Bittersüß - davor & danach

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Kapitel 2

Ella - 2010

Ich habe Angst. Schritte verfolgen mich. Noch bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich wirklich Angst haben sollte. Die schweren Schritte kommen näher, beschleunigen ihren Tritt. Verstohlen blicke ich über die Schulter. Ein großer Kerl folgt mir. Es ist viel zu dunkel, um wirklich etwas erkennen zu können. Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass es eine dumme Idee war, zu Fuß nach Hause zu laufen, um drei Uhr nachts. Doch was blieb mir anderes übrig? Auf einer Party in der Innenstadt habe ich fünfmal versucht, ein Taxi zu bekommen, bis mir wieder einfiel, dass ich bei jedem Funktaxiunternehmen nur das Besetztzeichen bekommen würde. Denn in der Nacht des Lifeball, mit den unzähligen Partys und Veranstaltungen kommt es einem Sechser im Lotto gleich, wenn es einem gelingt, ein Taxi in der Innenstadt zu bekommen. Das fünfte Besetztzeichen noch im Ohr, habe ich mich auf den kurzen Weg aufgemacht, obwohl ich sonst, auch wenn ich es mir eigentlich nicht leisten kann, ein Taxi nehme. So oft gehe ich nicht aus, damit es wirklich negativ zu Buche schlagen kann. Und doch ärgere ich mich über mich selbst, besonders jetzt, wo mir der Fremde schon so nahe kommt, dass ich sein leises Schnauben höre. Ich wünsche mir, ich hätte keine Partyklamotten an, besonders keinen kurzen Rock. Meine Beine und die aufkeimende Panik treiben mich an, schneller zu gehen. Aber ich möchte ihn nicht provozieren. So gut es geht, versuche ich im Schein der Straßenlampen zu bleiben. Kalter Schweiß bricht mir aus. Seit fünf Minuten habe ich keine Menschenseele mehr gesehen. Noch drei Straßen. Nur noch drei. Nirgends ein Taxistand zu sehen. Die kleinen Gassen liegen nicht auf einer Hauptstraße. Warum biegt er nicht einfach ab? Bieg ab!

Etwas drückt auf meine Schulter. Erschrocken drehe ich mich instinktiv um. Ein grinsender Mann mit graumeliertem Bart, deutlich älter als ich, starrt mich an. Seine Augen schwimmen. Ich sage nichts, sehe ihn nur abwehrend an. Wie von selbst wühle ich in meiner Jackentasche nach dem Handy.

„Hübsch bist du. Hab schon viel von dir von hinten gesehen.“

Er lallt. Seine Augen wandern unruhig hin und her. Den Rücken will ich ihm auf keinen Fall zudrehen, also behalte ich ihn im Blick und gehe langsam rückwärts.

„Ach komm schon. Du ziehst dich sicher nicht so an, wenn du’s nicht wollen würdest.“ Dreckig lacht er mich aus.

Übelkeit steigt in mir hoch, als er meine unbekleideten Beine anstarrt. Gerade will ich mein Handy aus der Tasche ziehen, um vor seinen Augen den Notruf zu wählen, als ich schon gegen die Hausmauer gedrückt werde. Keuchend entweicht mir die Luft zittrig aus den Lungen. Mein Puls rast, als mir klar wird, dass er mich festgesetzt hat und mein Handy auf dem Asphalt liegt, außer Reichweite. Er stinkt nach Bier und Schnaps. Instinktiv stemme ich ihn mit den Händen von mir. Zu meinem Entsetzen stelle ich wieder fest, wie klein ich bin, besonders im Vergleich mit ihm, denn er ist bullig und groß und ziemlich betrunken.

„Komm schon … Lass mich ran“, sagt er immer wieder, während ich alles tue, um ihn abzuwehren. Meine Hände geben nach. Sein Mund drängt sich an mein Ohr, sein Atem streift meinen Hals. Ich spüre allzu deutlich, wie abgehackt meine Atemstöße sind. Ich möchte schreien, aber es gelingt mir nicht. Um ihn und seine Gier nicht sehen zu müssen, presse ich die Augen zu. Meine Hände drücken so fest sie können. Sie sind zu schwach. Als er sich am Reißverschluss meiner Jacke zu schaffen macht, schreie ich entsetzt auf.

„Hey, du, lass das Mädchen los!“, höre ich eine Männerstimme, die meine verzweifelten Gedanken ausspricht. Mit aufgerissenen Augen versuche ich über meinen Angreifer hinwegzusehen, um den Ursprung der Stimme zu sehen. Doch er überragt mich. Alles, was ich sehe, ist seine breite Brust.

