Dunkle Geheimnisse

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Kapitel 8 - Tag 6 - Samstag

Zu Vannys Verwunderung hatte sie ganz ausgezeichnet geschlafen und fühlte sich sowohl erholt als auch gestärkt. Die gestrigen Ereignisse schienen ihr nun nicht mehr ganz so nah und niederschmetternd. Natürlich dachte sie auch an die Aussprache mit Keigo sowie die Verabredung zum Frühstück. Zum Glück hatte sie ihren Wecker gestellt, sonst hätte sie tatsächlich verschlafen. Es war seltsam, denn so tief und fest schlief sie normalerweise nie. Der gestrige Tag musste sie wirklich ans Ende ihrer Kräfte gebracht haben, anders konnte sie es sich nicht erklären. Schnell bereitete sie für Ernst Kaffee zu und verließ zügig das Haus, um ihm nicht begegnen zu müssen. So hatte sie genug Zeit, gemütlich ins Dorf zu radeln - ohne hetzen zu müssen. Die frische Morgenluft tat ihr gut und sie hatte das Gefühl, mit jedem weiteren Meter, den sie sich vom Haus entfernte, ihre Probleme Stück für Stück hinter sich zu lassen. Erfreut fuhr sie zum Treffen mit ihren neu gewonnenen Freunden.

*

„Vanny, Vanny, hier sind wir!"

Aufgeregt und fröhlich kam ihr der kleine Robin entgegengerannt. In seinen etwas zu weiten Latzhosen sah er einfach zu putzig aus. Am liebsten hätte sie ihn geknuddelt und nicht mehr losgelassen. Da jedoch auch Enjoji anwesend war und sie schon ansah, als würde er ahnen, was in ihr vorging, ließ sie es lieber bleiben, um blöde Kommentare und schlechte Stimmung zu vermeiden. Der Jüngste von ihnen plapperte munter darauf los, während sie mit ihm händchenhaltend zu den anderen ging. Nina kam auf ihre Freundin zu und umarmte sie herzlich. Keigo nahm sie etwas zaghafter, allerdings nicht weniger intensiv, in den Arm. Enjoji nickte ihr nur kurz mit versteinerter Miene zu, mehr hatte sie allerdings auch nicht von ihm erwartet. Wie konnte man nur ständig so mies drauf sein? Das musste doch anstrengend sein. Oder lag es vielleicht an ihr? Sie konnte sich jedenfalls nicht erinnern, ihm irgendetwas getan zu haben. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur viele Probleme, von denen sie nichts wusste.

Gemeinsam betrat die Gruppe das gemütliche Café und setzte sich an einen größeren Tisch in einer Ecke des Raumes. Die Stimmung war recht ausgelassen, der Morgenschmaus war einfach, aber gut, und sie sprachen zuerst über lustige Alltagsthemen. Vanny konnte ihre Sorgen für ein paar glückliche Augenblicke vergessen und die entspannte Atmosphäre genießen.

„Enjoji, du bist gemein! Das ist mein Muffin!"

Robin fing an zu quengeln, als ihm sein großer Bruder den Muffin vom Teller stibitzte und streckte vergeblich seine Hände nach dem gestohlenen Schokoteilchen aus. Der Anblick war herzerweichend, doch der Dieb erwiderte fies grinsend:

„Du hast doch eh keinen Hunger mehr! Die Portion war und ist für dich viel zu groß. Außerdem wirst du nur dick davon, wenn du ihn dir lustlos reinstopfst. Dann bist du ein kleiner Pummel!“

Dem Kleinen blieb der Mund offen stehen und er fing an zu wimmern. Nina schüttelte den Kopf, versetzte Enjoji einen Klaps auf den Hinterkopf und reichte dem Jungen ihren Muffin mit einem sanften Lächeln, das Vanny von Anfang an in ihren Bann gezogen hatte.

„Hier, du kannst meinen haben. Lass dir nichts einreden. Dein Bruder ist hier der Vielfraß und nicht du!“

„Aber ... dann hast du doch keinen mehr!“, protestierte Robin leise, aber bestimmend. Noch bevor Nina etwas darauf entgegnen konnte, nahm er den Muffin, brach ihn entzwei und gab ihr das größere Stück davon zurück.

