baseball trainiert, als ich wieder einmal frühmorgens das Haus verlasse. Er wirft den Ball immer wieder gegen eine Hauswand und versucht, ihn dann zu fangen. Als ich einmal spätnachts nach Hause komme, sehe ich zwei Männer, die gerade Schlagen trainieren, allerdings mit zirka 200 Federbällen, anstelle von Baseballbällen. Die Federbälle sind auf der ganzen Straße verstreut, wie kleine Papierlampions. Was diese beiden Männer, der eine Junge und die Teenager, mit denen ich an diesem Morgen laufen gehe, gemeinsam haben, ist, dass sie wirklich ernsthaft trainieren. Das ist kein einfaches „Herumspielen“, das ist richtiges Training. Sie nehmen es ernst. Diese Einstellung zum Sport wird mir während meines Aufenthalts in Japan immer wieder begegnen.

Nachdem wir noch ein paar Minuten gewartet haben, ohne dass noch jemand gekommen wäre, steigen die drei Burschen wieder auf ihre Fahrräder und fahren los. Sie haben moderne Mountainbikes, auf denen sie sanft und geräuschlos durch die Straßen gleiten. Mariettas Rad ist alt, schwerfällig, ohne Gangschaltung und mit einem klapprigen Kindersitz. Dazu kommt, dass es zu klein für mich ist, und so muss ich mich richtig anstrengen, um mit ihnen mithalten zu können.

Nach einer etwa fünfminütigen Fahrt verlassen wir die Vorstadtstraßen und erreichen eine weite, offene und flache Gegend mit Feldern. Die Sonne geht gerade auf und lässt Reihen von Auberginenpflanzen und Orangenbäumen in Gold erstrahlen. Jetzt macht es auf einmal Sinn, bereits wach und draußen in der Natur zu sein und herumzufahren, als wären wir vier Entdecker, die einen neuen Planeten erforschen.

Ohne uns zu unterhalten, fahren wir zwischen den Feldern hindurch, bis wir einen Fluss erreichen. Dann folgen wir dem Flussufer, bis wir unter einer gigantischen Brücke anhalten. Über uns hören wir die brummenden Motoren der ersten Autos, die bereits unterwegs sind, sowie einige Lastwagen. Hier an der Straße befinden sich Warenhäuser, ein Autosalon und auch einige Wohnblöcke. Ein paar Pensionisten tummeln sich bereits entlang des Uferwegs. Doch sie machen keinen gemütlichen Spaziergang oder führen ihre Hunde Gassi, so wie in England. Nein, sie tragen Sportbekleidung, schwingen ihre Arme durch die Luft und betreiben Sport.

Wir lassen unsere Fahrräder nahe des Ufers im Gras liegen. Es gibt keinen Grund, sie abzusperren. Dann gehen wir zum Startpunkt oben auf der Brücke.

Eigentlich ist es schade, dass wir hier oben an der Straße stehen und uns aufwärmen, wo es doch da unten am Fluss so viel Platz gibt. Aber das hier ist ihr Start, markiert durch eine Linie am Boden.

„Fünf Kilo“, sagt Ryohei zu mir und meint damit fünf Kilometer. Ich bin mir sicher, dass sie diese fünf Kilometer millimetergenau abgemessen haben. Auf jeden Fall dauert das Aufwärmen nicht lange. Ichi, ni, san, eins, zwei, drei … und los geht’s.

Sie sprinten los, als wäre dies ein 100-Meter-Rennen. Meine alten Beine brauchen einige Zeit, um auf Touren zu kommen. So zeitig am Morgen so schnell zu laufen, bereitet meinen um diese Zeit noch eingerosteten Sehnen einige Schmerzen. Ich muss erst einmal langsam beginnen, während die drei Burschen entlang des Flusses vorauslaufen. Sind die wirklich so schnell? Ich versuche, das Tempo zu erhöhen, um sie einzuholen.

Nach ein paar Minuten läuft mir der Erste von ihnen wieder entgegen. Er joggt gemütlich. Ryohei und sein anderer Freund kommen mir nun auch entgegen, doch viel gemächlicher als zuvor. Als ich wieder bei der Gruppe bin, gibt Ryohei erneut Gas. Wir erreichen eine Markierung am Weg, und beide drehen um. Wir laufen in moderatem Tempo zusammen zurück zum Startpunkt, wobei Ryohei immer wieder kurze Sprints hinlegt. Schließlich wird er langsamer, und sein Freund und ich geben Gas. Inzwischen bin ich aufgewärmt, und das Laufen fällt mir nun viel leichter, doch ich will ihnen nicht davonlaufen. Wir kehren wieder zum Ausgangspunkt an der Straße zurück, und alle stoppen ihre Zeit. Ryohei nimmt seine Maske ab, und zum ersten Mal sehe ich sein Gesicht. Er atmet schwer, doch er lächelt.