„Bist du taub? Du sollst sie loslassen!“ Die Stimme wird schneidender. Sie ist das schönste Geräusch der Welt, diese Stimme. Auf der Schulter des Mannes, der sich immer noch an mich drängt, taucht eine Männerhand auf, die ihn von mir zerrt. Ich sacke zusammen, als der Fremde es schafft, meinen Angreifer zurückzuziehen. Nur die Hausmauer in meinem Rücken hält mich noch gerade so aufrecht. Jetzt kann ich ihn erkennen. Ein junger Mann mit dunklen Haaren steht dem breiten Kerl, der mich bedrängt hat, gegenüber. Sein Körper wirkt angespannt, vorsichtig. Die beiden starren sich gegenseitig an.

„Verpiss dich! Das geht dich nichts an“, pöbelt er den jungen Kerl an, der mir einen kurzen Blick zuwirft. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie beide deutlich schnaufen. Der junge Kerl, der nicht viel kleiner ist als der andere Mann, versucht ruhig zu bleiben. Ich kann es ihm deutlich ansehen.

„Geh und schlaf deinen Rausch aus, Mann … ehe es dir richtig leidtut.“ Er klingt entschlossen und gefährlich. Langsam macht er einen Schritt auf den betrunkenen Kerl zu. Er trägt nur ein Shirt, unter dem sich deutlich seine Muskeln abzeichnen. Auch wenn er schmaler als der andere Mann aussieht, wirkt er durchtrainiert und zeigt keine Angst einem Kerl gegenüber, der betrunken und zudringlich ist. Mir wird klar, dass ich die Luft anhalte und Angst um den jungen Fremden habe, der gekommen ist, um mir zu helfen. Der Betrunkene scheint noch etwas Verstand beisammenzuhaben, denn er macht endlich ein paar Schritte rückwärts. Seine Ferse kippt über den Randstein und er stolpert mit den Armen rudernd auf die Straße, lachend und wütend zugleich.

„Scheiß auf dich!“, nuschelt er vor sich hin, torkelt von links nach rechts. „Scheiß auch auf die blöde Kleine.“

Der dunkelhaarige Kerl lässt ihn nicht aus den Augen, auch jetzt nicht, als er sich von uns entfernt und in Richtung des Parks schwankt. Erst als ihn die finstere Parkanlage verschluckt hat, lasse ich die angestaute Luft aus meinen Lungen. Mein Retter steht zwei Schritte neben mir und sieht noch angespannt in die Richtung, in die der Kerl verschwunden ist. Ohne ihn wäre das hier nicht gut ausgegangen. Mit kalten, zitternden Händen fasse ich nach seinem Arm, damit er mich ansieht.

„Danke“, sage ich so fest ich kann. Als ich ihn dabei berühre, sieht er zu mir. Er hat erstaunlich blaue Augen. Selbst bei diesem trüben Straßenlicht kann ich es erkennen. Außerdem ist er ein sehr gut aussehender Mann in meinem Alter, vielleicht auch ein paar Jahre älter.

„Du hattest Glück, dass ich zufällig auf dem Heimweg war“, sagt er bekümmert.

„Ich weiß“, sage ich vor mich hin. Mir ist seltsam heiß und kalt, so als wäre nur ein Teil von mir anwesend.

„Es war kein Taxi zu bekommen. Ich musste zu Fuß gehen“, sage ich, auch wenn er gar nicht danach gefragt hat. Ich beginne zu schwafeln, was ich nur dann tue, wenn ich nervös oder vollkommen daneben bin.

„Ging mir auch so“, entgegnet er und schenkt mir ein vorsichtiges Lächeln. In dem Moment bin ich mir sicher, dass ich noch nie einem so attraktiven Mann begegnet bin. Ich bin mir aber nicht ganz sicher, ob das an der Tatsache liegt, dass er sich heute Nacht zu meinem Retter aufgeschwungen hat, oder daran, dass er einfach viel zu heiß ist, um etwas anderes überhaupt gelten zu lassen. Seinem Lächeln weicht ein besorgter Blick.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, fragt er mich vorsichtig und blickt auf meine halboffene Sommerjacke. Sofort ziehe ich den Reißverschluss hoch. Und etwas daran macht mir erst klar, was alles hätte passieren können. Ich bin mitten in der Nacht von einem Fremden angegriffen worden, der sich an mir vergehen wollte, und wäre er nicht gekommen …

