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Eure Wege sind nicht meine Wege

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Bleibe! sagte eine süße, leise Stimme in der sanften Sprache, die sie so lange nicht mehr gehört, und die wie ein halbvergessener Traum nur noch in seltenen Nachklängen durch ihre Seele zitterte. – Wieder siegte die Neugierde, sie blieb stehen und wandte sich der Fremden zu.

Wer bist du? Wie heißest du? frug diese jetzt, und ihre zweite Hand, ebenfalls durch die Dornen gestreckt, erfaßte mit zitternder Hast des Mädchens kleine, halb widerstrebende Hand.

Ich heiße Leonie und bin des Grafen Tochter, dem das Gut gehört.

O komm näher! Laß dich anschauen! bat die Frau und zog sie mit beiden Händen dichter an die Hecke heran. Mit durstigen Augen hing sie an dem seinen, in wechselnder Bewegung erröthenden und erbleichenden Gesichtchen fest. Kein Zug, murmelte sie halblaut, kein einziger Zug! Ein düsterer Ausdruck wie Schmerz und Trauer, aber ohne Weichheit, zog über ihr Gesicht und überdeckte es mit einer noch tieferen Blässe. Wo ist dein Bruder? frug sie plötzlich, wie sich besinnend.

Er wollte nicht kommen, der Vater hatʼs verboten, sagte Leonie.

Und da kommt er auch nicht?

Nein, er fürchtet sich.

O er ist seines Vaters rechtes Kind! sagte die Frau mit einer Bitterkeit, die nicht ohne Verachtung war. Sie, schwieg eine Weile. Hat er dirʼs auch verboten? frug sie dann.

Die Röthe der Scham schlug unwillkürlich auf in Leonieʼs Gesicht. Ich habe nicht gefragt, sagte sie zögernd und erwartete fast einen Verweis.

Die Frau betrachtete sie aufmerksam einen Augenblick. Liebst du deinen Vater? frug sie dann.

Leonie stockte – darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Sie schlug die Augen zu Boden und blieb die Antwort schuldig.

Die Fremde zog sie immer näher an sich heran; mit ihren mageren, heißen Händen streichelte sie die glühende Wange des Mädchens und strich ihr das glänzende, goldrothe Haar aus der weißen, feuchten Stirne. Wie schön du bist! flüsterte sie wie in einem irren Traume, wie deine Augen glänzen! Auch ich war einst schön— man sieht jetzt nichts mehr davon. – Was ist Schönheit ohne Klugheit? O werde klug, und dann gehört dir die Welt!

Wer sind Sie? frug Leonie, sie erstaunt anblickend.

Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das einem unterdrückten Schrei glich, beugte die Fremde den Kopf. Frage mich nicht, rief sie dann, sie tödten mich, wenn ich dir es sage, und ich will nicht sterben, nun ich dich gesehen. O sie haben mir das Leben furchtbar ausgesogen! Er – hüte dich vor Ihm – hörst du? – Er kennt kein Erbarmen! – Aber du wirst mich rächen! O siehst du – die Rache bleibt noch, und wenn uns Alles genommen ist! —

Leonie verstand sie nicht recht; sie dachte, ein großes Uebel müsse der Frau widerfahren sein von Jemand, vielleicht von ihrem Vater – der war ja immer so streng! Die Rührung nahm aber bei ihr selten überhand, und so erregte das wilde Klagen der Unbekannten mehr ihre Neugierde, als daß es zu ihrem Herzen sprach. Sie blickte ihr erstaunt und aufmerksam in das bleiche Gesicht, sie getraute sich nicht, zu fragen, wen sie durch Er bezeichnen wollte, darum nicht, weil sie es ahnte, und so blieb sie ganz still.

Wirst du wiederkommen? frug die Fremde jetzt.

Ich – ich weiß nicht, sagte Leonie, Thomas darf nicht wissen, daß ich da war.

In diesem Augenblicke wurde die Thüre des Hauses aufgerissen, und Thomas selbst trat heraus. Er schritt rasch auf seine Gefangene zu, und bevor diese sich von ihrem Schrecken erholt, stand er schon neben ihr. Er blickte über die Hecke, und als er das zitternde Mädchen auf der anderen Seite stehen sah, zog sich seine Stirne in wunderbar krause Runzeln zusammen; doch er nahm die Mütze ab, und seine Rede war höflich, wenn auch fest. Gnädiges Fräulein, sagte er, es schickt sich nicht, so heimlich herzukommen wider den Willen Ihres Vaters und mit Leuten zu reden, die ihren Verstand nicht bei sich haben, und in deren Nähe man keinen Augenblick sicher ist.