„Ach, du bist ja süß!“

Nina knuddelte gerührt den Jungen kurz durch. Enjoji schmollte gespielt, Keigo und Vanny grinsten sich an, und genau in diesem Moment klingelte Vannys Handy. Verwundert kramte sie es aus ihrer Hosentasche. Die ganze Zeit über hatte sie im Haus und in der Umgebung keinen Empfang gehabt, doch hier im Dorf schien es zu funktionieren. Mit kindlicher Erwartung und großer Neugierde entschuldigte sie sich kurz und ging zum Lesen der Nachricht nach draußen. Wie ein Kind, das sein Weihnachtsgeschenk öffnet, bediente sie ihr Handy und öffnete die Nachricht.

Hi Süße, was ist denn bei dir los? Ist irgendetwas passiert? Wo steckst du bloß? Bist du rechtzeitig zu meiner Party zurück? Stell dir vor, Gil wird auch kommen! Das ist die Gelegenheit! Da kannst du mich doch nicht hängen lassen?! Bitte melde dich mal, ich mache mir echt Sorgen. LG Katrin

Vanny zog überrascht eine Augenbraue hoch. Sie hatte ihrer Freundin doch mitgeteilt, dass sie die ganzen Ferien vermutlich bei ihrem Onkel verbringen musste, weil ihre Eltern auf Geschäftsreise waren. Wieso also diese seltsame SMS? Sie sah auf das Datum, das verriet, wann die SMS gesendet worden war. Laut Anzeige war sie gerade eben verschickt worden. Immer noch irritiert antwortete sie ihrer Freundin rasch und steckte das Handy schnell wieder ein, und gesellte sich zu den anderen zurück.

*

Nachdem sich alle satt gegessen hatten, waren sie auf Robins Drängeln hin zum Spielplatz gegangen. Diesmal waren auch zwei Kinder seiner Altersklasse dort und der Kleine rannte strahlend zu ihnen. Vanny betrachtete gedankenverloren den spielenden Robin und musste lächeln. Wie würde es wohl in zehn Jahren sein? Würde sie dann ein Haus, einen Mann und eventuell sogar so einen kleinen süßen Sohn haben? Falls ja, könnte sie sich gut vorstellen, ihn Robin zu nennen. Verträumt seufzte sie leise auf.

„Hey, was gaffst du hier so gruselig meinen kleinen Bruder an?“

Enjoji hatte sich frech vor sie gestellt und verschränkte provokativ seine Arme vor der Brust.

„Mit dir würde das schon mal nichts“, murmelte sie resigniert mit gesenktem Kopf vor sich hin. Ihr Gegenüber schaute sie irritiert an und konnte natürlich nicht verstehen, was sie mit dieser Aussage meinte.

„Wie bitte? Was meinst du? Hab ich was verpasst?“

„Na mein ...“, Vanny stockte abrupt. „Vergiss es, nicht so wichtig. Sag mal, du musst doch ziemlich stolz auf ihn sein, oder?“, versuchte sie sich schnell aus der peinlichen Situation zu retten. Allerdings ließ sie ihn nicht antworten, um sich bissige Kommentare zu ersparen. „Ich selbst hab leider keine Geschwister, obwohl ich mir immer welche gewünscht habe. Es muss schön sein, jüngere Brüder und Schwestern zu haben, die zu einem aufblicken und denen man etwas beibringen kann. Robin scheint dich regelrecht zu vergöttern und man merkt, wie sehr er an dir hängt. Dir scheint ebenfalls sehr viel an ihm zu liegen, so wie du auf ihn aufpasst. Du brauchst es gar nicht abzustreiten. Ich merke zwar, dass du immer versuchst, es herunterzuspielen indem du ihn ärgerst, doch es ist offensichtlich, wie viel er dir bedeutet. Das ist schön. Ich finde es beneidenswert!“

Enjoji war sprachlos. Verblüffung und Erstaunen spiegelten sich in seinem Gesicht wider und ein Gefühl des Ertappt-Seins, das ihn peinlich zur Seite blicken ließ. In diesem Augenblick bemerkte es zum ersten Mal, dass er im Grunde genommen sehr gut aussah, wenn er mal den Mund hielt und nicht immer die Miene grimmig verzog. Er hatte ein ebenes Gesicht, ausdrucksvolle Augen und sehr feine Gesichtszüge. Sie war sich ziemlich sicher, dass er locker eine Freundin haben könnte, wenn er sein Temperament nur etwas zügeln würde. Es herrschte einen Moment lang Stille, in dem nur das Kinderlachen im Hintergrund zu hören war. Beide schwiegen nun und die Situation war sehr entspannt und ohne schlechte Schwingungen.