Bevor ich weiß, wie mir geschieht, laufen mir Tränen über die Wangen, und ich zittere, als wäre es eisiger Herbst und keine laue Sommernacht, in der es immer wieder zu regnen beginnt. So wie jetzt. Besorgt sieht er mich an, blickt von mir nach oben zum Nieselregen und wieder zu mir. Meine Nase läuft. Ich wische mir mit dem Ärmel darüber. Mir ist schlecht. Der Typ hätte mich fast …

Plötzlich bemerke ich, dass ich gegen seine Brust gedrückt werde und starke Hände mir sanft über den Rücken streichen. Die Stimme, die ich nie wieder vergessen werde, sagt immer wieder zu mir: „Das wird wieder. Jetzt ist alles vorbei.“

„Tut mir leid. Ich … Das alles hat mich ziemlich erschrocken“, erkläre ich ihm schniefend. Er lacht über meinen Versuch, mir den Regen vom Gesicht abzuwischen, obwohl ich tränenüberströmt bin.

„Na, komm schon. Ich bring dich sicher nach Hause“, bietet er an. „Wenn das okay für dich ist.“

Gerade habe ich ihm heulend im Arm gelegen. Daher ist es bestimmt okay für mich, wenn er mich nach Hause bringt, wo ich diesen schrecklichen Vorfall für immer vergessen möchte. Ich nicke, da ich meiner Stimme nicht zutraue, zuversichtlich zu klingen. Als wir die Straße zu meiner Wohnung entlanggehen, werfe ich verstohlene Blicke zu ihm. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber auch wenn ich noch immer Angst habe, wegen dem, was vorhin passiert ist, geht dieses Gefühl einfach weg, wenn ich ihn ansehe. Das ist so seltsam. Ich kenne ihn doch gar nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass er groß ist, durchtrainiert, dunkelhaarig, verdammt gut aussieht und die blauesten Augen hat, die ich je bei einem Mann gesehen habe. Kurz vor meiner Wohnungstür bemerkt er, dass ich ihn musterte. Sein selbstbewusstes Grinsen verrät es mir. Irgendwie scheint es ihm zu gefallen. „Wenn du mich weiter so anstarrst, werde ich mein Ego nie in den Griff kriegen. Und es gibt Leute, genauer gesagt Frauen, die das gar nicht gerne hören.“ Ich weiß nicht genau, wie ich auf diese Bemerkung reagieren soll. Will er mir damit sagen, dass die Frauen ihn für zu arrogant oder zu selbstbewusst halten? Nicht, dass es nicht nachvollziehbar wäre. Wenn ich ehrlich bin, sieht er aus, als wäre er für die Frauenwelt gemacht.

 

Er ist absolut nichts für mich. Auch wenn das gar nicht zur Diskussion steht. Denn er ist genau der Typ Mann, der umwerfende Typ Mann, mit dem ein Mädchen wie ich nie was anfangen wird. Er und ich, wir spielen nicht in derselben Liga, das sieht man sofort. Jemand wie er geht mit Frauen aus, die photoshopgestylte Profilbilder auf Facebook haben oder Vorsprechtermine. Herrgott, worüber denke ich bloß nach? Ich bin überfallen worden auf dem Weg zu meiner Wohnung. Darüber sollte ich mir Gedanken machen, nicht über das Privatleben meines Helfers in der Not.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht anstarren. Ich weiß einfach nicht, wie ich dir danken soll für deine Hilfe.“ Sanft lächelnd sieht er mich an. „Da es fast drei Uhr ist, könnte ich wirklich einen warmen Ort gebrauchen, bis ich mir ein Taxi rufen kann. Über etwas Warmes zu trinken würde ich mich auch freuen.“ Ich starre auf mein Handy, das ich von der Straße aufgelesen habe, und auf die Wohnungsschlüssel in meiner Hand. Was wäre schon dabei? Er hat mich vor diesem Kerl bewahrt, und außerdem möchte ich nicht allein sein, auch wenn mir meine Wohnung als ein sicherer Ort erscheint, gibt es einen erschütterten Teil in mir, der jetzt nicht allein und schutzlos sein möchte.