Ich ging vorüber, da rief sie mich an, sagte Leonie, in deren Leben die Großmuth nur dann eine Rolle spielte, wenn sie deren von Anderen bedurfte. Sie wandte sich ab und ging. Den ganzen Tag stand sie in der Erwartung eines strengen Verweises von ihrem Vater; sie studirte sein Gesicht; aber es war nicht anders als sonst. Am folgenden Morgen erhielt sie den Befehl, mit der Pfarrerin, welche dort eine Schwester besuchen wollte, nach der Stadt zu fahren. Leonieʼs Augen öffneten sich weit; das Vergnügen, das ihr geboten ward, kam ihr weniger gelegen, als es sonst der Fall gewesen wäre. Sie dachte an die Fremde und saß lange schweigend in dem Wagen neben der ebenfalls schweigenden Pfarrerin. Plötzlich fuhr sie aus ihrer Träumerei auf. Was ist Klugheit? fragte sie die Pfarrerin.

Dieser war die Unterbrechung nicht gerade angenehm. Sie hatte in der Stadt sehr viel vor, theils im Auftrage des Grafen, theils für sich selbst, und in Gedanken ging sie eben die Mittel und Wege durch, sich ihrer verschiedenen Verpflichtungen zu fremder und eigener Zufriedenheit zu entledigen. Sie antwortete daher so kurz sie konnte, was sie einmal von ihrem Manne gehört: Klugheit ist, immer das Rechte zu thun zur rechten Zeit.

Leonie dachte ein wenig nach. So jung sie war, wußte sie doch manchen Fall, wo das Rechte thun dem Thäter übel bekommen war; aber dann lag es vielleicht daran, weil er die rechte Zeit nicht abgewartet.

Wann ist die rechte Zeit, das Rechte zu thun? fuhr sie fort.

Immer – sagte die Pfarrerin. Das Mädchen schüttelte den Kopf. Wenn wir aber Verdruß davon haben, das Rechte zu thun?

Man muß es dennoch thun.

Aber warum?

Weil Gott es befohlen hat.

Aber warum hat er es befohlen?

Weil es so recht ist.

Aber warum ist es recht? fuhr Leonie, die nicht aus dem Kreise heraus kam, zu fragen fort.

Weil Gott es befohlen hat, ist es recht.

Aber er hätte auch das Gegentheil befehlen können, war des Mädchens kecker Schluß.

Kind, rede nicht so gottlos, sagte die fromme Frau, die an dem Ende ihrer theologischen Weisheit angelangt war und in ihre früheren Gedanken versank. Aber in Leonieʼs regem Geist blieb die ungelöste Frage und beschäftigte sie, bis sie an dem Orte ihrer Bestimmung aus dem Wagen stieg.

Hier indessen schwanden die letzten Eindrücke sehr bald vor den Ueberraschungen, die sie erwarteten, und die für Leonie den vollen Reiz der Neuheit besaßen. Die Frau Pfarrerin hatte Auftrag bekommen, dem kleinen Fräulein eine standesmäßige Toilette zu verschaffen, und die etwas rohen Stoffe, die bis jetzt ihre Garderobe ausgemacht, wurden durch die feinen und glänzenden Gewebe ersetzt, mit welchen der Luxus seine Auserkorenen bedeckt. Niedliche kleine Schuhe umschlossen die zierlichen Füßchen, durch welche zwar das Herumsteigen in Feld und Wald, wie es ihnen bis jetzt eigen gewesen, so ziemlich zur Unmöglichkeit gemacht wurde, die aber Leonieʼs eitles Mädchenherz schnell genug durch ihre Zierlichkeit zu versöhnen versprachen. Auch hatte die Frau Pfarrerin Erlaubniß, Leonie einige Mal inʼs Theater zu führen, und so flogen die Paar Wochen, die der bezaubernde Aufenthalt dauerte, wie ein seliger Traum dahin.

Die Überraschungen, die sie bei der Rückkehr auf dem Schlosse erwarteten, waren indessen weniger angenehmer Art. Leonie erstaunte nicht wenig, als ihr in dem Salon, zu dem sie hinaufging, ihren Vater zu begrüßen, eine ältliche Dame entgegentrat, die ihr der Graf als ihre Gouvernante vorstellte, und welcher er die volle Macht einer Mutter auf das erschrockene Mädchen übertrug. Als sie sich nach Otto erkundigte, erfuhr sie, er sei fort, auf die Schule geschickt, und erst nach Monaten werde sie ihn wiedersehen. Auch eine Kammerfrau war angenommen worden, deren besondere Aufgabe es war, das Fräulein auf ihren Spaziergängen zu begleiten; wenn Fräulein Pertold einmal daran verhindert wurde und Leonie glaubte, ja einmal den günstigen Moment zu, erhaschen, um unbemerkt aus dem Schlosse zu entwischen, so eilte stracks ein baumlanger Bediente nach, welcher der kleinen Dame unterthänig Schirm und Ueberwurf trug.