„Stimmt.“

Vanny lächelte überrascht. Sie hätte jetzt nicht mit einer Zustimmung gerechnet.

„Wusste ich es doch“, antwortete sie grinsend und wandte ihren Blick nicht von den spielenden Kindern ab.

„Hey ihr zwei! Hier sind die Getränke. Sorry, dass ihr so lange auf uns warten musstet. Wir haben unterwegs noch jemanden getroffen.“

Nina und Keigo gesellten sich zu ihnen. Sie waren vor ungefähr 30 Minuten losgezogen, um für kühle Erfrischung zu sorgen. Nun streckten sie ihnen eine kleine Flasche Wasser entgegen.

„Keigo hat uns übrigens das von deinem Onkel und deinem Anruf bei deinen Eltern erzählt. Bist du dir sicher, dass du nicht lieber bei einem von uns schlafen möchtest?“, meinte Nina ernst. Vanny wiegte leicht den Kopf.

„Natürlich würde ich viel lieber bei euch schlafen, aber meine Mutter würde das nicht erlauben und ich möchte nicht noch mehr Ärger auslösen und euch Umstände bereiten. Ehrlich, ich finde es total nett und lieb von euch, aber es ist einfach nicht möglich, so gern ich euren Vorschlag und eure Hilfe auch annehmen würde.“

Enjoji beäugte sie argwöhnisch.

„Bist du dir sicher? Deine Eltern können wohl schlecht was dagegen sagen, wenn du Angst vor deinem leiblichen Onkel hast. Außerdem kennst du ihn ja eigentlich gar nicht. Die können doch nicht meckern, wenn du deswegen lieber woanders unterkommst. Uns würde es nichts ausmachen und deinem Onkel garantiert auch nicht.“

„Er hat recht“, stimmte nun auch Keigo motiviert zu. „Wir kriegen das irgendwie geregelt und so viele Umstände macht das nun wirklich nicht. Du kannst mir ruhig glauben.“

Er zwinkerte ihr lächelnd zu.

„Ich weiß nicht genau“, lenkte Vanny zögernd ein. Bevor sie eine Begründung dazu abgeben konnte, vibrierte ihr Handy abermals.

„Mehr als anbieten können wir nicht. Aufzwingen tut dir hier niemand etwas“, gab Enjoji mürrisch zurück und schlenderte von der Gruppe weg zu seinem kleinen Bruder, um diesen mit seinen beiden Spielkameraden zu ärgern. Nina und Keigo grübelten weiter über das Problem nach, während Vanny ihr Handy hervorkramte, um die Antwort ihrer Freundin Katrin anzuschauen. Ihr verschlug es schier den Atem und sie musste sich erst einmal setzen und die Nachricht nochmals durchlesen, um die wenigen Zeilen zu begreifen.

 

Machst du Witze? Was soll der Mist?! Deine Eltern sind doch seit ein paar Tagen wieder daheim!

Was sollte das alles? Konnte das möglich sein? Irrte sich Katrin etwa oder logen ihre Eltern sie tatsächlich so dreist an? Wieso sollten sie das aber tun? Vanny fühlte sich mehr denn je wie in einem Albtraum.

*

Die anderen hatten sich ebenso keinen Reim auf die Kurznachricht machen können und vorgeschlagen, dass sie doch ihre Freundin anrufen sollte, um eventuelle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Vanny jedoch wollte erst einmal einen klaren Kopf haben, über alles gründlich nachdenken und sich wieder beruhigen. Deshalb war sie auch nicht mehr lange bei der Gruppe geblieben und mit dem geliehenen Fahrrad zurück zu ihrem Onkel geradelt. Ihr war im Moment einfach alles zu viel. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie Angst davor, Katrin anzurufen. Sie fürchtete sich vor dem, was dabei herauskommen könnte. Nachdem sie noch ein paar Hausarbeiten flüchtig erledigt hatte, machte sie sich an das Abendessen. Sie hatte sich für eine frische Gemüsesuppe entschieden, da sie wusste, dass sie für kompliziertere Gerichte momentan ganz und gar keinen Kopf hatte. Dennoch wollte ihr die einfache Suppe nicht so leicht gelingen. Innerlich verfluchte sie sich jetzt dafür, dass sie Katrin nicht sofort angerufen hatte, so hätte sie wenigstens Klarheit gehabt, doch wollte sie die Wahrheit überhaupt wissen, wo alles so durcheinander war? Konnte es tatsächlich sein, dass ihr Vater und ihre Mutter schon wieder von der wichtigen Geschäftsreise zurück waren? Hatte überhaupt so eine Geschäftsreise stattgefunden? Was für Gründe könnten ihre Eltern haben, sie fortzuschicken und anzulügen? Was hatte sie getan, dass man ihr nicht einmal die Wahrheit sagte, geschweige denn vernünftig mit ihr redete? Vannys dünne Finger verkrampften sich schmerzhaft ineinander. Sie ertrug diese Situation einfach nicht mehr. Wenn das so weiterging, würde sie noch verrückt werden, sie