„Natürlich. Das ist doch das Mindeste.“ Ich stecke den Schlüssel in das Tor. „Komm rein.“

Er folgt mir durch den dunklen, stillen Hausflur. Ich wohne in der einzigen Wohnung hier unten. Es ist ein sehr kleines Apartment in einem Altbau, das früher bestimmt dem Portier oder Hausmeister gehört haben muss, denn es ist wesentlich billiger und kleiner als die übrigen Wohnungen. Doch in den letzten Jahren ist es mein kleines Reich geworden. Und noch nie war ich so froh wie heute, hierher zurückzukehren und die Tür hinter mir abzuschließen. Auch wenn die ungeplante Anwesenheit eines völlig fremden Mannes die Vertrautheit meiner vier Wände verändert.

Er ist sehr still, als er durch meinen kleinen Flur tritt, um in den großen Raum zu gelangen, der im Grunde schon so ziemlich alles ist, was ich zu bieten habe. Dahinter gibt es noch ein kleines Bad und eine Küche. Normalerweise stört es mich nicht, dass sich mein Bett gut sichtbar im Hauptraum befindet. Doch jetzt, hier mit ihm, macht es mich nervös und befangen. Wenn er nur endlich etwas sagen würde.

„Schöne kleine Wohnung. Du hast das Beste aus ihr gemacht.“

Dieser Kommentar irritiert mich. Fragend starre ich ihn an.

„Ich arbeite als Trainee in einem Architekturbüro. Beim Studium haben wir auch Räume in Altbauwohnungen wie dieser hier durchgenommen. Nicht jeder kann aus einer Raumstruktur wie deiner eine gemütliche Wohnung machen.“ Er lächelt mich an. „Du schon.“ Wie von selbst erwidere ich sein Lächeln. Erst als ich meine wringenden Hände bemerke, weiß ich, wie nervös er mich wirklich macht.

„Danke. Ich musste mit wenig auskommen. Aber ich wollte mich hier wohlfühlen … Auch wenn ich fürchte, dass das heute unmöglich ist.“ Müde lasse ich mich auf die Couch fallen. Er kommt zu mir rüber und setzt sich neben mich. Wir haben immer noch unsere Jacken an.

„Wir können weiter über Einrichtungen reden, wenn du willst, oder du sagst mir, wie es dir wirklich geht … Hey, sieh es mal so. Wir kennen uns nicht. Das heißt …“ Sein Blick wechselt von fürsorglich zu frech. „… deine Geheimnisse sind bei mir sicher.“

Mir entkommt ein nervöses Lachen. Seine Stimme und seine Blicke stellen komische Dinge mit mir an, vor allem mit meinem Magen und meiner Haut. Als würde ein elektrisches Prickeln über sie streichen. Ich weiß, der Kerl will nur nett sein, versucht mich aufzumuntern und ist es bestimmt gewohnt, immer und überall zu flirten. Aber er sollte damit aufhören. Denn auch wenn mir mein Verstand sagt, dass es dazu nie kommen wird, versucht mir mein Körper etwas ganz anderes vorzuspielen. Dabei bin ich gar nicht der Typ, der gleich so auf einen Mann reagiert, nur weil er gut aussieht und eine unleugbare Anziehungskraft besitzt.

„Was, wenn ich keine Geheimnisse habe, die ich dir anvertrauen könnte?“

„Dann solltest du das schleunigst ändern. Ein Mädchen wie du sollte ein paar Geheimnisse haben.“ Ich streife die Jacke ab, während ich lächelnd klarstelle: „Du flirtest wohl immer und bei jeder Gelegenheit. Selbst nachts um drei nach einer Rettungsaktion.“ Schmunzelnd zuckt er mit den Achseln. Als er mein Kleid sieht, das zugegeben offenherziger ist als das, was ich normalerweise trage, verschwindet sein Grinsen und ein konzentrierter Ausdruck legt sich über sein Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich mir jemals meines eigenen Körpers so bewusst war wie in diesem Moment, als er ihn sich so ungeniert ansieht. Fast so, als wäre das Kleid gar nicht da.

„Gegenfrage: Wie soll ich nicht flirten, wenn du so ein Kleid anhast?“ Mit sich selbst zufrieden beißt er sich lächelnd auf die Unterlippe, woraufhin ich den Kopf schüttele. Der Kerl ist ein echter Herzensbrecher. Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, dass die Heizkosten jedes Jahr steigen. Aber auch wenn ich nicht der Typ Frau bin, der ständig flirtet, möchte ich mich nicht blamieren. Nicht vor ihm.