Und so ging denn Leonie in ihren kostbaren Kleidern und eleganten Schuhen allem Zwang entgegen, der das gewöhnliche Erbtheil der Kinder der privilegirten Kaste ist, und der für Leonie, nach der Freiheit, die sie bis dahin genossen, nur eine erhöhte Marter war.

Sie wußte jedoch, daß ihres Vaters Wille unwiderruflich sei; ihr Widerstand, wenn sie einen wagte, durfte nur ein verborgener sein, und so fügte sie sich mit scheinbarer Gelassenheit in ihr verändertes Geschick und rächte sich so gut sie konnte für die beständige unleidliche Aussicht durch ein unruhiges, still-trotziges Wesen, bei dem ihre Studien nur wenig Fortschritte machten.

Fräulein Therese Pertold war indessen keine gewöhnliche Gouvernante, und die Personen, die sie dem Grafen empfohlen, hatten Grund zu der Empfehlung gehabt. Sie verstand ihr Fach und hatte nicht nur Gelegenheit gehabt, Charaktere zu studiren, sie hatte sie wirklich studirt, und was nicht immer damit verbunden ist, sie verstand es auch, aus diesen Studien Nutzen zu ziehen, und wenn sie dabei im Grunde mehr an sich, als an ihre Zöglinge dachte, wer wird es ihr verargen? Sie wurde ja nicht für die Liebe, sondern für den Unterricht bezahlt. Sie hatte denn sehr bald herausgebracht, mit welcher Geistesrichtung sie es hier zu thun hatte. Sie sind ein adeliges Fräulein, sagte sie daher eines Tages zu Leonie, die sich eben einer besonderen Unliebenswürdigkeit befliß. Sie sind ein adeliges Fräulein und gehören einer alten berühmten Familie an; auch werden Sie reich sein, wie es sich zu Ihrem Stande schickt. Was ist aber das Alles, wenn Sie nicht auch durch Ihre Manieren sich von dem gewöhnlichen Menschentroß unterscheiden? Manieren und Kenntnisse, die den Geist entwickeln, und die man lernen muß, mit Klugheit zu benützen, das ist die einzige wahre Auszeichnung, in der unsere Macht gesichert ist.

Es war das zweite Mal, daß Leonie die Klugheit rühmen hörte, als Mittel zum Ziele. Die Erklärung der Pfarrerin hatte sie nicht vergessen und seitdem im Stillen manche Bemerkung darüber gemacht. Wenn Klugheit nichts Anderes war, als immer das Rechte zu thun, so haben wir gesehen, daß ihr die oft üblen Folgen nicht entgangen waren, und das schien ihr wenig beneidenswerth.

 

Was ist Klugheit? frug sie jetzt wiederum.

Klugheit, erläuterte Fräulein Pertold, ist die Kunst, jeden Menschen nach der ihm eigenen Weise zu behandeln und ihn auf diese Art nach unserem Willen zu lenken. Diese von jener der Pfarrerin sehr verschiedene Erklärung leuchtete Leonie auch viel besser ein.

Und kann man Klugheit lernen? fuhr sie mit plötzlichem Interesse zu fragen fort. Zum Theil kann man sie lernen, zum Theil muß sie freilich eigene Begabung sein; auch gehört ein großer Verstand dazu, immer deutlich zu unterscheiden, was man zu thun und zu lassen hat. Aber anmuthige Manieren und ein feiner, gebildeter Geist erleichtern die Sache sehr und sichern uns überall ein Uebergewicht.

Leonie war nachdenklich geworden und blickte in Gedanken hinaus. Ihr Vater kam so eben in den Hof hereingesprengt..– Da ist mein Vater, dachte sie; wäre ich klug, so thäte er Alles, was ich will. Mit Otto und den anderen Knaben ist es leicht genug; nur mit dem Vater ist es schwer. – Sie stützte den Kopf in die Hand und sah träumerisch vor sich nieder.