musste …

„Ach verdammt!“

Eilig hievte sie den Kochtopf mit der überkochenden Brühe vom Herd, doch es war schon zu spät. Sie beseitigte das Chaos, bevor Ernst sich blicken ließ, schnappte sich ihre Jacke und verließ wieder einmal fluchtartig das Haus, welches sie neben ihren schwer lastenden Gedanken zusätzlich zu erdrücken schien. Sollte er doch diesen Abend alleine essen! Vanny brauchte jetzt dringend frische Luft, Freiraum und vor allen Dingen wollte sie alleine sein. Das Ganze wurde mit jedem Tag verrückter! So etwas passierte doch nur in Filmen! Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Warum fand sie nicht endlich eine vernünftige Erklärung für alle offenen Fragen? Wieso musste Mandy damals vor das Auto laufen, als sie gerade mal nicht aufgepasst hatte, und sterben? Weshalb wollte oder konnte ihr ihre Mutter nicht verzeihen? Dabei hatte sie doch ihre Schuld eingestanden, von ihren Schuldgefühlen berichtet und etliche Male versucht, es wieder gut zu machen. Allerdings hatte sich das Verhältnis schon vorher verschlechtert, aber aus welchen Gründen? Weshalb hielten ihre Eltern sie so auf Distanz? Mit ihrem Vater hatte sie irgendwie noch nie ein enges Verhältnis gehabt, doch mit ihrer Mutter war das ganz anders gewesen. Vanny hatte in ihrer Kindheit nie gedacht, dass ihre Beziehung einmal dermaßen zerrüttet sein würde, und vor allem, dass sie so darunter leiden würde. Mit den Jahren hatte sie versucht, sich damit abzufinden, und gedacht, dass sie irgendwie damit klarkäme, aber dass ihre Eltern so weit gehen würden, sie in den Ferien abzuschieben … Wie sollte sie ihnen gegenübertreten, wenn sie sie wiedersah? Sollte sie nochmals versuchen, ihre Eltern anzurufen, oder es lieber bleiben lassen? Wie oft hatte sie schon beschlossen, nichts mehr in diese Richtung zu unternehmen? Aber irgendwie wollte sie die Hoffnung nicht aufgeben und probierte es weiterhin, gab sich Mühe, nur um am Ende etliche Male niedergeschmettert zurückzubleiben. Am liebsten würde sie sich in einem Loch vergraben, schlafen, träumen und alles vergessen.

„Huhu!“

Erschrocken fuhr Vanny zusammen und sah sich um, doch sie konnte niemanden entdecken. Überhaupt konnte sie nichts Bekanntes erkennen. Sie hatte sich verirrt. Anscheinend war sie weiter gelaufen, als sie gedacht hatte.

„Verdammt noch mal!“

Sie fluchte wütend vor sich hin und beschloss, einfach umzukehren, als sie ein halb zerfallenes Gebäude aus den Augenwinkeln wahrnahm. Neugierig bewegte sich Vanny darauf zu. Leider konnte sie nicht viel in der Dämmerung erkennen, doch trotz des unheimlichen Flairs hatte diese Ruine etwas Anziehendes an sich. Es wirkte fast so, als wollte sie ihr etwas von großer Wichtigkeit erzählen und sie rufen. Ein leichter Schauer durchfuhr ihren schlanken Körper und sie fröstelte. Wärmend rieb sie die Hände aneinander und sah sich um, während sie auf das alte Gemäuer zuging. Da entdeckte sie ein Schild an der Stelle, wo einmal der Eingang gewesen sein musste. Etwas widerstrebend schritt sie darauf zu, denn mutig war sie noch nie gewesen, das überließ sie eigentlich immer erfolgreich den anderen. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen, um die schlecht lesbare und halb verwitterte Aufschrift entziffern zu können. Es dauerte eine Weile, bis sie es endlich schaffte: Irrenanstalt. Das war eindeutig zu viel für Vanny. Gruselige Fantasien schossen ihr durch den Kopf und sie musste schlucken. Als sie es im Gebüsch neben sich knacken hörte, ging sie nicht zurück zum Haus ihres Onkels zurück - sie rannte.