„Das Argument lasse ich gelten. Doch ich laufe nicht immer so herum. Also … willst du nun etwas trinken?“

„Na gut. Ich bin nicht wählerisch. Was immer du mir bringst, ich werde es trinken.“ Erleichtert, seiner unmittelbaren Nähe zu entkommen, gehe ich in die winzige Küche und schenke uns zwei Eistee ein. Als ich mich umdrehe, steht plötzlich jemand vor mir und ich zucke merklich zurück. Ich erkenne, dass er es ist. Doch es ist zu spät. Mein Verhalten ist mir peinlich. Es gelingt mir einfach nicht, die Gläser in meiner Hand vom Zittern abzuhalten, derart habe ich mich erschrocken.

„Ich denke, die Sache hat dich mehr mitgenommen, als du denkst“, ermahnt er mich sanft und nimmt mir dabei vorsichtig die Gläser ab, bevor ich sie noch fallen lasse. Ich bin vollkommen verkrampft und fühle mich erbärmlich. Dieser Angriff und was passieren hätte können, nagen an mir, auch wenn ich es lieber verdrängen möchte.

„Vielleicht hast du recht“, gebe ich zu, sehe ihn dabei aber nicht an. „Was hältst du davon, wenn ich heute auf deiner Couch schlafe, bis morgen die erste U-Bahn fährt? … Ich verspreche, jeden, der diese Wohnung betritt, grün und blau zu schlagen. Freund oder Feind.“ Abwartend sieht er mich an, bis ich zurückblicke.

„Deal?“ Dankbar lächele ich zurück. „Deal“, antworte ich.

„Gut, dann bestehe ich auf mindestens einer Decke.“

„Geht in Ordnung.“

Während ich ihm ein improvisiertes Bett auf der Couch herrichte, kommt mir in den Sinn, dass dies der mit Abstand merkwürdigste Abend meines bisherigen Lebens ist. Ich wurde angegriffen, jemand hat mich gerettet und ein fremder Kerl, der aussieht wie der wahr gewordene Traum jeder Frau, schläft nicht mal eine Stunde später in meiner Wohnung. Nichts davon klingt nach etwas, das normalerweise in meinem Leben stattfindet. Ich bemerke erst, dass ich in Gedanken war, als er von hinten um mich fasst, um meine Jacke von der Couch zu ziehen, ehe ich die Decke darüber ausbreiten kann. Dankbar dafür lächele ich ihn an und versuche vergeblich, das Flattern in meinem Bauch und die Wärme in meiner Brust unter Kontrolle zu bekommen. In Jeans und Shirt bekleidet legt er sich hin. Ohne mich abzuschminken, drehe ich mich um, ziehe das dunkelblaue Kleid aus und das Shirt und die Shorts zum Schlafen an. Kurz habe ich das Gefühl, er beobachtet mich dabei, aber ich traue mich nicht, nachzusehen. Als ich mich hinlege und die Decke hochziehe, kommt mir, wie albern das doch ist. Als würde jemand wie er eine wie mich beim Umziehen beobachten. Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, sinke ich in einen erschöpften Schlaf, kaum dass mein Kopf das Kissen berührt.

Noch bin ich nicht wach, nicht richtig. Deutlich spüre ich, dass die Muskeln in meinen Beinen verkrampfen und meine Finger die Decke so fest zusammenpressen, dass meine Knöchel schmerzen. Mein Herz rast und das Gefühl von Panik und Furcht verschwindet nicht. Sinnlos versuche ich es zu verscheuchen, indem ich meinen Kopf hin und her schüttele. Schweiß hat sich auf meinen Schläfen gebildet und eine schwere Last scheint mir auf der Brust zu liegen, die mich immer weiter aus dem Schlaf reißt. Was genau ich geträumt habe, weiß ich gar nicht. Aber es hinterlässt ein zähes, scheußliches Gefühl, das mich zwingt, die Augen zu öffnen. Sofort erstarre ich. Da liegt ein Männerarm um meine Hüften. Zugegeben, ein schöner Männerarm. Dennoch hat er nichts hier in meiner Wohnung oder gar in meinem Bett verloren. Da fällt es mir wieder ein, alles, was gestern Nacht passiert ist, und auch der fremde junge Kerl, der mir geholfen hat. Nur, warum zum Teufel liegt er hier mit mir im Bett? Er sollte eigentlich dort drüben auf der Couch liegen. Noch bevor ich den dicken Kloß im Hals hinunterschlucken kann, drehe ich mich vorsichtig um. Blaue wache Augen erwarten mich. Der grinsende Herzensbrecher von gestern scheint verschwunden und ein befangener ernster Mann an seiner Stelle liegt neben mir. Besorgt und als würde ihn die Situation mindestens so verlegen machen wie mich, starrt er mir weiter ins Gesicht. Beim Blinzeln merke ich, dass die Wimperntusche von gestern bestimmt um meine Augen verteilt sein muss. Mein Herzschlag steckt mir im Hals, weshalb ich weiter schweige.