Von nun an war es nicht mehr nöthig, Leonie zum Lernen anzuspornen. Sie kam selbst mit Büchern und Zeichenmappe; keine Arbeit war ihr zu schwer oder zu langwierig, und mit einer wunderbaren Begabung ausgestattet, überwand sie leicht jede Schwierigkeit. Sie befliß sich eines ernsten Ganges, und die früheren Vertraulichkeiten mit der Dorfjugend schienen bis auf die letzte Spur aus dem Gedächtniß des kleinen Fräuleins verwischt. Fräulein Pertold hatte sich nicht getäuscht und erntete überall bei den wenigen Nachbarn, die Zeuge von der Umwandlung ihres Zöglings waren, viel Lob und Ehre ein. Nur in dem Grafen selbst brachten die glänzenden Fortschritte seines Töchterchens keine Aenderung hervor; er blieb still und kalt wie immer und verfolgte die rastlose Thätigkeit des Mädchens mit demselben räthselhaft forschenden Blicke, mit dem er einst den Spielen des Kindes zugesehen.

Von Thomas und seinem Hause, so wie von der fremden Frau war nicht mehr die Rede. Leonie war seit jenem Nachmittage nicht mehr hingekommen. Fräulein Pertold wich nicht von ihrer Seite; aber seitdem blinder Gehorsam gegen ihren Vater eine Triebfeder ihrer kleinen, schon so reifen Politik geworden war, schien der ganze Vorgang von ihr vergessen zu sein. Schien, sagen wir; denn wie ein schlummernder Keim lag er in ihrer Seele und wartete des Anstoßes, der ihn zu neuem Leben wecken sollte, und dieser blieb nicht aus.

Sechs Jahre waren auf diese Weise verflossen, Leonie hatte das fünfzehnte Jahr erreicht, und die erste Morgenröthe der Jungfräulichkeit übergoß ihre Stirne mit einem erhöhten Zauber.

Sie saß am Klaviere, über dessen Tasten unter Fräulein Pertoldʼs Leitung ihre feinen Finger in glänzenden Trillern flogen. Von dem frühern Wildfang war nichts mehr an ihr zu sehen. Ihre Kleidung war gewählt, ihre Haltung elegant und fein, und das goldige Haar schmiegte sich in glänzender Fülle um das junge, geistvolle Haupt.

Um dieselbe Stunde des Nachmittags ging es lebhafter als sonst in dem kleinen Hofe am Walde her. Die fremde Frau lag im Sterben. Seit sechs Jahren hatte die Krankheit in ihrer Brust rastlose, wenn auch langsame Fortschritte gemacht, und eigentlich war es ein Wunder, daß sie noch nicht gestorben war. Aber mit eiserner Willensfestigkeit klammerte sie sich an das fliehende Leben; es war, als erwarte sie etwas, als könne sie nicht sterben, bevor es in Erfüllung gegangen, und Tag, für Tag, unausgesetzt, von ihrem Lehnstuhle am Fenster, übersahen die fieberhaften Augen die Wege und Pfade, die nach dem Hause führten.

Allein was sie erwartete, das zeigte sich nicht. Leonie war in guter Aufsicht, und wenn sie auch den kleinen Vorfall aus ihrer Kindheit keineswegs vergessen hatte, so war sie doch viel zu sehr auf ihr eigenes Wohl bedacht, viel zu sehr von andern Wünschen und Plänen erfüllt, um dem ausgesprochenen Befehle ihres Vaters, ohne besondern Anstoß, zu trotzen.

Auch heute stand der Lehnstuhl der Kranken neben dem Fenster, auch heute starrten ihre Augen in heißer Sehnsucht in die herbstgefärbte Landschaft hinaus. Der Arzt war gekommen und fortgegangen. Diese Nacht werde wohl die letzte sein, hatte er unten zu Thomas gesagt und eben schob dieser die schweren Riegel hinter dem Fortgehenden zu. Da schlich seine Mutter sacht aus dem Krankenzimmer zu ihm herab, um den letzten Ausspruch des Arztes zu vernehmen. Oben bei der Sterbenden blieb nur ein halberwachsenes Kind, eine arme Waise, welche Thomas zu sich genommen, um der Mutter in der Pflege der Kranken beizustehen.

Es war ein eingeschüchtertes, scheues Wesen, das in der unheimlichen Stille des Hauses kaum eine Bewegung zu machen oder ein lautes Wort zu sprechen wagte. Denn die alte Frau hatte die Gemächlichkeit, die sie zu Anfang mitgebracht, in ihrem Wächteramte längst verloren, und Thomas war mürrischer als je. Selbst für ihn war es ein trauriges Schauspiel, die gequälte, noch immer schöne Frau so Zoll für Zoll absterben zu sehen, und es ist kein Wunder, wenn die Zeit ihm lange währte, bis sie die letzte Erlösung fand.

An jenem Kinde nun hatte die Frau in aller Stille sich eine Bundesgenossin gemacht. Wort für Wort, ohne daß Jemand darum wußte, hatte sie von ihr so viel von der deutschen Sprache gelernt, als sie bedurfte, um sich verständlich zu machen, um zu hören, was um sie her gesprochen wurde, obgleich niemals eine Miene in ihrem Gesichte verrieth, daß sie den Inhalt der Gespräche verstand.