Kapitel 9 - Tag 7 Sonntag

„Oh nein!“

Völlig verschlafen griff Vanny mit geschlossenen Augen nach dem erbarmungslos piependen Wecker. Sie brauchte ein paar Anläufe, bis sie ihn erwischte und ausstellen konnte. Am liebsten wäre sie im Bett geblieben und hätte sich nochmals umgedreht, denn sie hatte sehr schlecht geschlafen und fühlte sich alles andere als erholt. Ihr war, als wäre in der Nacht ein Traktor über sie gerollt. Ihre Glieder schmerzten und ihr Körper fühlte sich bleischwer an. Mühsam quälte sich die Jugendliche aus dem quietschenden Bett, zog sich schnell einen dunkelblauen samtenen Morgenmantel über und ging langsam in die Küche. Notdürftig deckte sie den Frühstückstisch, kochte, immer noch im Zustand des Halbschlafes, Kaffee, legte sich dann - ohne selbst gefrühstückt zu haben - wieder in das klapprige, aber an diesem Morgen sehr einladend warme Bett. Sie hörte noch eine Tür aufgehen und ein paar schwere Schritte Richtung Küche traben, dann war sie schon wieder eingeschlafen.

*

Zwei Stunden später stand sie wieder auf, sie fühlte sich jetzt etwas besser, brühte abermals Filterkaffee auf und aß eine Kleinigkeit zum Frühstück, bevor sie sich anzog und lustlos ein paar Arbeiten im Haushalt erledigte. Dabei verselbstständigten sich ihre Gedanken und sie überlegte, was ihr Onkel eigentlich die ganzen Tage über wohl machte. Irgendetwas musste er doch arbeiten? Irgendwie sein Geld verdienen – für einen Rentner war er definitiv zu jung. Bis jetzt hatte sie ihn noch kein einziges Mal das Haus verlassen sehen. Wie kam Ernst zu Geld? In üppigen Verhältnissen lebte er hier nicht, also brauchte sie gar nicht erst nach einem versteckten Schatz zu suchen. So sehr sie auch nachdachte, sie konnte sich nicht erinnern, dass irgendjemand, egal ob ihre Eltern oder er selbst, diesen Punkt erwähnt hätte. In diesem Moment fielen ihr die versteckten Taschentücher wieder ein. Ein weiteres Rätsel, das sie noch nicht gelöst hatte. Vanny sah sich kurz um, doch von ihrem Onkel war weit und breit nichts zu hören und zu sehen. Auf leisen Sohlen schlich sie sich in das ominöse Schlafzimmer und kontrollierte, ob ihre Taschentücher auf dem Bett noch dort lagen, wo sie diese am Freitag platziert hatte. Wie fast vermutet, hatte sich nichts verändert. Die Päckchen zeigten sogar noch in die Richtung, in der sie sie angeordnet hatte. Nichts war verändert. Somit war also eindeutig klar: Ernst konnte das Bett nicht benutzt haben. Sie dachte darüber nach und erinnerte sich, dass ihr Onkel recht schwere Schritte hatte und das Haus nicht allzu schalldicht war. Würde er hier schlafen, hätte sie ihn schon ein paarmal hören müssen, zumindest das Auf- und Zumachen der Zimmertür. Wo verbrachte dieser Mann seine Nächte? Die Situation wurde zunehmend rätselhafter. Vielleicht handelte es sich doch um einen harmlosen Irrtum? War sie sich wirklich hundertprozentig sicher, dass alles unangetastet war? Sie durfte keine voreiligen Schlüsse ziehen, sich nicht unnötig verrückt machen, denn die Lage war schon undurchsichtig genug und ihr ging es momentan nervlich ohnehin ziemlich schlecht. Um ganz sicherzugehen und sich nicht umsonst neue Sorgen zu machen und sich hoffnungslos in etwas hineinzusteigern, formte Vanny nun ein eindeutiges Kreuz aus den Papiertaschentücher in der Bettmitte und legte behutsam die Bettdecke darüber, in die sie in einer Ecke noch eine Art Eselsohr knickte. Wenn das alles so blieb und nicht verändert wurde, musste sie der Tatsache ins Auge blicken, dass er sie wegen des Schlafzimmers belog, auch wenn ihr der Sinn nicht ersichtlich war. Sie beließ es nicht damit und legte weitere Utensilien auf das Fensterbrett, auf und in den Kleiderschrank. Sie wollte nun ganz sichergehen und hoffte doch insgeheim, dass sie sich irrte. Vanny wünschte sich nur ein Stückchen Normalität und harmlosen Alltag. Auch wenn sie völlig durcheinander und verwirrt war, erledigte sie noch ein paar Kleinigkeiten im Haushalt, bevor sie sich das geborgte Fahrrad schnappte und rasch in das Dorf fuhr.