„Du hattest ein paar Alpträume … Als du angefangen hast, zu wimmern, wusste ich nicht, was ich machen soll“, flüstert er. Sehr langsam nimmt er seinen Arm von mir. Ich kann jeden Zentimeter, den er mich loslässt, deutlich auf meinem Unterbauch fühlen. Ich bekomme Gänsehaut davon, nur weil er mich vage berührt.

„Tut mir leid“, flüstere ich zurück, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entspricht.

„Du hast erst aufgehört, als ich mich neben dich gelegt und dich festgehalten habe.“ Wieder sieht er mich so merkwürdig an, als hätte er jemanden wie mich noch nie gesehen.

„Das war sehr nett von dir. Offenbar war ich verstörter, als mir bewusst war“, gebe ich zu. „Ich kann mich gar nicht erinnern, was ich da geträumt habe. Nur eines weiß ich, schön war es nicht.“ Er versucht sich in einem Lächeln und streicht mir das wirre Haar von der Stirn.

„Das glaube ich dir“, antwortet er, sieht dann auf seinen Arm und zieht ihn schnell zurück, als wäre ihm die Geste peinlich. Mir ist peinlich, dass die Träger meines Oberteils von meiner Schulter gerutscht sind und ich ihm fast schon meinen tiefen und BH-losen Ausschnitt präsentiere, den er sehr dezent anstarrt. Inzwischen müsste mehr Morgenrot in meinem Gesicht glühen als draußen am Himmel. Leider ist es hell genug, um zu sehen, dass mich diese ungewöhnliche Schlafgemeinschaft alles andere als kaltlässt. Manchmal wünschte ich, dass man mir nicht immer alles von der Nase ablesen kann. Denn sein wissendes Grinsen macht die ganze Situation noch ein wenig unangenehmer, so dass sich mein Magen wieder meldet. Aber wer kann es mir verdenken. Da liegt ein völlig fremder Mann in meinem Bett, der mich die halbe Nacht lang gehalten hat und dessen Namen ich nicht mal kenne. Und der Augenblick, ihn ganz beiläufig danach zu fragen, ist bereits Stunden zuvor die Donau hinabgeflossen. Umständlich rücke ich von ihm ab, behalte die Decke um mich geschlungen und stolpere zur Couch. Wieso muss ich auch derart kurze Schlafshorts im Sommer tragen? Als ich mit den Zehen gegen den Couchtisch stoße und aufjaule, höre ich ihn unterdrückt lachen.

„Gib dir keine Mühe. Ich habe die Nacht über so ziemlich alles von deinen Beinen gesehen, was deine Shorts herzeigen. Und das ist schon eine Menge.“ Inzwischen strahlt er übers ganze Gesicht. Meine Verlegenheit scheint ihn zu amüsieren. Finster starre ich ihn an, damit er aufhört, mich in Verlegenheit zu bringen. Aber er denkt nicht dran, lehnt sich entspannt zurück und flüstert weiter Unverschämtheiten vor sich hin. „Zum Glück für mich sind auch die Träger deines Shirts deinen weiblichen Argumenten nur mäßig gewachsen.“ Okay, jetzt reicht es mir. Ich balle die Decke zusammen und werfe sie in seine Richtung. Lachend verschwindet er darunter. Muss er mich so bloßstellen?

Ich habe nicht die Figur, um mich einem Mann so zu präsentieren, das weiß ich. Aber wieso muss er dann ständig meinen Körper zum Thema machen? Typen wie er betreiben viel Sport und stehen auf große, sehr schlanke Frauen mit wenig Busen, so gut wie kein Fett und endlos schlanken Beinen. Ich bin eher klein. Bin ich nun mal. Und etwas kurvig und ja, mit mehr Busen gesegnet, als ich eigentlich möchte. Fahrig zupfe ich endlich die Träger zurecht. Gut gelaunt wühlt er sich aus der Decke und ignoriert meine mahnenden Blicke.