Geräuschlos war die Thüre in das Schloß gefallen, und der schleppende Gang der alten Frau war auf der Treppe verhallt. Die Lampe brannte auf dem Tische; in der Ecke saß das Mädchen mit rothgeweinten Augen angstvoll zusammengedrückt und rührte sich nicht. Da erhob sich die Sterbende langsam aus ihrer liegenden Stellung, und mit einer gebieterischen Geberde winkte sie die Kleine herbei.

Jetzt geh! – jetzt ist es Zeit! sagte sie.

Das Mädchen fuhr zitternd in die Höhe.

Hörst du mich, Tine? rief die Kranke ungeduldig.

Das arme Kind sank in die Kniee: Ich kann nicht! hauchte sie in furchtbarer Angst – Ich darf nicht! – Mein Oheim jagt mich fort, wenn ich es thue! —

Dann nimm den Fluch einer Sterbenden auf dich! – Weißt du denn nicht, daß du geschworen hast? – und ich habe Niemand zu schicken, als dich – und ich sterbe – ich sterbe! – Weh dir, wenn ich sterben muß in dieser Todesangst, die mich nicht sterben läßt! —

Sie war aufgestanden und machte eine Bewegung auf das Mädchen zu. Doch dieses war todtenbleich – aufgesprungen.

Ich gehe, sagte sie, mag mein Oheim mit mir thun, was er will. —

Und leise und eilig hatte sie das Zimmer verlassen und schlich durch eine Hinterthüre zum Hause hinaus.

Der Abend war unterdessen angebrochen, der trübe Herbstabend, der sich ohne Sternenlicht in seinem Nebelmantel feucht über die erstarrende Erde legt. Leonie saß noch immer am Klavier in dem verdunkelten Zimmer; aber Fräulein Pertold hatte sie verlassen, und in dieser Stunde der Einsamkeit lag auf der jungen Stirn ein Ausdruck, der von dem ruhiger Heiterkeit, den sie vorhin trug, sehr verschieden war. Es war der Ausdruck tiefster Langeweile und Abgespanntheit. Die zierlichen Hände glitten in nachlässiger Trägheit über die Tasten und lockten Accorde daraus hervor, die ohne Ordnung und Verbindung, wie sie schienen, die oft unterbrochene Begleitung für die unruhigen Gedanken des jungen Mädchens bildeten. – O Gott! dachte sie, wann wird das enden? Wie bin ich müde, müde, müde! – Otto liebt das Landleben – ja freilich – er ist immer in der Stadt! – Wie glücklich sind die Knaben! Sie können fort. – Was gäbe ich darum, ein Knabe zu sein! – Trab – trab – ein Tag wie der andere. Das ewige Einerlei bringt mich noch um. Der Vater und Fräulein Pertold – Fräulein Pertold und der Vater – die Pertold ist langweilig – sie sagt, ich sei schön – das weiß ich ohne sie, aber was nützt es mir hier? Mit dem Vater kann ich einmal nichts machen – ich habe die Hoffnung aufgegeben. – O diese ewige Verstellung – und wozu? Er glaubt mir doch nicht! – Die Pertold schauʼ ich durch und durch, die habʼ ich auswendig gelernt, sie wartet auf eine Pension. – O hätte sie sie doch und ließe mich in Ruhe! – Dann die Frau Pastorin – die ist gut wenigstens – ich glaube auch, sie hat mich lieb – das ist aber Alles alt, und was gehtʼs mich an? – Es ist doch nicht, was ich will – und was ich will, das ist nicht hier in diesem alten Loche – von der Pertold kann ich nichts mehr lernen – was sie weiß, weiß ich jetzt auch – sie sagt, ich sei eine ganze Dame. – O Welt – wann öffnest du dich mir?

Hier sanken die Hände wie erschöpft von den Tasten herunter, und Leonieʼs Kopf senkte sich auf das Klavier. In demselben Augenblicke klopfte es an die Thüre. Leonie erhob sich rasch, Langeweile und Abspannung waren aus ihren Zügen verschwunden, ein Lächeln spielte um den Mund. Herein! rief sie; die Thüre öffnete sich, und athemlos und weinend erschien Tine auf der Schwelle.

Des Fräuleins Gesicht überflog ein Ausdruck von Ueberraschung und leichtem Mißvergnügen, aber Tine war zu aufgeregt, um es zu bemerken.

Ach, Fräulein, rief sie hastig und zog die Thüre vorsichtig hinter sich zu, verrathen Sie mich nicht, um Gottes willen! Die wahnsinnige Frau bei meinem Onkel Thomas liegt im Sterben und will Sie durchaus sehen.