*

Sie kramte in ihrer Handtasche Ninas Handynummer hervor. Da ihr Smartphone im Dorf Empfang hatte, überlegte sie nicht lange und rief die neu gewonnene Freundin an. Es klingelte genau zweimal, dann vernahm sie die vertraute Stimme.

„Hallo? Nina? Ich bin's, Vanny. Störe ich dich gerade oder passt es?“

„Hey, hi Vanny! Nein, du störst nicht. Alles klar bei dir? Wo bist du? Wollen wir uns treffen? Hast du Zeit?“

Vanny fiel ein Stein vom Herzen und sie willigte freudig ein. 30 Minuten später traf sie Nina, Enjoji und Keigo mit den Fahrrädern im Park und berichtete ihnen von ihrer gestrigen Entdeckung im Wald. Alle drei überlegten, doch keiner von ihnen konnte ihr sagen, worum es sich dabei handelte.

„Was haltet ihr davon, wenn wir einfach zusammen kurz dort hinfahren?“, schlug Keigo unternehmenslustig vor. „Natürlich würde ich die Dame auch auf dem Gepäckträger hinchauffieren, immerhin fehlt uns ja ein Rad“, fuhr er fort und zwinkerte Vanny verschmitzt zu. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie wollte gerne etwas erwidern, doch ihr fiel nichts ein. Die Stille, die nach seiner Andeutung einsetzte, steigerte zusätzlich ihre Verlegenheit.

„Oh Mann! Stellt ihr euch wieder an! Dann nimmt halt einer von euch mein altes Fahrrad, ihr Spackos!“, schaltete Enjoji sich unsanft und gereizt ein.

„Oder so“, erwiderte Keigo leicht seufzend und konnte seine Enttäuschung darüber nicht ganz verbergen.

*

Gemeinsam fuhren sie in den Wald. Der kühle Fahrtwind, die sportliche Betätigung mit dem Fahrrad und das schöne Wetter sorgten für gute Laune bei ihrer Entdeckungstour. Gemütlich fuhren die Jugendlichen nebeneinander her und zogen sich scherzhaft gegenseitig auf. Im Wald musste Vanny sich konzentrieren und brauchte ein paar Anläufe, bis sie den richtigen Weg gefunden hatte, sodass Enjoji wieder etwas zu meckern und zu kritisieren hatte.

„Wenn du ständig am Nörgeln bist, kann ich nicht nachdenken und es dauert umso länger! Also hättest du die Güte und würdest endlich deinen Mund halten, bitte?!“

Für einen kurzen Moment war er tatsächlich still, zog dann eine Augenbraue verwundert hoch und musterte sie mit der abwertenden Art, die sie so an ihm störte.

„Wenn du mich so fragst, lautet die Antwort natürlich Nein. Das hast du wahrscheinlich eh geahnt, da du deine Frage schon im Konjunktiv gestellt hast. Außerdem glaube ich sowieso, dass du keinen Plan hast, wir uns also verfahren haben und dein weiblicher, falscher Stolz es nicht zulässt, dies zu zugeben.“

„Enjoji!“, riefen nun Keigo und Nina gleichzeitig, um ihren Kameraden zum Schweigen zu bewegen. Der wollte gerade empört reagieren, als Vanny den Weg wiedererkannte und mit einem „Ich hab's!“ vorfuhr. Schweigend und neugierig folgten ihr die anderen.

Es dauerte nicht lange, bis sie an dem halb verbrannten Gebäude ankamen und es nachdenklich betrachteten.

„Seltsam, keine Ahnung, was das sein soll – hat jemand von euch eine Idee?“

Keigo sah Nina und Enjoji fragend an, doch keiner kannte diese Ruine, noch hatten sie von ihrer Existenz gewusst. Vanny war überrascht.