„Danke“, sagt er und verbeugt sich vor mir.

Alle drei sind nun viel gesprächiger. Ryoheis Freund, der Schnellere, spricht etwas Englisch. Ich frage ihn, warum er jeden Tag so früh aufsteht, um zu trainieren.

„Es ist mein Hobby“, sagt er.

Als wir uns auf unsere Fahrräder schwingen und nach Hause fahren, ist es noch nicht einmal halb sieben, doch das Training für den Tag ist erledigt. Zumindest bis zum nächsten Morgen, wenn ihr Hobby sie wieder früh aus dem Bett holen wird.

Auf dem Weg nach Hause unterhalten sich die drei, dabei fahren sie langsam, ihre Ellenbogen auf die Lenkstangen gestützt. Sie haben noch genügend Zeit, also kein Grund zur Eile. Bei jeder Ampel stoppen sie und warten geduldig auf Grün, selbst dann, wenn weit und breit kein Fahrzeug zu sehen oder hören ist.

Diese Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten, ist etwas, was ich in Japan oft bemerke. Selbst bei Teenagern scheint sich rebellisches Verhalten auf Kleidung und Frisuren zu beschränken.

Als ich eines schönen Tages in den örtlichen Zug einsteige, sitzen drei Teenager am Boden des Wagens. Sie tragen zerrissene Jeans und unterhalten sich lautstark miteinander. Das war wahrscheinlich das asozialste Verhalten, auf das ich während meiner Zeit in Japan stieß. Nicht, dass sie andere Fahrgäste belästigen, doch nach Monaten in Zügen, in denen es mucksmäuschenstill war, ist es schon ein kleiner Schock, drei Burschen auf dem Boden sitzen zu sehen, die sich laut miteinander unterhalten.

Als der Zug mit der Zeit immer voller wird, bemerke ich, wie die drei aufstehen, um Platz für die anderen Fahrgäste zu machen. Sie sprechen nun auch wesentlich leiser und benehmen sich ganz brav. Einer von ihnen setzt sich sogar eine Maske auf. Wahrscheinlich hat er eine leichte Verkühlung und will niemanden anstecken.

Natürlich gibt es in Japan auch Kriminalität, obwohl diese niedriger ist als in den meisten anderen Industrieländern, und auch die Teenager rebellieren, doch ich kann diese Bereitschaft zur Konformität deutlich spüren, dieses Sich-an-die-Regeln-Halten und Sich-in-die-Gesellschaft-Einfügen.

Es gibt einen fundamentalen Unterschied in der Wahrnehmung des Platzes, den eine Person in der Gesellschaft einnimmt. Ein Sprichwort, das ich in Japan immer wieder höre, ist: Der Nagel, der hervorsteht, wird flachgehämmert. Für westliche Ohren mag sich das furchtbar anhören. Es bedeutet: Unterscheide dich nicht von den anderen, versuche nicht, etwas anderes zu tun, sondern behalte den Kopf unten und arbeite mit den anderen zusammen.

In ihrem Buch Understanding Japanese Society schreibt Joy Hendry darüber, wie dieses Konzept gesellschaftlicher Harmonie und Kooperation japanischen Kindern schon im frühesten Alter eingeimpft wird. So sagt sie, dass die alljährlichen Sporttage in dem Kindergarten, in dem sie arbeitete, vor allem dazu da seien, Teamwork über individuelle Konkurrenz zu stellen. Sie sagt, dass Tauziehen und drei-, fünf- oder siebenbeinige Rennen typische Disziplinen seien, in denen Zusammenarbeit unerlässlich ist, um Erfolg zu haben. Sie erwähnt auch, dass Fernsehsendungen für Kinder oft das Thema Kooperation wiederholen, indem zum Beispiel der Held daran scheitert, wenn er ein Monster oder eine außerirdische Macht allein besiegen will, und zwar so lange, bis ihm andere, die ebenfalls dieser Gefahr ausgesetzt sind, zu Hilfe kommen.

Unter Erwachsenen gibt es mehr Aktivitäten, die in geordneten Gruppen ausgeführt werden, als ich es aus Großbritannien gewohnt bin. Egal, wohin man geht – meist bei Touristenattraktionen, aber auch in unscheinbaren Vororten –, überall kann man geordnete Gruppen von Leuten sehen, die von Personen mit Fähnchen herumgeführt werden. Oft tragen sie auch gleiche Jacken und Hüte.

Diese konformistische Ader erklärt vielleicht bis zu einem gewissen Grad, warum der Ekiden in Japan so populär ist und warum gerade der Langstreckenlauf, eine typische Einzelsportart, in einen Mannschaftssport umgewandelt wurde.