Ueber Leonieʼs bewegliche Züge flog ein neuer Wechsel, reine Verwunderung war das Erste, dann blitzten ihre Augen auf, und ihre erste Bewegung war ein Schritt nach der Thüre. Doch plötzlich hielt sie inne und überlegte einen Augenblick. Freilich war sie der Lösung des Räthsels nahe, die sie einst mit so leidenschaftlicher Gier gesucht – aber würde ihr Vater nicht erfahren, wo sie gewesen? würde er selbst vielleicht in dieser letzten Minute die Frau nicht sehen wollen, für welche er ein so reges, wenn auch feindseliges Interesse an den Tag gelegt? – Sie schwankte und wandte sich unschlüssig wieder ab.

Mit einem angstvollen Blick folgte Tine jeder ihrer Bewegungen. O Fräulein! bat sie wieder; doch Leonie hörte sie nicht, ihre Gedanken schlugen eine andere Wendung ein. Und sollte sie einer einfachen Möglichkeit wegen, die vielleicht nicht in Erfüllung gehen würde, die Gelegenheit aufgeben, die einzige, die sich nie mehr bieten würde, dieses Räthsel endlich aufgeklärt zu sehen? O dieses Räthsel, mit dem das Leben ihres Vaters vielleicht so eng verflochten war, dieses Vaters, der nie einen freundlichen Blick für sie gehabt – und sie sollte nicht erfahren, was er so heimlich vor der Welt verbarg? – Sie sollte nicht wissen, aus welchem dunklen Grunde die Wurzel dieses Thuns entsprang? Und warum? Wegen einer Möglichkeit, die vielleicht nicht in Erfüllung ging; – und wenn auch! dachte sie; die flüchtige Erregtheit wich einer leichten Blässe, und ihre Züge sammelten sich nach und nach in einen Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit – wenn auch – ist es mir erlaubt, die Bitte einer Sterbenden abzuschlagen? Was ist es mehr? Und – tödten kann er mich doch nicht.

Rasch warf sie ein Tuch um Kopf und Schulter, und den nächsten Augenblick schon eilten sie Beide dem Waldhofe zu. Um dieselbe Stunde schlug Thomas bedächtigen Schrittes den Weg nach dem Schlosse ein.

Seine alte Mutter indessen, nachdem sie seinen Bericht mit manchem Seufzer und bedeutsamem Achselzucken entgegengenommen und, sich auf Tineʼs Treue verlassend; außerdem noch einige kleine Vorkehrungen in den unteren Räumen ihres Hauses glücklich zu Ende gebracht, trippelte ruhigen Gewissens, so leise sie konnte, die knarrende Treppe wieder hinauf, und war nicht wenig überrascht und gekränkt, Tine auf ihrem Posten zu vermissen. Das Kind wird sich gefürchtet haben so allein, dachte sie, man kann sich aus die Jugend doch gar nicht verlassen. – Die Kranke war ruhig und athmete mühsam und leise. Die alte Frau zog ein Gebetbuch aus der Tasche, setzte die Brille auf die Nase und begann für die scheidende Seele zu beten. Alles war still. Die Zeit wurde ihr lang, ihr selbst war nicht sehr geheuer, und Tine kam noch immer nicht.

Das Mädel muß wo eingeschlafen sein, sagte sie sich, es ist ja noch ein Kind, und das viele Wachen hat es ermüdet. – Draußen ertönten jetzt Schritte, aber sie hörte sie nicht, sie nickte und murmelte über ihr Buch gebeugt. Ein leiser Ausruf erweckte sie erst aus dem halben Schlummer, in den sie versunken war: wer ihn ausgestoßen, wußte sie nicht, aber sie schlug die Augen auf und sah ihr junges Fräulein, vom raschen Laufe erhitzt, mit wirrem Haar und wunderschön, wie ein Lichtgebilde, mitten im verdunkelten Zimmer stehen. Die Kranke stand aufrecht, wie von neuer Lebenskraft beseelt. Mein Kind! – rief sie und streckte der Eintretenden beide Arme entgegen.

 

War es die Stimme des Blutes, die mit überwältigender Macht zu dem Herzen des jungen Mädchens sprach? Wie Strahl und Blitz schlug es in sie ein, sie wußte, wem sie gegenüberstand, und hatte sie doch nie gekannt. – Meine Mutter! rief sie laut und stürzte mit mächtiger Bewegung der Wiedergefundenen an die Brust. Aber es war zu viel für die schwindende Kraft der schwachen Frau, und sie sank erschöpft in ihren Sessel zurück, während Leonie in bebender Ueberraschung an ihr nieder auf die Kniee glitt.