„Wie sieht es mit einem Kaffee aus, ehe du mich rauswirfst?“

 

„Geht klar, solange du aufhörst, mich weiter in Verlegenheit zu bringen“, warne ich ihn und verschränke die Hände vor der Brust. „Ja zum Kaffee und nein zum anderen. Du machst es mir zu leicht … Weißt du denn nicht, dass du gerade deinen Busen sehr vorteilhaft machst, dadurch …“ Zufrieden deutet er mit einem Nicken auf meine Arme, die ich daraufhin sofort fallen lasse. Ich verdrehe die Augen und schalte die Kaffeemaschine an. Verzweifelt wünsche ich mir, der Ansatz meines Pos würde nicht aus meinen Shorts hervorlugen. Doch wenn ich daran zupfe, stachelt ihn das nur mehr an, also lasse ich es. Mit zwei dampfenden Tassen gehe ich zur Couch, wo er schon wartet. Unfair wie das Leben ist, sieht er vom Schlaf zerzaust sogar noch heißer aus, während ich wie eine nass gewordene Katze mit verschmiertem Mascara aussehen muss. Um das zu wissen, brauche ich keinen Spiegel. Verstohlen fahre ich mir wenigstens über die Haare, die weder richtig blond noch richtig braun sind. Meine Freunde trösten mich immer damit, dass ich Meredith-Grey-Haare habe, aber da ich mir sicher bin, dass sie es nur nett meinen, hilft es nicht. Ich bin einigermaßen hübsch, mehr aber auch nicht. Dieser Kerl ist kein Typ für einigermaßen hübsch. Er ist der Typ für absolut wunderschön, etwas, das ich nie sein werde. Vielleicht nerven mich deswegen seine Sprüche so sehr.

„Hier.“ Ich gebe ihm den Kaffee, den er in zwei Zügen leert. Mein Magen ist zu nervös, um ihn richtig trinken zu können, also gönne ich mir nur ein, zwei Schluck zum Wachwerden.

„Seltsam“, sagt er. „Aber ich bin mir sicher, dass du das süßeste Mädchen bist, dem ich je begegnet bin.“ Spätestens jetzt tobt auf meinen Wangen ein Inferno. Als ich an mir runtersehe, beschämt durch seine Worte, sehe ich, dass die Röte sogar bis zu meinem Dekolletee vorgedrungen ist. Grinsend bemerkt er es ebenfalls.

„Du scheinst wirklich darauf zu stehen, mich in Verlegenheit zu bringen“, werfe ich ihm vor.

„Wie gesagt: Du machst es mir auch zu leicht.“ Kopfschüttelnd stellt er die Tasse auf den Beistelltisch. „Warum wirst du eigentlich bei allem, was ich zu dir sage, dermaßen rot? Dabei sind meine Kommentare noch im grünen Bereich ... Glaub mir, wenn ich dich richtig in Verlegenheit bringen wollte, würde ich noch ganz andere Dinge sagen.“ Schockiert starre ich ihn an. Wie meint er das denn?

„Und was hast du davon?“, frage ich irritiert.

„Erstens wirst du dann so schön rot und blickst süß und verschämt drein. Das ist mal etwas anderes … Und zweitens brenne ich darauf zu wissen, was passieren würde, wenn ich dich mal richtig in Verlegenheit bringe.“ Sein glühender Blick streift über meinen ganzen Körper, ehe er mir herausfordernd ins Gesicht sieht. Überrascht über mich selbst antworte ich ihm, ohne darüber nachzudenken: „Und warum denkst du, ich würde dir erlauben, mich richtig in Verlegenheit zu bringen?“ Trotz Röte im Gesicht halte ich seinen blauen Augen stand, deren Anblick mir heiße Wellen über die Haut jagt.

„Ich habe da so eine Ahnung, dass ein Teil von dir das gerne möchte.“ Grinsend schüttle ich den Kopf. Bevor das hier noch ausartet, starre ich auf die Uhr. Es ist fast sieben. „Inzwischen fahren die U-Bahnen schon“, erinnere ich ihn.

„Du kannst es gar nicht erwarten, mich loszuwerden. Dabei war ich gestern noch so nützlich.“ Das war nicht fair. Er versucht mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

„Na gut, ich schulde dir etwas für deine Hilfe gestern. Was möchtest du als Dank gerne haben?“

„Oh, da würde mir einiges einfallen … Aber im Moment reicht mir schon deine Handynummer, fürs Erste.“ Selbstbewusst zuckt er mit den Augenbrauen. Der Kerl weiß, dass er mich am Haken hat, wenn er mich am Haken haben will. Doch ich halte das nur für leeres Gerede. Ich werde ihm meine Nummer geben und schon bei der nächsten umwerfenden Frau vergisst er mich anzurufen. Wie Madline aus dem Hotelmanagement-Seminar immer sagt: Traue nie umwerfenden Kerlen mit blauen Augen. Ich sollte auf Madline hören, doch ich merke, wie meine Finger, diese Verräter, nach dem Handy fassen, um ihm meine Nummer zu geben. Er tippt sie ein, ruft mich testweise an und legt dann auf.