Viele der besten Ekiden-Teams in Japan wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, als Teil des Wiederaufbaus. Wettbewerbe wurden als Möglichkeit gesehen, die Leute zusammenzubringen und die Moral und den Gemeinschaftsgeist des Volks nach den Schrecken des Kriegs wieder zu stärken. In dieser Zeit wurden auch viele der bekanntesten Marathonbewerbe des Landes ins Leben gerufen, etwa der Biwa-See Marathon (erstmals 1946) und der von Fukuoka (1947), sowie viele der wichtigsten Ekiden-Rennen, die anfangs nur als Training für Marathons gedacht waren.

Die größten Wettbewerbe wurden von Zeitungen gesponsert – und die meisten davon werden es noch immer –, damit die Menschen über die Teams und Läufer lesen und die Ergebnisse mitverfolgen konnten. Das half sehr dabei, die Popularität unter der Bevölkerung zu steigern. Und je stärker die japanische Wirtschaft in der Nachkriegszeit wuchs, umso mehr Geld begannen Firmen in ihre Teams zu stecken, indem sie die besten Athleten an den Universitäten verpflichteten und ihnen sogar zusätzlich Trainingszeit während der Arbeit gewährten.

Dieses starke Engagement im Langstreckenlauf begann sich bald zu rechnen, und in den 1960er-Jahren, als Japan zu einer weltweiten Wirtschaftsgroßmacht heranwuchs, dominierten japanische Läufer den Marathon so, wie es die Kenianer und Äthiopier heute tun. 1965 wurden zehn der elf schnellsten Zeiten von japanischen Männern gehalten. 1966 waren 15 Japaner unter den 17 Besten.

Eine vielbewunderte Eigenschaft der japanischen Gesellschaft war damals ein Konzept namens Wa, Gruppenharmonie. Ein ganz besonderer Verfechter dieser Idee war der Coach des wohl berühmtesten japanischen Baseballteams, der Yomiuri Giants, die von 1965 bis 1973 neunmal in Folge die nationalen Meisterschaften gewannen. Baseball ist in Japan sogar noch um einiges populärer als Ekiden, und laut William W. Kelly, Professor für Anthropologie und Japanologie an der Yale University, wurde der Erfolg der Yomiuri Giants zum kraftvollen Überbegriff für die vor Selbstvertrauen strotzende Industriegesellschaft und konkurrenzstarke, aufstrebende Wirtschaftsmacht, als die sich Japan gerne selbst darstellte. Mehr von einem Feldmarschall als von einem General Manager dirigiert, projizierten die Spieler der Giants ein Bild und einen Spielstil, der Teamwork, Engagement und das Kollektiv in den Vordergrund stellte.

Viele aufstrebende japanische Firmen betrachteten die Giants als Vorbild, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich selbst für das Wohl der anderen aufopfert, in der von den Angestellten erwartet wurde, zur Harmonie der Gruppe beizutragen – in diesem Fall zur Harmonie der Firma. Das bedeutete auch, dass die Arbeit an erster Stelle stand, vor der Familie und den Eigeninteressen, die zuletzt folgten. Das typische Bild eines japanischen Büroangestellten oder Sarariman, wie sie in Japan genannt werden, war ein Mensch, der früh ins Büro kommt, es spät wieder verlässt und nach der Arbeit zusammen mit seinen Arbeitskollegen etwas trinkt, bevor er nach ein paar Stunden Schlaf wieder früh zur Arbeit fährt. Die Anzahl der schlafenden Männer in Anzügen, die ich abends in den Spätzügen sehe, deutet darauf hin, dass dieses Verhalten noch immer weitverbreitet ist, obwohl vielleicht nicht mehr ganz so dominant wie einst.

 

Viele Unternehmen übernahmen das Konzept des Wa in ihre Firmenmottos, und Japan verdankt seinen wirtschaftlichen Aufstieg in der Nachkriegsära wohl zu großen Teilen dieser Idee.

Robert Whiting schreibt in seinem 1989 erschienenen Buch You Gotta Have Wa, das von japanischem Baseball handelt, das Wort für Individualismus, Kojin-shugi, sei in Japan ein fast schon unanständiges Wort … Das Konzept und die Praxis der Gruppenharmonie sei der größte Unterschied zwischen japanischem und amerikanischem Baseball. Es ist der rote Faden, der sich durch das japanische Leben und den japanischen Sport zieht.

„Selbst die Bienen haben es hier“, sagt Max eines Tages zu mir, als wir durch die Vororte Kyotanabes fahren, auf der Suche nach einer gebrauchten Waschmaschine.