Unterdessen hatte sich die alte Bäuerin allmählich von ihrem Staunen erholt; der strenge Befehl des Grafen fiel ihr ein und zugleich die Angst für ihren Sohn. – Ach, Fräulein Leonie, wo kommen Sie her? jammerte sie und faßte des Fräuleins Arm mit ihren zitternden Händen, sie wo möglich von der Kranken wegzuziehen. Herr Gott! was wird der Herr Graf sagen! Ach, gnädiges Fräulein, haben Sie Mitleid mit mir und meinem Sohne, der nicht zu Hause ist! – Aber mit einer ungeduldigen Geberde machte Leonie sich von ihr los, und rathlos sank die alte Frau auf ihren Stuhl zurück.

Mit freudestrahlendem Auge betrachtete indessen die Kranke das junge Mädchen, das neben ihr auf die Kniee gesunken war. Ja, du bist mein Kind, meine Tochter! meine einzige Tochter! mein Eigen, mein süßes Eigenthum! und leidenschaftlich küßte sie des Mädchens Stirn, Haare und Hände, die sie fest an ihren Busen geschlossen hielt.

O meine Mutter, warum das Alles? rief Leonie; aber der Ausruf verhallte ungehört, der Kranken ganzes Leben schien nur noch in ihren Augen zu liegen.

Laß dich anschauen! sagte sie leise, aber mit aller tiefen Glut ungesättigter Leidenschaft, laß dich anschauen! Laß mich sehen, wie schön du bist! O du bist schön! Du mußtest es ja sein. – Er war es auch. – O nur einen Zug des Lebens laß mich aus deinen Augen trinken, an deinen Lippen hängt ja der volle Becher! Einen Tropfen nur von dem Ueberfluß, der deiner Jugend entflieht! O du bist glücklich! – Sei es – aber vergiß deine Mutter nicht!

Die furchtbare Aufregung fing an, sich zu legen, sie schloß die Augen und lehnte den matten Kopf an die Polster zurück. Leonie drückte zitternd das Gesicht in die Kleider der Sterbenden.

Düstere Gedanken schienen bei dieser die Aufwallung der ersten Freude nach und nach zu verdrängen; die dunklen, geisterhaften Augen öffneten sich von Neuem und hefteten sich mit verzehrendem Feuer auf die bebende Leonie. – Fürchte dich nicht, sagte sie endlich, und ihre Stimme klang hohl, sieh mich an – die Minuten sind mir gezählt – sieh deine Mutter an, bevor du sie auf ewig verlierst. – Deine Mutter, die der langen Marter endlich erliegt. – Ja, auch ich war einst schön und jung wie du, aber es war Einer da, der stärker war als ich – und der mich zertrat, bis ich das geworden bin, – was du jetzt an mir siehst. Aber du wirst mich rächen; Jahrelang habe ich nach diesem Augenblicke gelechzt, daß ich nicht sterben konnte ohne ihn. – Und du bist mein eigen Kind – ich habe mich nicht getäuscht, – und dein soll die Rache sein, daß ich mich noch im Grabe freuen kann! – Schwöre deiner Mutter, daß du sie rächen willst! – Schwöre! wiederholte sie fast tonlos und mit drohend erhobenem Finger, als das junge Mädchen sprachlos und bleich mit großen, schreckenvollen Augen zu ihr aufsah!

Da wurde die Thüre aufgerissen. Leonie! rief es laut, und ein gleichzeitiger Schrei der drei Frauen gab Antwort auf den Ruf. Es war der Graf, der eingetreten war. Leonie! wiederholte er, und in seinem Tone rangen Zorn und Schrecken um die Oberhand. Rasch ging er auf sie zu, aber mit einem wüthenden Blicke warf sich, die Kranke in die Höhe und schlug beide Arme über das junge Mädchen zusammen. Was willst du? rief sie, Diese ist mein, du hast keinen Theil an ihr.

Dein Platz ist nicht hier, Leonie, sagte jetzt der Graf mit wiedergewonnener Ruhe; entferne dich.

Mechanisch erhob sie sich, um zu gehorchen; aber es war nur ein flüchtiger Augenblick, und wenn der Graf die düstere Leidenschaftlichkeit dieser verschlossenen Natur nicht in ihrem richtigen Maß schon früher erkannt, so bot sich ihm jetzt die Gelegenheit dazu. Regungslos stand sie vor ihm und sah ihm zum ersten Male furchtlos in die Augen in einem starren, finsteren Trotze, in dem ihre zarte Gestalt weit über natürliche Größe emporzuwachsen schien. – Ich bleibe! sagte sie leise, aber fest. Ein heiseres Lachen klang durch das Zimmer; es war die Kranke, die triumphirend zu dem Grafen hinübersah.