 

„Aber ihr wohnt doch hier. Ward ihr vorher noch nie im Wald? Die Ruinen müssen euch doch aufgefallen sein!“

„Schon, aber was sollen wir denn groß im Wald?“, meinte Nina und zwinkerte ihr zu. „Die Jungen wollen ja nie mit mir picknicken gehen und alleine macht es keinen Spaß.“

Keigo grinste schräg, Enjoji hingegen blieb ernst.

„Außerdem kam es in unserer Gegend vor acht bis zehn Jahren immer wieder zu Entführungen von Kindern und Jugendlichen. Keine einzige Spur wurde gefunden und unsere Eltern und Erziehungsberechtigten ermahnten uns eindringlich, nicht alleine in den Wald zu gehen ...“

Eine Weile herrschte betroffenes Schweigen. Vanny war schockiert, dass den anderen das erst jetzt einfiel, wo sie schon tief im Wald waren.

„Wie viele Kinder sind in der Zeit damals verschwunden?“

„Alle Kinder aus dem Dorf, bis auf zehn inklusive uns natürlich .... so ungefähr 40. Manche der älteren Leuten glauben, nein, vergleichen es mit der Geschichte des Rattenfängers von Hameln, andere sprechen von Dämonen und Geistern, die Kinder fressen ...“, erläuterte Nina. „Das Seltsame ist, dass das Verschwinden so plötzlich aufhörte, wie es begonnen hatte. Ohne dass etwas ans Licht gekommen war.“

„Ich vermute immer noch, dass es umherstreunende Landstreicher oder Zigeuner waren, die sich oft im Wald aufhielten, doch wie gesagt – ich kann es nur vermuten“, meinte Keigo.

„Wollt ihr da hinten etwa übernachten oder kommt ihr mit rein, um das Geröll hier zu untersuchen?!“, rief Enjoji provozierend vom Eingang.

„Aber ist das nicht zu gefährlich? Was ist, wenn etwas einbricht?“, gab Vanny zögernd zu bedenken. Ganz wohl war ihr bei dem Gedanken nicht.

„Sei kein Hasenfuß!“, brüllte Enjoji leicht verärgert zurück und rannte in das halb zerfallene Gebäude hinein, ohne auf die anderen zu warten. Die Zurückgebliebenen starrten sich ratlos an, bis Nina schließlich meinte: „Folgen wir ihm lieber, unserem Sturkopf, bevor er sich da drin noch das Genick bricht!“

*

Von den meisten Räumen war nicht mehr viel übrig. Die Wände waren vom Ruß geschwärzt und modrig. In manchen Ecken hatte sich Schimmel gebildet. Es herrschte eine unheimliche und traurige Atmosphäre. Die Jugendlichen hatten noch nie in ihrem Leben eine Irrenanstalt gesehen und schon die kläglichen Reste genügten, es so schnell nicht zu wiederholen. Die Zimmer waren nur mit dem Notdürftigsten eingerichtet und es ließ sich leicht erahnen, wie trostlos und hart es die Patienten gehabt haben mussten. Zum Glück kam die kleine Gruppe relativ schnell voran; alle Zellen sahen gleich aus, bis auf die letzte Zelle. Die Wände, die gut erhalten waren, waren übersät mit seltsamen Symbolen und krakeligen Illustrationen und der Boden war übersät mit alten Decken und Kissen, die keine Brandspuren aufwiesen.

„Fast, als wäre hier jemand nach dem Brand gewesen und hätte noch ... umgeräumt ...“, murmelte Vanny. Die anderen nickten in Gedanken versunken und sahen sich genauer um. Enjoji schienen es die Bilder und Zeichen besonders angetan zu haben. Er konnte den Blick einfach nicht davon lösen und fuhr mit den Fingern über die zum Teil mit Tapeten versehenen Wände. Nina stand bei ihm und strich ihm tröstend über den Rücken, auch wenn er es nicht so recht wahrzunehmen vermochte. Vanny traute sich nicht zu fragen, doch irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Vielleicht sollte sie Nina bei Gelegenheit darauf ansprechen. Allerdings hatte sie genug eigene Probleme und sie wusste nicht, ob sie wirklich noch welche von anderen hören wollte, ehe sie nicht mit ihren eigenen klarkam. Ihr Blick wanderte zu Keigo, der die auf dem Boden zerstreuten Laken begutachtete.