„Zu spät. Jetzt habe ich deine Nummer. Kein Rückzieher mehr möglich“, warnt er mich bestens gelaunt und steht dabei auf. Was soll’s. Er ruft ohnehin nicht an.

„Ich bringe dich noch raus.“

Da er in ziemlichem Tempo vorgeht, bleibt mir keine Zeit mehr, mir was überzuziehen. Also folge ich ihm in Shorts in den kalten Eingang meines Wohnhauses. Zum Glück ist niemand hier. Kurz vor dem Tor dreht er sich um und fragt: „Wie heißt du eigentlich?“ Ich muss lachen, weil ihm anscheinend jetzt erst auffällt, dass er meinen Namen nicht kennt. Aber flirten konnte er mit mir.

„Ich heiße Ella.“

„Ein schöner Name. Woher kommt er?“

„Meine Mutter war total verrückt nach France Gall.“ Verständnislos sieht er mich an. „Ihr Song … Ella, elle l’a … Na jedenfalls ist ihr ausgerechnet bei meiner Geburt wieder eingefallen, wie toll sie doch diesen französischen Popsong findet. Also – Voilà – hat sie mich nach dem Song benannt.“

Strahlend lächelt er mich an. „Und wie heißt du?“ Seine Mundwinkel sacken ein wenig nach unten.

„Meine Leute haben mich Jan genannt … Und ich bezweifle, dass es dafür einen Grund gegeben hat. Vermutlich haben sie einfach nach einem Namen mit J gesucht.“ Bitter schnaubt er.

Dieser Laut passt so gar nicht zu dem lebenslustigen, ständig flirtenden Kerl, den ich die letzten Stunden kennengelernt habe. Doch so schnell es gekommen war, verschwindet es wieder und er scheint wieder ganz der Alte.

„Also, deine Nummer habe ich ja jetzt, Ella. Sei gewarnt, denn ich werde sie auch benutzen“, warnt er mich mit dem Handy wedelnd. Ich schüttle zur Antwort grinsend den Kopf und versuche dabei, die herrliche Nervosität, die mich in seiner Nähe fest im Griff hat, abzuschütteln. Erfolglos.

Jan nimmt die Klinke des großen Eingangstors in die Hand. Knarrend öffnet sie sich.

„Mach’s gut, Jan. Und … danke für alles“, verabschiede ich mich. Er gibt der Tür einen Stoß, murmelt ein „Bis bald“ und verschwindet dann. Auf dem Weg zurück zur Wohnung kann ich immer noch nicht glauben, dass das alles passiert ist. Tief in Gedanken zupfe ich an meiner Unterlippe und höre schnelle Schritte hinter mir, als mich jemand plötzlich an der Schulter packt und umdreht. Jan steht schwer atmend vor mir. Ehe ich noch wirklich begreifen kann, dass er nochmal zurückgerannt ist, drängt er mich schon gegen die kalte Mauer. Seine blauen Augen bohren sich in meine. Er drängt mich gegen die Wand und küsst mich, wie ich noch nie geküsst wurde. Ich fühle den Druck seiner Fingerspitzen überdeutlich auf meiner Schulter. Seine Lust und meinen Hunger. Er packt mich an der Hüfte und drückt seinen Mund auf meine Lippen. Eigentlich sollte ich erstaunt sein. Ich bin es auch. Doch mein Mund scheint wie für diesen Kuss gemacht. Ich erwidere ihn, ohne darüber nachzudenken, öffne den Mund für ihn. Sein heißer Atem macht mich ganz schwindelig, und als unsere Zungen sich berühren, explodiert etwas in mir.

Ich bin bereits zweiundzwanzig, doch noch nie habe ich mich so gefühlt, wenn mich ein Mann mit seinem ganzen Körper küsst. Wir können gar nicht mehr aufhören. Ich presse ihn fest an mich. Es ist mir vollkommen egal, ob mich jemand sieht. Sein Unterbleib drückt noch drängender gegen mich, als unsere Zungen sich umeinanderschlingen. Ich habe noch nie solchen Hunger in mir verspürt, als wäre er das Einzige, was mich nährt, und egal wie viel ich esse, ich werde nicht satt, sondern immer nur hungriger und hungriger.