Seine Augen blitzten, und eine dunkle Röthe bedeckte seine Stirne. Doch noch einmal bezwang er sich, er trat dem Lehnstuhle näher, in welchem die Kranke lag, und legte seine Hand auf Leonieʼs Haupt.

Ich werde sie beschützen, selbst gegen dich, sagte er. Was du ihr sagen willst, paßt nicht für ein so junges Ohr. Er sah nur den Blick der Kranken, es war ihre einzige Antwort, aber dieser Blick war eben so lauernd, entschlossen und kalt, als er ihn nur je in der vollen Kraft des Lebens an ihr gesehen. Einen Augenblick dachte er daran, das Mädchen mit Gewalt fortbringen zu lassen, aber eben so schnell gab er den Gedanken wieder auf. Seine Gestalt hob sich höher, sein zürnender Blick begegnete fest dem ihrigen.

Gut, so werde ich reden, fuhr er mit langsamer Betonung fort, und dann wähle zwischen mir und dir. Da ging eine merkwürdige Veränderung mit der Kranken vor; ihr Auge schien vor dem des gehaßten Mannes zurückzuweichen, das stechende Feuer, das ihn daraus angeglüht, erlosch nach und nach, sie schlug die bleichen Hände zitternd vor das Gesicht. Geh, hauchte sie fast tonlos, geh, Leonie, es ist besser so! und sie zog sich immer tiefer in den Lehnstuhl zurück, als schauere sie vor einem entsetzlichen Gebilde ihrer Phantasie.

Zögernd blickte das junge Mädchen zu ihr auf. Da trat der Graf hinzu, hob sie fast mit Heftigkeit von der Erde, zog sie zurück und hielt sie an seiner Seite fest. Die Augen der Sterbenden folgten ihm mit einem furchtbar angstvollen Blicke. Jetzt wendete er sich wieder zu ihr.

Du hast keinen Priester sehen wollen, daß er die Qualen deiner Seele zur Ruhe spreche, obgleich ich dich wiederholt darum bitten ließ. Nun bin ich selbst gekommen, dir ein Wort der Versöhnung mitzugeben in die letzte Heimath, zu welcher du nun gehst. Möge der Himmel dir ein milder Richter sein! Du weißt, ich habe dir längst verziehen.

Da blitzten die Augen der Unglücklichen zornglühend auf. Ich will keine Verzeihung, schrie sie laut, daß es in dem Zimmer widerhallte und Jeder entsetzt von ihr zurückwich, was habe ich mit dem Himmel zu thun? Was brauche ich deine Verzeihung? Ich fühle keine Reue – was ich that, ich thäte es wieder. – O, daß es nicht gelungen ist! Jede Freude hast du mir genommen, jede Lust des Lebens hast du mir zerstört. – Fluch dir! – Fluch Allen, die in meinem Wege standen! Weg mit deiner Verzeihung! Dem Schicksal fluche ich, das mich zertrat – und Rache – Rache – ja, Rache – Die Kräfte versagten ihr, und sie sank bewußtlos zurück. Auf ein Zeichen des Grafen wurde Leonie halb ohnmächtig hinausgebracht.

Er ließ einen Wagen kommen und fuhr mit ihr nach dem Schlosse zurück. Noch bevor er das Haus verließ, war Alles beendet, und die unglückliche Frau hatte die Ruhe gefunden, die ihr auf dieser Erde so lange Zeit gefehlt.

Gleich nach ihrer Rückkehr auf das Schloß zog sich Leonie in ihr Zimmer zurück. Kein Wort war seit dem furchtbaren Vorgang über ihre Lippen gekommen; sie schüttelte verneinend den Kopf, als der Graf ihr rieth, die Kammerfrau bei sich wachen zu lassen, und er kam selbst ein paar Mal während der Nacht, nach ihr zu sehen. Aber sie lag, ohne sich zu rühren, und er erhielt weder Blick noch Wort. Die Einsamkeit und Stille der Nacht thaten ihr wohl. Alles brannte und tobte in ihr, und der Schritt ihres Vaters ging wie ein scharfer Messerstich durch ihr Gehirn. Dennoch saß sie am folgenden Morgen angekleidet und äußerlich gesammelt, als wäre Nichts geschehen, an ihrem Platze bei dem Frühstücktisch. Der Graf machte keine Bemerkung, nur sagte er nach dem kurzen Mahle: Ich habe mit dir zu sprechen, und schweigend folgte sie ihm auf sein Zimmer. Setze dich! sagte er, und sie gehorchte seinem Befehl. Ihr gegenüber nahm er Platz.

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