„Sehen wirklich so aus, als hätte man die erst nach dem Brand hier hereingebracht. Jetzt mal abgesehen davon, dass wir das Gebäude nicht kennen, geschweige denn von seiner Existenz wussten, könnte doch meine Vermutung richtig sein, dass Landstreicher sich hier eingenistet hatten“, mutmaßte Keigo.

„Diese Laken können auch erst vor Kurzem hierhergebracht worden sein. Sie sind kaum verstaubt und sehr sauber, ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie schon lange hier sind. Außerdem, warum hätten die Landstreicher die Laken zurücklassen sollen?“, wandte Nina nachdenklich ein. Dem musste Vanny zustimmen und auch Keigo gab nach einer kurzen Diskussion nach.

„Ihr habt jetzt fast fünf Minuten gequatscht, könnten wir jetzt bitte noch den restlichen Trakt untersuchen?!“, schaltete sich Enjoji gereizt ein, den sie völlig vergessen hatten. Er sah angespannt und ausgezerrt aus, sodass keiner von ihnen widersprach. Bei den restlichen Zimmern schien es sich um Büro- und Überwachungsräume zu handeln. Außer kaputten und abgebrannten Überresten von Büromöbeln und Kameras mit Bildschirmen konnten sie nichts finden. Da es schon später Nachmittag war und die Sonne nicht mehr allzu lange am Horizont verweilen würde, beschlossen sie, sich auf den Rückweg zu begeben und verabredeten sich für den nächsten Tag. Beim Verlassen hielt Enjoji die anderen fest und zeigte auf eine verrußte Tafel an der pechschwarzen Wand, wo die Namen leitender Mitarbeiter der damaligen Anstalt zu lesen waren, und sowohl Vanny als auch Keigo mussten schlucken, als sie darunter ihnen bekannte fanden.

„Aber das waren ja meine Eltern!“, entfuhr es Keigo.

„Und mein Onkel ...“, murmelte Vanny bestürzt.

*

Vanny war nicht die Einzige, die eine schlaflose Nacht mit viel Grübelei verbrachte. Nina lag nachdenklich im Bett, ihr wollte die totgeschwiegene Irrenanstalt einfach nicht aus dem Kopf gehen. Wenigstens im Geschichtsunterricht beim Thema Heimatkunde hätte diese doch erwähnt werden müssen! Irgendwie hatte sie ein ganz schlechtes Gefühl bei der Sache. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Auch das abwehrende Verhalten ihrer Tante bestürzte sie. Sie hatte in den letzten Tagen versucht, nochmals mit ihr über Ernst zu sprechen, doch immer wieder hatte sie eine andere Ausrede gefunden, warum sie keine Zeit habe. Außerdem schien es ihr, als würde sie ihr noch mehr als zuvor aus dem Weg gehen. Was war hier nur los?

*

Keigo hatte nochmals vorsichtig bei seinen Großeltern nachgefragt, welche Berufe seine Eltern eigentlich ausgeübt hatten. Die Antwort war die gleiche wie damals gewesen, als er noch ganz klein gewesen war. Seine Mutter hätte in einem Restaurant in der Nachbarstadt bedient, in der sein Vater als Koch angefangen hätte zu arbeiten. So hätten sie sich auch kennen und lieben gelernt. Wussten seine Großeltern nichts von der Arbeit in der Irrenanstalt oder belogen sie ihn seit seiner Kindheit mit voller Absicht? Aber wieso sollten sie das tun? Was war Lüge, was war echt? Er nahm sich vor, in dem erwähnten Restaurant „Zur Rose“ in besagter Nachbarstadt einmal vorbeizuschauen, um Nachforschungen zu tätigen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass seine Großeltern ihn womöglich bewusst jahrelang belogen. Er musste auf Nummer sicher gehen …

*

Enjoji lag rücklings auf seinem Bett und betrachtete im Schein der kleinen Nachttischlampe den skizzierten Kinderfrosch auf dem abgerissenen Tapetenstück, das er heimlich mitgenommen hatte.

„Mitsu, bist du noch am Leben? Wo bist du ... Was ist nur passiert? Mitsu...“

Tränen stiegen ihm in die Augen und er war kurz vorm Heulen, als es an seiner Tür klopfte und sein kleiner Bruder in das Zimmer trippelte. Zögernd sah er zu seinem großen Bruder und hüpfte unsicher und etwas unbeholfen von einem Bein auf das andere.

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