„Die Bienen?“

„Man hat einmal versucht, in Japan europäische Honigbienen anzusiedeln“, erklärt er mir. „Aber sie wurden von den riesigen japanischen Hornissen ausgerottet. Die europäischen Bienen konnten ihnen nichts entgegenhalten. Als die Hornissen die Bienenstöcke angriffen, flogen die Arbeiterinnen einzeln aus, um den Angriff abzuwehren. Doch gegen die riesigen Hornissen hatten sie nicht den Funken einer Chance. Die haben ihnen mit ihren Kiefern einfach den Kopf abgerissen. Eine kleine Gruppe Hornissen kann einen ganzen Bienenstock innerhalb weniger Stunden vernichten.

Japanische Bienen dagegen verteidigen sich auf eine andere Art. Anstatt hoffnungslos in ihren Tod zu fliegen, warten sie, bis die erste Hornisse zum Auskundschaften in den Bienenstock eindringt. Dann stürzen sich alle gemeinsam in einem dichten Schwarm auf die Hornisse. Sie versuchen auch nicht, sie zu stechen, sondern beginnen so stark mit ihren Flügeln zu vibrieren, dass die Temperatur ansteigt und das Kohlendioxid, das sie produzieren, den ganzen Stock ausfüllt. Die Hornisse hat bei diesen hohen Temperaturen und CO2-Werten keine Chance zu überleben. Das ist die Stärke der Gruppe“, sagt Max und hält vor einem weiteren Secondhand-Laden, vor dem eine Reihe gebrauchter Fahrräder und Waschmaschinen steht.

Ekiden verkörperte den Geist des Wa perfekt. Ein Staffellauf kann nur dann erfolgreich sein, wenn jeder Teil der Staffel seine Aufgabe erfüllt. Hier müssen alle zum Wohl des Teams an einem Strang ziehen. Es passte perfekt zum damaligen Zeitgeist, und so erfreute sich der Ekiden Schritt für Schritt immer mehr an Popularität und überholte damit den Marathon in seiner Beliebtheit.

Natürlich wäre es zu einfach, den Aufstieg des Ekiden allein an der konformistischen Natur der japanischen Gesellschaft festzumachen. Tatsächlich fängt diese weitverbreitete Sichtweise Japans als Kollektivgesellschaft bei genauerem Hinsehen langsam zu bröckeln an.

„Wenn die Japaner solche Konformisten sind, wie kommt es dann, dass alle ihre landestypischen Sportarten wie Judo, Karate, Sumo und so weiter Einzelsportarten sind?“, fragt Brian Moeran, Professor für Wirtschaftsanthropologie an der Kopenhagener Business School.

Das ist eine gute Frage. Roland Kelts, der japano-amerikanische Autor von Japanamerica: How Japanese Pop Culture Has Invaded the US, meint, dass Ekiden deshalb so gut zu Japan passt, weil dieser Sport auf einer individuellen Leistungskomponente aufgebaut ist. So schreibt er, dass, obwohl Japan dazu tendiere, die Harmonie der Gruppe über die Wünsche des Einzelnen zu stellen, dies nicht bedeute, dass Individualität und individuelle Leistungen und Verantwortung abgewertet würden. Tatsächlich legt das Konzept des Amae, das Bedürfnis voneinander abhängig zu sein und sich gut mit anderen zu verstehen, großen Wert auf individuelles Verhalten und individuelle Leistung. Du musst als Einzelner ein besserer Mensch sein, wenn sich andere auf dich verlassen. So gesehen sei Ekiden der perfekte Sport für die Japaner, denn während jeder Einzelne sein Bestes geben müsse, sei das Ziel der Erfolg der Gruppe, meint er.

Baseball dreht sich im Grunde auch um diesen Kampf zwischen zwei Individuen, in diesem Fall zwischen Werfer und Schlagmann, die beide für ihr Team kämpfen.

Keine dieser beiden Sportarten definiert sich speziell über Konformität oder das Nicht-Hervorstechen, sondern mehr darüber, dass die Verantwortung des Einzelnen im Vordergrund steht, dass jede einzelne Person ihren Teil zum Erfolg des Teams beiträgt. Beim Ekiden ist das sogar noch mehr der Fall als in anderen Teamsportarten, da eine schlechte Leistung alles zunichtemachen kann. Und wirklich, das Wort, das ich in den nächsten Monaten am öftesten zu hören bekomme, wenn andere mit mir über Ekiden sprechen, ist „Verantwortung“, das recht prägnant das Zusammenspiel des Einzelnen mit der Gruppe beschreibt.

Während mir alle diese Gedanken durch den Kopf gehen, erhalte ich ein paar Tage später endlich die Gelegenheit, einige Ekiden-Läufer persönlich zu treffen.